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ESSAY ZUR ANALYSE VON VERDIS OTELLO - JANINE CHRISTGEN
ESSAY ZUR ANALYSE VON VERDIS OTELLO - JANINE CHRISTGEN
1. Zur langjährigen Genese von Verdis „Schokoladenprojekt"
Verdis Otello zeigt sich als ein Opernprojekt, welches in seiner Genes viele Jahre in Anspruch
nehmen sollte. Zwischen den ersten Gesprächen mit Boito (1879), über eine mögliche
Zusammenarbeit, bis hin zur Uraufführung im Jahr1887, vergingen 8 Jahre. Zudem muß
festgehalten werden, daß Verdis Produktivität im Bereich der Opernkomposition nach seinen
„anni die galera", nach seinen Galeerenjahren, welche die Produktion der Opern Rigoletto,
Traviata und Trovatore hervorbringen, sich verlangsamte. Der Abstand zwischen den
Kompositionen vergrößerte sich von zwei, dann auf drei, auf vier auf fünf und dann
schließlich auf rund 16 Jahre, die zwischen den Erstaufführungen von Aida und Otello liegen.
Diese sich verlängernden Produktionszeiten sind vor allem auf die Krise der Gattung Oper
zurückzuführen. Es zeichnete sich ein Übergang von der Gesangsoper zum Operndrama ab.
Seit seinen Galeerenjahren versucht Verdi sich von der überkommenen Tradition zu lösen, die
Nummernoper vermittels einer in sich geschlossenen, durchkomponierten Form abzulösen.
Den ersten Versuch eine Oper als eine einzige Nummer zu konzipieren aber scheitert im
ersten Versuch, in Verdis Trovatore.
Warum aber war ein Lösung vom Nummernprinzip der alten italienischen Oper notwendig?
Dazu ist es zunächst notwendig sich über das Konzept klar zu werden, welches hinter der
Nummernoper steht. Die Nummernoper ist aus Arien und Rezitativen zusammengesetzt. Die
Rezitative sind das handlungstragende Element der Oper, während in den Arien kontemplativ
ein Affekt dargestellt wird. Das bestreben der Opernkomponisten ist es daher seit Beginn des
19. Jahrhunderts sich von dieser radikalen Trennung zu lösen und Formen zu finden, in
welchen auch in die geschlossene Form handlungstragende Elemente aufgenommen werden
können. So entstand die „Solita forma", welche von Rossini bereits als Standartform etabliert,
doch erst 1850 von Bassendi musiktheoretisch beschrieben wurde. So wird das Duett, welches
in vier Teilen erscheint, zu einer geschlossenen Nummer, die in der librettistischen Vorlage
durchweg in Versi lirici gehalten ist, was sie von der ihr vorausgehenden Scena (in versi
sciolti) abhebt. Die Solita Forma selbst gliedert sich nun in das Tempo d´ attaco, in welchem
die divergenten Standpunkte der Gesprächspartner dargestellt werden, in das Adagio, in
welchem diese Standpunkte kontemplativ betrachtend dargestellt werden, das Tempo di
mezzo, in dem ein Moment von Außen (colpo di scena) in den Handlungsverlauf einbricht
und einen neuen Impuls in das Duett bringt (häufig in versi spezzati – aufgebrochenen
Versen, die eine Dialogstruktur ermöglichen), woran sich als letzter Formteil die tänzerische
Cabaletta anschließt. Als Prototyp für eine solche Formgestaltung kann das Duett von Violetta
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und Alfredo im III. Akt der Traviata angeführt werden. Eine solche idealtypische Anwendung
der Form ist, wie bei der Sonatensatzform, die als Pendant in der Instrumentalmusik gelten
mag, weniger häufig zu finden, als Varianten, die von ihr in bestimmten Nuancen abweichen,
aber dennoch unter den Begriff der „Solita forma" subsummiert werden können. Der
Fortschritt den eine solche Form im Gegensatz zur Da-Capo-Arie bot, welche durch ihre A-B-
A´ Form den Handlungsstand nicht weiter entwickeln konnte, ist somit greifbar. Dennoch
konnte eine solche Form nicht hinreichen, um die Gattungskrise der Oper um 1850 zu
überwinden. Es war nötig die Oper zu reformieren. Verdi versuchte sich Stück um Stück aus
den Fängen der Konvention zu befreien. Im Gegensatz zu Wagner wollte er dabei die neue
Oper nicht als Gegensatz zur Opernkonvention, also gleichsam aus einem Traditionsvakuum
heraus schaffen, sondern das Neue aus dem Alten entwickeln. Auch die finanzielle Sicherheit,
die er nach den Galeerenjahren erreicht, mag Bedingung für die Individuation der Opernform
gewesen sein, da Verdi nicht mehr auf Auftragswerke angewiesen war und einen zunehmend
differenzierten, individuell neuen Operntypus schaffen konnte. Instrumentale Durchbildung,
Abrücken von konventionell gefestigten geschlossenen Formen, ein neues Verhältnis zu den
Stoffen, die Konzeption der Oper als individuiertes, musikalisch-dramatisches Kunstwerk und
die erneute Wendung zu Shakespeare stehen dabei in enger Wechselbeziehung. Erst eine
solche „Wandlung" in der Konzeptionsweise der Oper macht eine Zusammenarbeit dem
Librettisten Arrigo Boito möglich. Der hoch begabte Librettist, Komponist und Literat,
versuchte selbst in seiner Oper „Mefistofele" die Ideale einer neuen Opernform umzusetzen.
Das von ihm angestrebte Opernprojekt „Nerone" bleibt unvollendet. Boito stellte mit der Zeit
fest, daß seine Erneuerungspläne und seine hohen Ansprüche, die er an den neu zu
schaffenden Typus der Oper stellte, nur schwer zu realisieren waren. Arrigo Boito war
Mitglied der „Scapigliatura" (Zügellosigkeit), einer Art Jugendbewegung, welche eine
Reaktion auf die italienische Einigung war. Die Gruppe mit ihrer antibürgerlichen
Grundhaltung setzte sich für eine radikale Erneuerung, im Besonderen auch der Künste, ein.
Boito erstellte 1864 eine Konzeption der „opera in musica di presente", in der er vier
wesentliche Forderungen an die Erneuerung der Oper stellt. Zunächst fordert er, sich von den
Formen des alten Melodrama zu trennen. Daran muß sich die Konstitution neuer Formen
anschließen, in welcher drittens, die höchstmögliche harmonische und rhythmische
Vielgestaltigkeit zu verwirklichen sei. Viertens solle das Drama in der Oper weitestgehend
verkörpert sein. Abgesehen von der expliziten Formulierung dieser Ziele, war deren
gedankliche Substanz nicht neu. Bereits in der Musikästhetik der 1830er Jahre finden sich
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solcherlei Reformbestrebungen, welche besonders durch die Verbindung von italienischer und
deutscher Schule eine Reform der Oper als möglich betrachteten. Boitos Aussage, daß die
„Musik der Zukunft" sich in der Verbindung von Oper und deutscher Symphonie entstehe,
entspricht diesen früheren Gedankengängen. Es müsse, davon war Boito überzeugt, ein
dramatisches Kunstwerk entstehen. Diese radikale Opernreform vollzog sich ganz im Zeichen
der Opernkonzeption Wagners, Listzs und Berlioz´. Der Optimismus, der Wagner dabei von
Seiten der Bewegung entgegengebracht wurde aber zeigt sich bei Boito auch kritisch. Er
räumt in einer Schrift ein, daß Wagner zwar die Opernformel „zerstörte" und versprach, die
begrenzten Möglichkeiten von Rhythmus und Melodie zu erweitern, ihm die aber in letzter
Konsequenz nicht gelungen sei. Das große Problem sei somit unlösbar geblieben. Da Boito
selbst bei der Komposition einer prototypischen Idealoper („Mefistofele", der bei der UA
beim Publikum durchfiel und erst sieben Jahre später, nach erheblicher Kürzung vom
Publikum erfolgreich aufgenommen wurde.) scheiterte, ist den Gründen des Scheiterns
nachzugehen. Verdi formulierte bereits 1851 die Probleme der Erneuerung der Oper, die er
während der Komposition an seinem Trovatore erkannte. Ihn störte die in der Nummernoper
vorgegebene parataktische Disposition, welche nummernübergreifende Bezüge kaum zulässt.
Während Boito von der ästhetisch, theoretischen Seite der Problembewältigung entgegentritt,
zeigt sich die Herangehensweise Verdis von der praktisch kompositorischen Seite her. Die
Zweiteilung in Arie und Rezitativ, auch in Form der weiterentwickelten Variante der „Solita
Forma", erwies sich als fortschrittsfeindlich. In „Mefistofle" hatte Boito versucht diese
Struktur zu lösen, was zu einer Form führte, welche extrem lange Rezitative darbot und so
eine Disproportion von Arie und Rezitativ führte, keinesfalls aber eine neue Form des
Musikdramas entstehen lies. Erst nach der Kürzung der Rezitative und dem so erfolgten
Ausgleich mit den Arien, konnte Boitos Werke Erfolge auf den Opernbühnen verbuchen. Der
Versuch mit dieser Oper eine Reform einzuleiten kann somit als gescheitert angesehen
werden. Die abstrakt theoretischen Kategorien, welche Boito für die Reform anlegte,
scheiterten in der praktischen Umsetzung. Elf Jahre nach der Premiere des Mefistofele aber
kam es zur Zusammenarbeit von Verdi und Boito, die -gerade in der Produktion des Otello-
die Gattungskrise der Oper und ihre mögliche Überwindung neu zu diskutieren gestattet. Wie
aber kam es zu der Zusammenarbeit von Verdi und Boito?
Nachdem Boito schmerzhaft erfahren hatte, welche Probleme mit der realen Umsetzung
seiner theoretischen Konzeption verbunden waren, war er infolgedessen bereit auch die
Leistungen Verdis, der Versuchte die neue Konzeption aus dem geschichtlich gewachsenen
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selbst zu entwickeln, anzuerkennen. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden
außergewöhnlich begabten Menschen aber wurde durch Verdis Verleger Riccordi, durch
Verdis Gattin, Giuseppina Stepponi und die Gräfin Clarina Maffei eingeleitet, die Verdi und
Boito im Salon der Gräfin zusammenführten, in welchem beide regelmäßig verkehrten.
Riccordi hoffte sehr auf das produktive Zusammentreffen, da Verdi ihm zugetragen hatte, daß
er sich von der Komposition des Musiktheaters zurückziehen wolle. Doch die Initiatoren des
Treffens wussten wohl um Verdis innere Leidenschaft zu Shakespeare und zu dessen Otello
und so konnte das Gespräch so gelenkt werden, daß Verdi und Boito zunächst Kritik an
Rossinis Otello übten und sowohl dessen Komposition, wie das von Berio verfasste Libretto
beanstandeten, um schließlich den Plan zu fassen unter Umständen eine bessere Version
selbigen Werkes zu verfassen. Bereits drei Tage später brachte Boito die erste Skizze, die
Verdi las und für gut befand. Er riet Boito daraus eine Dichtung zu machen, jedoch noch ohne
sich auf eine spätere Komposition des Selbigens festzulegen. Was im September 1879 so
seinen Anfang nimmt, ist Verdis „Schokoladenprojekt" (progetto del Cioccolatte), welches
sich bis zur Uraufführung am 05. Februar des Jahres 1887 einen langen Prozess durchlaufen
wird. Zum „Schokoladenprojekt" erklärt Verdi seinen Otello, weiler, unabhänig von
jeglichem finanziellen Zwang und losgelöst von den Galeerenjahren, sowohl bei der
Stoffwahl, wie auch bei der Komposition jegliche Freiheiten nutzen kann. Bis zum Jahr 1884
trägt sich Verdi noch nicht einmal mit konkreten Kompositionsplänen, erst zum
Jahreswechsel 84/85 kann der Beginn der Komposition verzeichnet werden. Interessant ist,
daß Verdi nicht glaubt den „Kranken", und damit ist das italienische Operntheater gemeint,
selbst durch seine „Schokoladenkur", den Otello, noch helfen zu können. Was Verdis
Kompositon tatsächlich zu leisten Vermochte soll sich im Folgenden noch zeigen. Alleine
jedoch die Zusammenarbeit von Verdi und Boito und ihr fünfjäriger Briefwechsel über die
Gestaltung des Librettos zeigen, wie viel Kraft und Zeit beide in das Werk investierten.
2. Literarische und librettistische Vorläufer des Otellos Verdis
Verdis Ziel war es die Oper als Drama von den Situationen und Charakteren her zu
rekonstruieren, um ein Drama „aus einem Guß" zu erhalten. Shakespeares Werke kamen
Verdis dramatischen Vorstellungen im besonderen entgegen. Die scharfe, eindringliche
Analyse der vorgestellten Charaktere und die Vielfalt (varietà). Shakespeares Stoffe scheinen
Verdi die Möglichkeit zu offenbaren, die in der menschlichen Seele verborgenen
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Beweggründe der Handlung zu enthüllen. Problematischer Weise aber stand die Fülle des
dramatischen Stoffs in einem Missverhältnis zu Verdis Prinzip von „brevità e fouco" (Kürze,
Prägnanz und Feuer). Um Shakespeares Dramen in mit den szenischen Prinzipen der Oper in
Einklang zu bringen, ist es nötig die Handlung auf wenige Schauplätze (Tableaus) zusammen
zu drängen. Um Shakespeare gerecht zu werden, aber muß der dramatische Schematismus der
Oper überwunden werden. Denn nur geringfügig variierendem musikalischen Vokabular und
typisierter Rollenkonstellation werden der dramatischen Vorlage nach Ansicht Verdis nicht
gerecht. Wie Verdi dieser Umsetzung entgegenstrebt soll zunächst an der Gestaltung des
Librettos dargestellt werden. Dabei sind die signifikanten Unterschiede und Abweichungen,
die Verdi/Boito im Vergleich zu Shakespeare vornehmen, herauszustellen und mit der
Librettokonzeption von Rossini/Berio zu vergleichen.
Shakespeare nutzt den gesamten ersten Akt, um die Charaktere plastisch vor den Augen der
Leser erscheinen zu lassen und alles Vergangene, Vorgängiges und Künftiges durchsichtig
und klar zu motivieren. Für die Opernbühne aber ist eine solche Exposition nicht tragbar.
Hinzu kommt, daß das Shakespearsche Drama aus fünf Akten besteht, von welchen keiner,
als der erste, entbehrlich ist. Daher entschlossen sich sowohl Berio wie Boito zur Kürzung des
Stoffes, sowie zur Reduktion des Personals. Bei Berio erscheint das Libretto schließlich als
drei-, bei Boito als vieraktig. Daher ist es nötig, das dem Rezipienten auf diese Weise
Verschwiegene, in den nachfolgenden Akten einzuholen. Die Charakterisierung der Personen
muß so in zusätzlichen Stücken eingeführt werden. Dabei sind die Worte, die Boito
verwendet, den Shakespearschen sehr verwandt, wohingegen die Architektur des Werkes
grundlegend geändert wurde, so daß jeder Akt seinen einheitlichen Schauplatz und jede
wichtige Aktion ihren ununterbrochenen Verlauf erhält. Durch die Reduktion entfallen in
Boitos Libretto der Herzog, Brabantio, Gratiano und die zwei Senatoren. Zudem werden der
Narr und die entbehrliche Rolle der Bianca gestrichen.
Die nähere Betrachtung soll sich nun im Folgenden wesentlich auf die Shakespearische
Vorlage im Vergleich zum Libretto Boitos konzentrieren, Berios „Otello, ossia Il Moro di
Venezia" nur am Rande thematisieren. Berios Libretto weicht in signifikanter Weise von der
Vorlage Shakespeares ab. Lässt Otello und Rodrigo um Desdemona rivalisieren, obgleich
Otello und Desdemona bereits heimlich verheiratet sind. Die Eifersucht Otellos wird geweckt,
als Desdemonas Vater (hier: Emilio) die Verlobung seiner Tochter mit Rodrigo verkündet.
Durch die Fehlleitung eines Briefes, welcher eine Locke Desdemonas erhält und für Otello
bestimmt war, nimmt das Schicksal nun seinen Lauf. Das „Fazoletto" wird somit durch eine
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Locke Desdemonas substituiert, welches auch hier für eine Intrige Jagos genutzt wird, Jago
aber nicht aus Rolle der Nebenfigur heraustreten lässt. Desdemona wird nach ihrem
Bekenntnis zu Otello von ihrem Vater verstoßen und schließlich von dem verblendeten Otello
umgebracht. Zu spät für Otello kommen Jagos Geständnis des Verrats, Rodrigos
Zurücknahme der Ansprüche auf Desdemona und Emilios Anerkennung Otellos als Ehemann.
Es muß hinzugefügt werden, daß die Shakespeare in Italien erst um 1850 bekannt wurde und
die Rezeption zuvor hauptsächlich vermittels der französischen Übersetzung oder anderer
Adaptionen verlief. Es war somit nicht exakte Rekonstruktion eines Shakespearischen Textes,
welche im Mittelpunkt stand. Für eine Aufführung in Rom gestalteten Berio/Rossini sogar das
Ende in ein Lieto Fine um. Diese Veränderung ist darin begründet, daß die Komposition
Ursprünglich für das Reformfreudige Publikum Neapels entstand. Neapel unterstand nach der
Französischen Revolution der französischen Herrschaft und zeigte sich Offen für das
tragische Ende auf der Bühne, welches sich im übrigen Italien nur zögernd durchsetzte.
Das Konzept, welches der Gestaltung des Otellos von Boito/Verdi zugrunde liegt, ist ein
anderes. Zwar zog auch Boito hauptsächlich die französische Übersetzung und in nur
geringem Maße das englische Original heran, doch war es Ziel ein Libretto zu schaffen, dem
der Geist Shakespeares inhäriert. Aus diesem Grund wird die Charakterdisposition erhalten, in
manchen Fällen sogar geschärft, so daß die Kontraste deutlich hervortreten. So mag
Desdemona noch engelsgleicher, Jago noch ein wenig dämonischer erscheinen. Das
Shakespearsche Werk als Ganzes muß jedoch entscheidend gekürzt und auf das Musiktheater
treffend zugeschnitten werden. So entschieden Boito/Verdi den „Verfall des Helden" (Kunze)
zu zentrieren. Die Stationen des Verfalls Otello spiegeln sich gleichsam in den Stationen der
Intrigantentätigkeit Jagos. Vermittels einer solchen Konstellation des konsequenten Vollzugs
entwickelt sich eine dramatische Spannkraft. Shakespeare hingegen beendet sein Drama,
indem er die Urteilsfähigkeit des Helden wiederherstellt, Jago die gerechte Strafe einer
langen, qualvollen Folter zuteil werden lässt, die Intrige löst und sich schließlich selbst
erdolcht. Es geht Boito folglich um eine konsequente Verfallsgeschichte, aus der alle
Elemente der Gerechtigkeitsforderung ebenso ausgeschlossen werden, wie jene, die das
stringente Handlungsziel zu unterbrechen drohen.
Neben die Straffung und Zusammendrängung der Aktion aber mussten gleichfalls
musikalisch wie szenisch prägnante Vergegenwärtigungen der Destruktion Otellos, sowie
Momentaufnahmen des Zerstörungsprozesses, beispielsweise durch die Beleuchtung des
intriganten Charakters Jagos, treten. Diese Einfügungen waren nicht nur für Verdis
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Komposition unerlässlich, sie substituierten auch teilweise den entfallenen ersten Akt. Diese
Veränderungen Boito am Text Shakespeares sollen im Folgenden an signifikanten Stellen
expliziert werden.
Boito muß in seinem ersten Akt der Oper jene Voraussetzungen einholen, die Shakespeare in
seinem ersten Akt geschaffen hat. Dazu zählen: Jagos Erklärung seines Hasses gegenüber
Cassio, wegen dessen Beförderung, welche eigentlich ihm hätte gegolten haben sollen; Jagos
Bemühungen Rodrigo, der Desdemona heimlich liebt, mit Desdemona in Verbindung zu
bringen; und schließlich die Darstellung der tiefen Liebe zwischen Otello und Desdemona.
Im ersten Akt führt Boito den Sturm, im Gegensatz zu Shakespeare, der ihn nur in der
Szenenanweisung bennent, selbst vor und schafft auf diese Weise eine musikalisch sehr
wirkungsvolle Szene. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den Aufritt Otellos. So
verkündet auch dieser selbst, im Gegensatz zu dem Herold bei Shakespeare, den Sieg über die
Türken. Auf diese Weise zentriert Boito die enorme Bedeutung, welche der militärische
Erfolg für Otello hat. Auch die Nachfolgende Intrige, durch welche Jago Cassio trunken zu
machen sucht, wird bei Boito nicht lange expliziert, sondern durch den Freudenchor
unterbrochen, wodurch die Handlung gerafft, die Spannung erhöht und ein Forum für die
Komposition eines Chores geschaffen wird. Zudem stehen die Flammen des Freudenchores
ebenso symbolisch für die Liebe, wie die Stürme des Anfangs auf die Lebenswirren
referieren, die Otello noch bevorstehen. Jagos Verführung Cassios zum Trinken ist in
ähnlicher Weise gestaltet, wie bei Shakespeare. Auch hier dient der Vorwand auf die Hochzeit
Otellos und Desdemonas trinken zu wollen, als Initiation. Gleichzeitig verquickt Boito diese
Szene so geschickt mit Cassios Rühmen von Desdemonas Vorzügen, daß Rodrigo in die
Eifersucht verfällt und durch die Verspottung, des zunehmend alkoholisierten Cassios, einen
Streit entfacht. Die Verführung Cassios zum Trinken wird dabei, wie bei Shakespeare von
einem diabolischen Trinklied, das der älteren Tradition des Brindisi nahe steht, sich aber
gegenüber diesem etabliert und fortentwickelt, was in der musikalischen Analyse noch zu
zeigen sein wird, eingeleitet. Der sich entwickelnde Streit artet schließlich aus und kann nur
durch den Auftritt Otellos geschlichtet werden. Dieser Auftritt kennzeichnet Otellos Macht
und Größe, was nicht nur im beschrieben Faktum der Streitschlichtung an sich zum Ausdruck
kommt, sondern auch in der Musik Verdis eindringlich in Erscheinung tritt, indem Otello die
Forderung „Hinweg mit den Schwertern." a Cappella deklamiert. Das Aufgewühlte Orchester
ist verstummt, wie die umstehenden Streitenden, erstart vor der Autorität Otellos. Nun
erscheint Desdemona und Otello degradiert Cassio. Bei Boito erscheint dieser Akt der
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Absetzung Cassios als eine persönliche Aufwallung Otellos, welche in der Aufschreckung
Desdemonas durch das Gewirr begründet erscheint, während Shakespeare Otello die
Degradierung aussprechen lässt, bevor Desdemona erscheint, was eine Involvierung
persönlicher Gründe ausschließt. Otello schickt alle fort und bleibt, bei Boito mit Desdemona
alleine zurück. Die so von Boito geschaffene Szene hat sowohl einen hohen musikalischen,
wie dramatischen Wert. Die Nachfolgende Szene, in welcher sich Desdemona und Otello ihre
Liebe gestehen, setzt den Kontrast zu den späteren Eifersuchtsszenen. Zudem holt Boito hier
ein, was dem Rezipienten durch die Exklusion des ersten Shakespearschen Aktes vorenthalten
blieb. Die Gründe und Verfassung der Liebe zwischen Otello und Desdemona wird
thematisiert. Zudem gelingt Boito durch diese Anlage des ersten Aktes eine innere
Zweiteilung, die sich in eine äußere und eine innere Handlung spezifizieren lässt. Die äußere
Unruhe steht der inneren Ruhe des Liebesglücks entgegen. Überhaupt scheint sich im ersten
Akt eine Bewegung zwischen den Polen von Unruhe und Ruhe abzuzeichnen. Der Sturm
zunächst tobt und von dem Freudenjubel der Menge nach dem Auftritt und der
Siegesverkündung durch Otello abgelöst wird, darauf folgend, die erneute Unruhe, die durch
Jagos Intrige ausgelöst wird und wiederum nur durch Otellos Auftreten eine Beruhigung
erfährt, um schließlich in der Ruhe des Duetts zwischen Otello und Desdemona zu münden.
Schon hier zeigt sich, daß Boitos Konzeption von Dramatik und Kontemplation in einem für
das Musiktheater besonders gut gewichteten Verhältnis stehen.
Den zweiten Akt beginnt Boito mit eine erheblichen Kürzung er Shakespearschen Vorlage.
Die Unterredung Jagos mit Cassio entfällt, nur die für die weitere Intrigentätigkeit Jagos
wichtige Unterredung mit Cassio, dem er rät, sich bezüglich der Fürsprache an Desdemona zu
wenden, bleibt in gekürzter Form erhalten, tritt allerdings aus Shakespeares zweiten Dramen
Akt als Überhang in den zweiten Akt der Oper. Dies ist daher sinnvoll und motiviert, als
Desdemona gleich nach dieser Unterredung selbigen Garten betritt, in dem die Unterhaltung
stattfand, so daß die direkte Konsequenz sichtbar wird, während bei Shakespeare die weitere
Aktion durch den Eintritt der Nacht verzögert wird. Nun, nachdem Jago allein
zurückgeblieben ist, lässt Boito ihn seinen wahrhaften Charakter entfalten. Dies geschieht
durch die Einfügung des Credo, das den diabolischen Charakter Jagos, seine ganze Zynik und
seinen Nihilismus hervortreten lässt. Auch hier findet sich somit ein Substitut für den
ausgefallenen ersten Akt des Shakespearschen Dramas. Gleichzeitig bietet das Credo die
Möglichkeit auch der musikalischen Umsetzung des Charakters Jagos. Wie Verdi mit der
Vorlage der Versstruktur Boitos im metro rotto e non symetrico verfahren ist, soll jedoch erst
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später untersucht werden. Festzuhalten ist jedoch, daß die Diabolik und das Wesen Jagos
bereits in der Metrik der librettistischen Vorlage zu finden sind, was Boitos Meisterschaft als
Dichter hervorhebt.
An diese Szene schließt sich sogleich der Auftritt Otellos an, so daß Jago keine Zeit bleibt die
nachfolgende Intrige näher zu planen. Die Raffung der Shakespearschen Vorlage aber zeigt
sich erneut als unproblematisch. Die Koinszidenz des Zusammentreffens von Jago und Otello
zur gleichen Zeit und ihm visuellen Kontakt zu der Unterhaltenden Desdemonas und Cassios,
lässt die Eifersucht Otellos leicht entflammen. Jedoch beschwichtigt, die nachfolgende
Huldigungsszene, die Boito hinzufügt, das Gemüt Otellos zunächst wieder. Zugleich bietet
die Szene erneut die Möglichkeit einer Charakterstudie und der Einfügung einer größeren
Chorpartie in das Werk. Die Neuerung Boitos zeigt sich also wiederum dramatisch und
musikalisch als begründet.
Auch die Folgende Szene Boitos ist aus zwei Szenen Shakespeares zusammengezogen. So
gelingt es Desdemonas Bitte um die Begnadigung Cassios mit der auslösenden
Taschentuchepisode zu verbinden. Der echauffierte Otello fordert für seine brennende Stirn
ein Taschentuch von Desdemona, wirft das Tuch dann aber ungeachtet zu Boden. Das
Taschentuch wird von Emilia, der „Confidente" Desdemonas, aufgehoben, dieser aber durch
ihren Mann Jago gewaltsam wieder entrissen. All dies wird in einem von Boito geschaffenden
Quartett dargelegt, welches die vier vereinten Personen in ihren je individuellen
Charakteristika deutlich hervortreten lässt. Die nächste Szene entspricht der Shakespearschen.
Otello wütet und Jago beschließt Otellos Eifersucht weiter zu schüren, indem er das
Taschentuch in die Hände Cassios spielt. Auch Otellos Abschied von seiner Kriegslaufbahn
(Ora e per sempre addio) ist bei Shakespeare vorgebildet. Doch vor der letztendlichen
„Erblindung" Otellos aus Eifersucht, bäumt er sich noch einmal auf und fordert Beweise von
Jago dem einzigen dem er, fälschlicher Weise, noch zu trauen vermag. Die Abwendung von
Desdemona führt zur Abwendung von der Wahrheit, zu Verblendung und Entfremdung. Boito
führt, wie Shakespeare, zunächst die Traumerzählung an, vermeidet aber die realistisch-
sexuellen Details, um sich auf das Wesentliche, die Eifersucht Otellos zu konzentrieren, die er
damit schürt, daß er berichtet wie er Cassio habe von Desdemona träumen hören. Der sich
hieran anschießende Racheschwur ist ebenfalls bei Shakespear vorhanden.
Der dritte Akt der Oper beginnt mit dem Eintritt der öffentlichen Sphäre. Ein Herold meldet
die Ankunft der venezianischen Flotte. Bei Shakespeare fällt Otello gleich in der ersten Szene
in Ohnmacht, Boito jedoch hebt sich den Ohnmachtsanfall Otellos bis zum Schluß auf und
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schafft so einen Kulminationspunkt der die Destruktion des Helden in eklatanter Weise
sichtbar macht. Die Entwicklung zu dieser Kulmination führt über die verschiedenen Stufen
der Taschentuchintrige. Zunächst verlangt Otello von Desdemona das Taschentuch, welches
er ihr geschenkt hat. Nachdem sie es nicht vorweisen kann, sich aber zu rechtfertigen und
entschuldigen sucht, bezeichnet Otello sie als Dirne. Dies scheint im Libretto Boitos etwas
voreilig, ist eine solche Beschimpfung bei Shakespeare doch erst nach dem Erblicken des
Taschentuchs in den Händen Cassios angeführt und somit, zumindest vor der Hand,
gerechtfertigt. Bei Boito aber erblickt Otello das Taschentuch erst in der nachfolgenden Szene
in den Händen Casssios. Otello belauscht das Gespräch zwischen Cassio und Jago, welches
scheinbar von Desdemona, in realita jedoch von der Geliebten Cassios, Bianca, handelt. Dies
bleibt Otello verborgen. Seine gesteigerte Eifersucht fällt mit dem Eintreffen der
venezianischen Gesandtschaft zusammen, die ihm seine Absetzung vermittels einer
Schriftrolle aus Venedig überbringen. Als sein Nachfolger ist eklatanter Weise Cassio
bestimmt. So vereinigen sich nun privater und beruflicher Zusammenbruch. Der Verfall des
Helden ist auf seinem Höhepunkt angekommen. Otello demütigt Desdemona vor allen
Anwesenden und löst auf diese Weise ein Betroffenheitsensemble aus, in welchem in zehn
unterschiedlichen Personen und Personengruppen das Geschehene reflektiert wird. Wie Vedi
aus diesen Vorgaben letztendlich eine neue Finalkonzeption entstehen lässt soll sich in der
musikalischen Analyse herauskristallisieren. Otello befreit sich schließlich rasend vor Wut
von allen Umstehenden und bricht in einem Ohnmachtsanfall zusammen, während Jago sich
triumphierend über ihn erhebt. Eine effektvolle Lösung für die Opernbühne, die kein Vorbild
im Shakespearschen Drama findet.
Auch im vierten Akt findet eine Konzentration der Handlung statt. Boito verzichtet auf
Nebenhandlungen und zentriert das Schicksal von Desdemona und Otello, was zur Einheit
und Geschlossenheit dieses Aktes wesentlich beiträgt. Die erste Szene des Aktes entspricht
somit der dritten der Shakespearschen Konzeption. Boito übernimmt das Lied von der Weide
und die unheimliche Unterbrechung von dessen Vortrag durch den Wind. Neu kommt bei
Boito hinzu, daß Desdemona in der Vorrausahnung ihres Todes Emilia noch ein letztes Mal
umarmt. Ebenfalls neu tritt die Preghiera, das Ave Maria hinzu. Bei Shakespeare fragt Otello
zwar nach seinem Eintritt in das Schlafgemach Desdemonas, ob sie gebetet habe, das Gebet
selbst bleibt jedoch verschwiegen. Durch die Aufnahme der Preghiera ist Raum für eine
Charakterstudie Desdemonas gegeben, die ihre Erfüllen vor allem in Verdis Komposition
erfährt, in der sich der rezitativisch betende Stil nach und nach in ein individuell persönliches
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Bitten verwandelt. Ein Bühnenwirksames Element, welches allerdings nicht die genuine
Erfindung Boitos ist, sondern auf die Ausführung im Libretto Berios zurückzuführen ist.
Die dritte Szene, der Auftritt Otellos, wird bei Shakespeare durch einen längeren Monolog
gerechtfertigt. Boito spart diesen Monolog aus und überlässt es Verdi die Musik als Ausdruck
für das Unaussprechliche stehen zu lassen. Alleine die Szenenanweisung, das Mimische Spiel
Otellos, ist von Boito beschrieben. Otello tritt ein, betrachtet die schlafende Desdemona, legt
den Säbel auf den Tisch, löscht das Licht und küsst Desdemona drei mal. Nachdem diese
erwacht ist, beginnt der Dialog zwischen ihnen, der in gekürzter Form den selbigen Inhalt
aufweist, wie bei Shakespeare. Auch Desdemona wird schließlich, wie bei Shakespeare
erstickt, doch erfährt der Zuschauer die Gründe für den Vorzug der Erstickung vor der
Erdolchung nicht. Shakespeare führt diesen Sachverhalt aus, wenn er schreibt: „Doch werde
ich ihr Blut nicht vergießen und auch nicht diese ihre Haut verunstalten, die weißer ist als
Schnee und glatter als Grabalabaster; doch muß sie sterben, sonst wird sie mehr Männer
betrügen." Es geht also um eine ästhetische Dimension, die mit dem Todesvollzug verbunden
ist. Der Körper soll unversehrt bleiben und als Ganzer in den Himmel aufsteigen. Eine
sublime Form der Rache, bei der die Seele gerettet die Schuld aber gesühnt wird. Berio
hintergeht diese ästhetische Konzeption, indem er Desdemona durch Otello erdolchen lässt.
Auf den Mord an Desdemona folgt die Enthüllung der Intrige durch Emilia, die Jago zur rede
stellt und so die Wahrheit ans Licht bringt. Emilia wird aber von Jago weder mit dem Schwert
bedroht, noch umgebracht, wie dies bei Shakespeare der Fall ist. Auch die Nachfolgenden
Ereignisse sind auf das Äußerste zusammengedrängt. Casso klärt auf, daß er das Taschentuch
in seiner Wohnung gefunden habe. Montano, der von Rodrigo umgebracht werden sollte,
dabei aber selber starb, berichtet von Rodrigos Enthüllungen der Intrigen Jagos. Jago selbst
enkommt, wird aber verfolgt, sein Schicksal bleibt ungewiß, ganz im Gegenteil zur Fassung
Shakespeares, der diesen durch Otello zur lngen, qualvollen Folter verurteilen lässt. Otello
kommt in der Fassung Boitos nicht mehr zu rationalem Bewusstsein. Bevor ihm Lodovico das
Schwert und damit alle Insignien der Macht entreißen kann, ersticht er sich mit selbigem.
„Otello fu!" resümiert er in der dritten Person über sein eigenes Dasein. Anstelle der bei
Shakespeare folgenden Rühmens seiner Verdienste um den Staat, folgt ein Abschiedsgesang
an Desdemona. Somit steht hier nicht der gerühmte Held im Vordergrund, wird nicht
Gerechtigkeit gefordert und der Sieg der Tugend gefeiert, wie dies bei Shakespeare der Fall
war, sondern der „Verfall eines Helden" bis in den Tod konsequent beleuchtet. Das dies die
Intention von Verdi und Boito war zeigt sich auch in ihrem Briefwechsel, in dem sie über die
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Konzeption des Finales des dritten Aktes beraten. Verdi schlägt vor die Stringenz des Finales
zu durchbrechen. Nach der Reflexion des Geschehenen überlegt Verdi einen erneuten
Einbruch der Türken folgen zu lassen. Otello zieht erneut in die Schlacht, während
Desdemona, um Otello betend, alleine zurückbleibt. Verdi glaubt daraus eine
bühnenwirksame Komposition machen zu können. Boito aber stellt die Frage, die Verdi selbst
bereits zu bedenken gibt, ob ein von Schmerz gebrochener Held, der von Eifersucht zernagt,
niedergeschlagen, physisch und moralisch krank ist, noch in der Lage sein kein in eine
Schlacht zu ziehen. Vor allem aber die Stringenz der Katastrophe würde, so Boito, durch den
Türkenangriff gestört, der Verfall des Helden würde nicht zielgerichtet erreicht und die
Dramaturgie müsste wieder neu aufgebaut werden. Boito wählt zur Verdeutlichung dieses
Sachverhalts den treffenden Vergleich mit einem hermetisch verschlossenen Zimmer, in
welchem zwei Mensch kurz vor dem Erstickungstod stehen. Zertrümmerte man in diesem
Raum das Fenster, so würde die Lebensluft von neuem eindringen und das im Innersten vom
Tode umgeben sein, wäre dahin. Diesen Anmerkungen Boitos pflichtet Vedi bei. Damit zeigt
sich welchen Gedankengang das Libretto Verdis/Boitos zentriert.
In der Konzeption des Librettos Boitos zeigt sich, daß dieser nicht nur ein versierter Dichter
war, sondern auch, daß seine Ideen immer in Rückkopplung an den Gedanken der Vertonung
für das Musiktheater bemessen wurden. Die Zusammenarbeit mit Verdi erwies sich überdies
als besonders fruchtbar. So kann zusammenfassend festgestellt werden, daß die Änderungen,
welche Boito am dramatischen Stoff Shakespeares vornahm, gänzlich durch die Einrichtung
selbigen Werks für das Musiktheater motiviert waren. Die Kürzung des Textes, die
Zusammendrängung der Aktion, die Wahrung der Einheit von Zeit, Ort (durch die Streichung
des ersten Aktes) und Handlung (durch Reduktion des Personals, was ebenfalls in der
Streichung des ersten Aktes begründet liegt), die Einfügung von Momentaufnahmen, zur
Charakterzeichnung und die Konzentration auf den Verfallsprozeß des Helden, bilden so die
Konstitutiven Merkmale von Boitos Libretto. Die affektgesättigten Tableaus, die in den
dramatischen Diskurs von Zeit zu Zeit eingebettet sind, bieten die nötigen Gelegenheiten zur
musikalischen Entfaltung, ohne den Geist von Shakespeares Werk zu verwässern.
3. Musikalische Vorläufer: Rossinis „Otello ossia il moro di Venezia"
(1816/1820)
ESSAY ZUR ANALYSE VON VERDIS OTELLO - JANINE CHRISTGEN
Die Komposition Rossinis zeigt sich im Wesentlichen noch den konventionellen
Opernschemata verhaftet. Jedoch verliert die Sortita bereits an Bedeutung. Im ersten und
Zweiten Akt sind die Arien jedoch mehr zur vokalen Präsentation des Sängers gedacht als
dem dramatischen Aufbau zuträglich. Die Tenorpartien des Otello und des Rodrigo, die im
Mittelpunkt der Handlung stehen, sind gleichwertig gehalten, wegen der Forderung der
Auftraggeber und den Sängern, für die diese Partien geschrieben wurden. Desdemona
hingegen erhält keine Auftrittsarie, in der sie ihr stimmliches Potential präsentieren kann. Ihr
erster Aufritt ist ein Duettino, welches sie mit Emilia zusammen singt.
Schon bei der Ouvertüre fällt die damalige Kompositionsnorm ins Auge. Die Ouvertüre hat
nichts mit dem dramatischen Entwurf der Oper gemein. Auch wenn sich in der
Sekundärliteratur mithin der Hinweis findet, daß die Ouvertüre die Vorgeschichte des Feldzug
schildern solle, lässt sich dieser vagen Vermutung doch recht schnell der Boden entziehen,
handelt es sich hierbei doch um eine Übernahme der Ouvertüre von Rossinis „Il turco in
italia". Hier ist ein eklatanter Unterschied zu Verdis Konzeption zu sehen, der seinem Werk
zwar keine Ouvertüre mehr voran setzt, die einleitenden Introduzione Takte aber in
untrennbare Beziehung zum Werk stehen. Auch bei Rossini folgt auf die Ouvertüre ein
Inrtoduzione, die jedoch auch floskelhaft, traditionell und konventionell bleibt, wenngleich sie
als erste Nummer der Oper, deren Einleitung ist und damit ihren dramatischen Gehalt in sich
aufnehmen sollte. Auch die ersten beiden Akte der Oper Rossinis zeigen sich konventionell.
Interessant ist lediglich die durch die Umklammerung der Cavatina Otellos (die gleichzeitig
dessen Sortita ist) durch den Marsch eine Geschlossenheit am Beginn der Oper erreicht wird.
Die Cavatina selbst besteht aus einer Solita Forma.
Das Finale des zweiten Aktes besteht aus einer ausgeweiteten Solita Forma, die durch einen
zweiten Colpo di Szena entsteht. Zunächst beginnt das Finale mit dem, auf den Aufritt des
Vaters folgenden, tempo d´attacco, dem das pezzo concertato (adagio) folgt. Es folgt jedoch
nach dem zweiten Colpo di Scena, der Verfluchung der Tochter, ein weiteres tempo d´attacco,
welches die Solita Forma von neuem motiviert.
Die Opera seria, zu welcher auch Rossinis Otello zählt, sind zumeist Zweiaktig (13 von 16
Opere serie Rossinis). Der Otello aber weist drei Akte auf. Dieser dritte Akt wirkt zunächst
wie „angehängt", bleibt er doch vom dramatischen Gehalt am nächsten an Shakespeare
angelehnt. Auch seine innere Konzeption ist gänzlich von der restlichen Oper gelöst. Der
dritte Akt zeigt sich als eine geschlossene Nummer mit geschlossener Tonalität, die von Es-
dur ausgeht und dorthin auch wieder zurückkehrt. In diese geschlossene Struktur sind die
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Bühnenlieder integriert. Die Canzone des Gondoliere (die einem Dante Zitat entnommen ist),
die Preghiera der Desdemona (die Berio hinzugefügt hat) und das Weidenlied (welches aus
der Vorlage Shakespeares stammt und welches das Schicksal als Solches beklagt). Diese
Konzeption des dritten Aktes war der Versuch einer Innovation, der allerdings von den
Sängern mit Zurückhaltung aufgenommen wurde, konnten sie hier das Potential ihrer Stimme
doch nicht recht entfalten. So entschloß sich Rossini für seine römische Fassung eine
Auftrittsarie für Desdemona hinzuzufügen und das umstrittene, tragische Ende durch ein lieto
fine zu ersetzen. Das Abschlussduett des Finales aber war wiederum nicht eigens für den
Otello komponiert, sondern von Rossinis Oper „Amida" übernommen worden.
Trotz der unkonventionellen Struktur des dritten Aktes verbleibt die Oper Rossinis im
Einklang mit den zeitüblichen Konventionen. Dennoch lässt sich aus der Komposition des
dritten Satzes das Bestreben ableiten, die Oper aus den konventionellen Banden
hinauszuschälen.
4. Der Verfall des Helden: Otello und die Struktur der Oper
Wie bereits zuvor ausgeführt steht der „Verfall des Helden", ein Terminus, der auf den Titel
eines Aufsatzes von Stefan Kunze zurück geht, im Mittelpunkt der Handlung. Daher soll diese
Entwicklung des Helden im Folgenden nachvollzogen und seine Charakterdisposition anhand
von signifikanten Kompositionslösungen dargestellt werden. Dabei ist es notwendig, vor
allem auch die Beziehung zu Desdemona und Jago herauszustellen. Des Weiteren wird dabei
das Verhältnis von Konvention und Innovation zu betrachten sein.
Die Oper lebt von drei Grundbeziehungen, jener Otellos zu Jago, der Otellos zu Desdemona
und schließlich jener Otellos zu Cassio. Die erste Beziehung ist von Vertrauen auf Seiten
Otellos von dem Vertrauensbruch, durch das Initieren von Intrigen, andererseits von Jago
geprägt. Das Verhältnis zu Desdemona erscheint zunächst als reines Liebesverhältnis, je mehr
jedoch über die Vorgeschichte bekannt wird, umso anfälliger erscheint diese Liebe für
Störungen von außen, entwickelt sich doch Otellos Eifersucht nicht nur durch die Intrigen
Jagos, sondern auch bedingt durch seine charakterliche Disposition, die ihn als Schwarzen, als
Außenseiter, immer wieder an dem Errungenen zweifeln und dessen Beständigkeit in Frage
stellen lässt. Die Beziehung zu Cassio, die im ersten Akt Shakespeares noch als vertraut
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dargestellt wird, was zur Beförderung Cassios führte, wird durch Jagos Ränke untergaben, so
daß er das Leben Otellos und jenes Cassios durch seine Intrigentätigkeit gleichzeitig zerstört.
Die Betrachtung soll mit dem Helden beginnen, mit Otello. Aus dem Briefwechsel zwischen
Boito und Verdi wird deutlich, daß Verdi zwischenzeitlich überlegte seine Oper „Jago" zu
taufen, sich letztendlich doch für Otello entschied. Verdi war gefesselt von der
Dreierkonstellation „Held, Unschuld, Bösewicht", welche im Shakespearschen Werk hervor
tritt. Besonders Jago wirkte faszinierend auf Verdi. Er ist, so schreibt Verdi, der Dämon, der
alles bewegt, aber der Handelnde in der Oper ist, so fährt Verdi fort, Otello. Er liebt, er ist
eifersüchtig und er bringt sich um. Daher ist es Otello, nach welchem die Oper benannt
Einem solchen Helden gebührt ein prachtvoller erster Auftritt. Diesen inszeniert Verdi, indem
er den Sieger der Schlacht gegen die Türken aus dem Orkan hinaustreten lässt. Das Bild das
sich dem Betrachter auf der Opernbühne zunächst bietet, ist wüst und dunkel. Es herrscht
Aufruhr der Elemente und der Menschen, welche sich zu einem beschwörenden Gebetschor
zusammenfinden, der die Wucht des Orkans mildern soll. Verdi lässt das Gewitter, die Blitze
und den Donner plastisch im Orchester erscheinen. In diesem großen Anfangstableau aber
zeigt sich auch gleich die Verknüpfung von Jago mit der Macht des Bösen. Er ist gleichsam
das Unwetter, welches Otellos Leben aus den Fugen geraten lässt. Noch während das
Unwetter wütet, der Chor seine hymnische Beschwörung ausspricht und die Rückkehr Otellos
noch ungewiss ist, ereignet sich gleichzeitig ein erstes Gespräch Jagos mit Rodrigo, indem
Jagos Haß gegen Otello zugleich offensichtlich wird. Jago deklamiert den Text „L´alvo
frenetico del mare sia la sua tomba". "Möge das aufgewühlte Meer sein Grab sein."
Entscheidend ist jedoch nicht nur, daß diese Deklamation Jagos seine wahren Gefühle
gegenüber Otello offen legt, sondern daß Verdi diese Stelle am Ende des dritten Aktes zitiert.
Nachdem Otello ohnmächtig auf dem Boden liegt, findet sich die selbe, scharf punktierte,
diatonisch absteigende Melodielinie zum Text: „Chi poù vetar che questa fronte prema col
mio talone?". „Wer kann mich daran hindern, daß ich diese Stirn mit meiner Ferse
zerquetsche?" Der Wunsch Otello am Boden zu sehen wird also am Ende des dritten Aktes
Wirklichkeit, das konjunktivische „sia", zur rhetorisch ironischen Frage. Jagos Haß gegen
Otello wird vor dem Chor „fuoco di gioia" näher ausgeführt. Jago erklärt Rodrigo, daß Otello
Cassio, nicht aber ihn, zum Hauptmann befördert habe. Cassio beanspruche zu Unrecht
seinen, Jagos, Posten. Infolgedessen ist verständlich, warum sich der Haß Jagos sowohl gegen
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Otello, wie gegen Cassio richtet. Die weiteren Gründe seine Abneigung gegen Otello
betreffen, die bei Shakespeare genannt werden blieben bei Boito/Verdi im Dunkeln. Hierbei
handelt es sich zum einen um Jagos Befürchtung, Otello habe ihn mit seiner Frau Emilia
betrogen, zum anderen aber will er sich auch für seine von Desdemona zurückgewiesene
Dies alles bleibt aber zunächst verhüllt, in Jagos Deklamation nur angedeutet. Die Harmonie
gewinnt endlich festen Boden im E-Dur des „È salvo" Chores. Der Sturm scheint gebändigt,
das Schiff mit Otello erscheint am Hafen. Begleitet von „Evvivat"-Rufen erscheint der
„Held". Auch diese Huldigungsrufe des Volkes finden sich erneut im Finale des 3.Aktes, hier
jedoch als Hintergrund, der mit der Erniedrigung des Helden kontrastiert. Dies soll jedoch im
später im Zusammenhang mit der Betrachtung des Finales des dritten Aktes noch eingängiger
erörtert werden.
Eingeleitet von Trompetenfanfaren (Achteltriolen und Viertelnote) beginnt Otello nun seine
Siegesbekundung zunächst in das völliges Schweigen hinein. Der erste Takt ist unbegleitet.
Nach dem Sturm erscheint Otello nun die Ruhe und den Frieden durch seinen Auftritt zu
verbreiten. Strahlender und souveräner könnte kein Auftritt eines Helden dargestellt werden.
Der personifizierte Sieger singt in Cis-Dur, der Tonart des Helden. Hinzu kommt, daß die
Oper in C-Dur begann, der Auftritt des Siegers in Cis-Dur steht und das Liebesduett (Ende
des 1. Aktes) schließlich in Des-Dur steht. Somit zeigt sich eine tonale Entwicklung des 1.
Aktes als formbildend. Wenngleich sich Otello im 1.Akt zunächst als Held etabliert, so wird
seine charakterliche Disposition und sein hierdurch vorbestimmter Weg des Scheitern doch
schon hier vorgezeichnet. Um dies erörtern zu können muß die Reaktion auf die, sich in Folge
von Jagos Brindisi entwickelnde, Auseinandersetzung und deren Schlichtung durch Otello
näher untersucht werden. Hierzu ist zunächst Struktur und Sinn des Brindisi zu analysieren,
die bereits einen ersten Einblick in die Intrigentätigkeit Jagos und Otellos Empfänglichkeit
dieses Tuns bieten.
I Jagos Brindisi
Jago initiiert das Trinklied, indem er die Aufforderung ergehen lässt „Rodrigo beviam"
(Rodrigo trinken wir). Gleich wird Cassio mit einbezogen, indem man dem Hauptmann einen
Becher reicht, dieser jedoch lehnt ab, da er nicht mehr trinke. Jago kann ihn dann doch
überzeugen dem Alkohol zu frönen, indem er auf die Hochzeit Otellos und Desdemonas
anstoßen möchte. Dem kann sich Cassio nicht entziehen. Was fehlt ist nur das die Initiation
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des Trinkens, das Brindisi. Jago wird angetragen das Lob zu singen, doch windet er sich
zunächst, sagt, er sei nur ein Kritiker („Io non sono che un critico."). Damit nimmt er sich
zurück, wirkt wie ein angeblich Unbeteiligter. Dabei ist es gerade sein Plan Cassio zum
Trinken zu bringen und ihn so auszuliefern. All dies schwingt in dem nun folgenden Brindisi
mit. Es ist eben nicht mehr nur das „einfache" Brindisi der alten Operntradition, kein
„einfaches" Bühnenlied, sondern ein handlungstragendes Element. Das Brindisi ist durchsetzt
mit musikalischen Charakteristika der Person Jagos. Neben dem eingängigen Ritornell, das
noch deutlich an die Trinkliedtradition gemahnt und der Nummer die Geschlossenheit gibt,
tritt ein Dämonisierung, die durch Jago bedingt ist. Das Brindisi zeiht nicht nur alle
Umstehenden in seinen Bann, die das Ritornell bald mitsingen, auch Cassio wird vollständig
eingenommen. Hier wird der Destrunktionsprozeß vorgeführt, welchen Jago auszulösen
vermag. Doch worin zeigt sich die raffinierte Bosheit des Fähnrichs? Schon an der
tonartlichen Disposition lässt sich ein „dämonischer" Zug ableiten. Stehen die Strophen in
reinem h-moll, sinkt die Gesangslinie im Refrain um einen Ganzton nach unten, so daß der
Refrain nunmehr in A-Dur steht. Hinzu kommt die Chromatik, welche im Refrain klar
hervortritt. Sie ist musikalisches Merkmal des Charakters Jagos. Wenngleich er vor dem
Bindisi ankündigt, nicht mehr als ein Kritiker zu sein, so ist er es doch. Er ist der bewegende
„Dämon". Dies zeigt sich auch in Verdis Komposition. Das Bindisi beginnt bereits mit einem
musikalischen Charakteristikum, welches Jago in dieser Oper zugeordnet ist, den leeren
Oktavklängen mit Vorschlägen, die voneinander durch Pausen getrennt sind. Dem Zuhörer
wird somit verdeutlicht, daß Jago derjenige ist, der die Fäden der Intrige in der Hand hält.
Hinzukommt, daß nicht nur alle seinem Vorbild Folgen und den Refrain nachsingen, sondern
Jago im Refrain auch als einzelner gegen die anderen die persuative „beva"-Formel singt, die
ganz auf Cassio gemünzt ist. Besonderes deutlich wird dieser Hintergrund, wenn man die
kleine aber bedeutende Nuance betrachtet, die sich im Text gegen Ende des Bindisi
abzeichnet. Hier ändert sich das „beve" (3. Person Singular) oder Wahlweise das „beva"
(Imperativform) in „bevi" (2. Person Singular). Jago spricht sein Vorhaben also explizit aus.
Nicht man möge trinken, du (Cassio) mögest trinken. Cassio ist zu diesem Zeitpunkt bereits
zu betrunken, um die Spitzfindigkeit Jagos zu bemerken, der Chor schon so in den Bann Jagos
geschlagen, daß dieser seine Deklamation unreflektiert übernimmt und Cassio durch die Form
der 2. Person Singular explizit anspricht. Cassio spielt in diesem Dialog mit, indem er „bevo"
singt und damit eingesteht, daß ER mit Jago trinkt. Den Sinn aber erkennt er in seinem
Zustand bereits nicht mehr. Verdi ist die kompositionstechnische Umsetzung der Trunkenheit
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Cassios in plastischer Weise gelungen. Es fällt Cassio zunehmend schwerer die Melodielinie
Jagos zu repetieren. Er bricht die Linie ab, so daß sie als Pausendurchsetztes Fragment übrig
bleibt. Hinzutreten rhythmische Verschiebungen. Es kommt zu monomanischen
Wiederholungen, zu metrischen Schwankungen, zum Vergessen des Textes. Cassio hat sich in
Jagos Netz verstrickt, er torkelt gleich der Musik. Der Chor verlacht den betrunkenen Cassio.
So entwickelt sich aus dem zunächst konventionell anmutenden Brindisi eine Sogwirkung, ein
betäubendes, berauschendes, dionysisches Trinklied, welches in dem blutigen Streit mündet,
ausgelöst durch das Verlachen Cassios, der als Betrunkener von Montano gedemütigt wird.
Das Bühnenlied, welches ehemals rein kontemplativ betrachtenden Charakter hatte, wird zum
handlungstragenden Element.
Das entstandene Gemenge kann nur von Otello geklärt werden. Dieser jedoch zieht die
falschen Schlüsse aus jenem, was sich ihm scheinbar visuell darbietet. Otellos Auftritt, wieder
a cappella und so in besonderer Weise abgehoben von dem „Sturm" des Streits, führt ihn
erneut als Held vor, gesteht ihm Autorität und Macht zu. Doch die Souveränität täuscht. Er ist
auf Informationen über den Hergang des Geschehens angewiesen und traut dem Falschen,
Jago. Ohne konkret zu werden, signalisiert Jago Otello, daß Cassio für die Ausschreitungen
verantwortlich sei. Otello vertraut ihm und degradiert Cassio. Dabei aber kommt Jago der
Zufall zu Hilfe, betritt doch gerade im selbigen Moment Desdemona die Szene. Otello
schlussfolgert, daß diese von dem Streit in ihrer Ruhe gestört wurde und handelt hier somit
mehr aus privat emotionalen, als aus objektiv bestimmten Gründen. Schon hier zeigt sich
somit Otellos Hang zu subjektiv bestimmtem, rein emotionalen Handeln. Dieses unreflektierte
Vorgehen lässt ihn für die Intrigen Jagos anfällig werden. Es muß dabei immer berücksichtigt
werden, daß Jagos Gift nicht ohne eine persönliche Disposition des Opfers wirken kann. Hätte
Cassio keine Schwäche für Alkoholika, welche ihm die Kontrolle über seinen Verstand
rauben, wäre Jagos Plan nicht aufgegangen. Auch hätte sich nie ein solcher Streit entfachen
lassen, wenn Cassio seinen Hang zum Alkohol nicht als persönliche Schwäche begreifen
würde. Erst die Angreifbarkeit, die Schwäche des Charakters macht die Opfer Jagos zu seinen
Marionetten. Er hält die Fäden in der Hand. Jago ist ein brillanter Analytiker. Wenn man es
mit seinen eigenen Worten ausdrücken will: ein Kritiker. Sieht man den Begriff in der
Verwendungsweise Kants ein, so bedeutet „Kritik", oder kritisieren, das Ausmessen der
Fähigkeiten. In Jagos Fall also eine eingehende Charakterstudie seiner Opfer. Er „kritisiert"
ihren Charakter, bemisst seine Grenzen und erfährt so die individuellen Verwundbarkeiten.
Bei Otello liegen diese in seiner Unsicherheit, seinem mangelnden Selbstbewusstsein. Dies
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kann nur ein guter Beobachter herausarbeiten, denn wem würde schon ohne weiteres
auffallen, daß der erfolgreiche Feldherr in der Tiefe seiner Persönlichkeit unter der
permanenten Angst leidet in der Welt nicht bestehen zu können. Alles scheint ihm unsicher,
ungewiss. Er ist ein Schwarzer. Seine Position hat er sich erarbeitet, Fehler darf er sich nicht
erlauben, sie würden in direkter Weise zu seiner Degradierung führen. Desdemona hat sich
zwar aus freien Stücken zu ihm bekannt, doch weiß er, daß sie einen Mann ihres Standes,
einen Weißen, wählen könnte. So braucht Otello die militärischen Erfolge nicht nur um seinen
Status in der Gesellschaft zu erhalten, sondern auch, um Desdemona nicht zu verlieren. Auf
diese Weise sind beruflicher und privater Erfolg eng miteinander Verbunden. Jago weiß, nicht
nur um die Charakterliche Disposition Otellos, sondern auch um die Verknüpfung der
privaten und beruflichen Ebene. Auf diese Weise gelangt Jago in die Ausgezeichnete Position
sich in Otello hinein versetzten zu können, um so zu ermessen welches Gift die beste
Wirkung tun kann. Am Beispiel des Brindisi ist für den Zuschauer ein Exempel seiner
Fähigkeit statuiert.
II Das „Liebesduett"
Um dem Zuschauer das Verhältnis von Otello und Desdemona vor Augen zu führen nutzen
Verdi und Boito das Ende des ersten Akts. Nachdem Otello alle hinausgeschickt hat, bleibt er
mit Desdemona allein zurück. Der kontemplative zweite Tei des ersten Akts kann beginnen.
Der private Otello zeigt sich nun auf der Opernbühne. Verdi und Boito nutzen diese von ihnen
konstruierte Szene um wiederum einen Teil, des 1. Aktes von Shakespeares Drama
einzuholen. Ein Teil der Vorgeschichte wird hier ebenso angerissen, wie das Verhältnis ihrer
Liebe zueinander.
Die Etablierung des Helden im 1. Akt, die seinen militärischen und privaten Erfolg
herausstellt, ist entscheidend, um eine Fallhöhe zu erreichen, die die Konstitution einer
konsequenten Verfallsgeschichte erlaubt. Daher ist auch die Darlegung der Liebesbeziehung
zu Desdemona von eminenter Bedeutung.
Das „Liebesduett" beginnt mit einer weichen Melodie, die in den Celli liegt und die
Introduzione zu diesem kontemplativen Aktschluß bildet. Auch hier begegnet keine
konventionelles Liebesduett. Dies ist bereits im Text Boitos angelegt. Es handelt sich nicht
um eine klassische Situation der kontemplativen Betrachtung der Liebe im Hier und Jetzt,
sondern um das Beschwören eines Gewesenen. Auch sind die Konstitutiven Faktoren der
Liebe, die in Boitos Libretto angeführt werden, mehr als zweifelhaft für eine wahre
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Liebesbeziehung. Die Liebe zwischen Otello und Desdemona ist an Bedingungen geknüpft.
Desdemona liebte (und hier schreibt Boito tatsächlich in der Vergangenheit) Otello, wegen
seiner militärischen Erfolge, wegen seines Heldentums. Otello liebte Desdemona wegen ihres
Mitleids. Sie sehn daher im jeweilig anderen nur ein personifiziertes Wunschbild, welches nur
bedingt mit der Realität vereinbar ist. Zudem birgt diese Form der Liebe die grundlegende
Gefahr zu zerbrechen, sobald eine Konstituente entfällt. Hier wird erneut deutlich, wie eng
privates und berufliches Glück miteinander verknüpft sind. Scheitert Otellos Karriere, wird er
auch Desdemonas Liebe nicht erhalten können. Boito setzt dies beiden Positionen antithetisch
voneinander ab. Stellt den Erzählungen Otellos über seine vergangenen militärischen Erfolge
Desdemonas Mitleidsfähigkeit gegenüber. Verdi setzt dies in seiner musikalischen Form um.
Es entsteht eben kein Liebesduett, daß sich formal unter die Kategoie der Solita Forma
subsumieren ließe, sondern eine mosaikartige Aneinanderreihung von Abschnitten, die keinen
geschlossenen musikalischen Zusammenhang suggerieren.
Auf einen einleitenden rezitativischen Teil Desdemonas folgt ihre Erinnerung an die früheren
glücklichen Zeiten, in F-Dur und unterlegt mit Hafenarpeggien. Die Arpeggien erscheinen
wie eine musikalische Evokation an die venezianische Atmosphäre. Vielleicht sucht Verdi
hier einen Bogen zum ausgelassenen 1. Akt Shakespeares zu schlagen. So klingen die
Voraussetzungen der Liebe in dem venezianischen Unterton an. Im Mittelpunkt der
Erinnerung stehen folglich keine gemeinsamen Erlebnisse, die ihre Liebe begründen, sondern
Bewunderung und Mitleid. So wird einsehbar, daß die Liebe zwischen Otello und Desdemona
keine auf Zuneigung beruhende Beziehung ist. Zudem stellt sich die Liebesgegenwart
ausschließlich durch das Aufrufen der Vergangenheit her.
Die extensive Verbindung von Heldentum und Liebe findet ihre Entsprechung auch in der
Musik Verdis. Sobald Otello in das Duett eintritt, ändert sich der melodisch lyrisch Duktus
Desdemonas in einen militärischen, der durch die Verwendung der Blechbläser zum Begriff
„Pugna" noch deutlicher hervortritt. Zugeleich erinnert der von Otello hier vorgegebene
Duktus an seinen Abgesang auf das Heldentum „Ora e per sempre addio".
Auffällig ist zudem, daß Verdi davon absieht Otello und Desdemona real vereint singen zu
lassen. Zwar übernimmt Desdemona im „Poco più largo" in F-Dur, in welchem die Gründe
der Liebe füreinander noch einmal zentriert dargestellt werden, Otellos Melodielinie und zeigt
so seine Verbundenheit zu ihm, doch kommt es nie zu einer gleichzeitigen Deklamation der
Liebenden, geschweige denn zu einer Terzführung, oder einer Unisonoführung mit dem
Orchester, die in vielen Opern als Signifikat für Liebe selbst steht. Da es sich bei der Liebe
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Otellos und Desdemonas jedoch um eine spezielle Art der Zuneigung handelt, um eine fast
rational geschlossene Beziehung, kennzeichnet Verdi dies auch musikalisch. Otello und
Desdemona finden auch musikalisch nicht zusammen. Desdemonas Melodielinien sind mit
Harfe und Streichern unterlegt, Otellos hingegen mit Blechbläsern, die seine Verbindung zum
militärischen Heldentum exponieren. Dennoch glauben beide in dieser Liebe ihr Ideal
gefunden zu haben, da sie, die Realität missachtend im Anderen nur ihre jeweiligen
Wunschbilder und Projektionen sehen. Daher kulminiert die Heraufbeschwörung der
Vergangenheit in dem extatischen Wunsch, in diesem Moment der scheinbar absoluten Liebe
zu sterben. Dieser Teil, der als recitativo accompagnato erscheint, mutet wie ein Gebet an,
welches von den himmlischen Heerscharen mit „Amen" beantwortet werden soll. Die Celli,
die das „Liebesduett" bereits einleiteten, schaffen nun die Überleitung in den E-Dur Teil, in
welchem das Baccio-Thema exponiert wird. E-Dur wird somit in der Oper überhaupt zum
Sinnbild für die Liebe zwischen Otello und Desdemona.
Hier jedoch fordert Otello im Unisono mit dem Englischhorn einen Kuß von Desdemona.
Dieses Motiv kann nicht als Leitmotiv im Wagnerschen Sinn bezeichnet werden, dennoch
steht es sinnbildlich für die Entrückung der Liebe zwischen Otello und Desdemona und wird
aus diesem Grund am Ende der Oper von Verdi noch einmal aufgegriffen. Der Akt endet in
einem verklärt sphärischen Klang, der über die Tonikaparallele cis-moll zur Grundtonart E-
Dur schließlich Aufgrund einer enharmonischen Verwechslung nach Des-Dur gelangt. Damit
schließt Verdi den Bogen. Der Akt der in C-Dur begonnen hatte, chromatisch erhöht beim
ersten Auftritt Otellos zu Cis-Dur wurde, schließt nun in der enharmonischen Verwechslung
Des-Dur. So erhält der gesamte 1. Akt eine übergreifende Geschlossenheit.
Das „Liebesduett" aber vermag so zweierlei, die wahrhaftige Begründung der Liebe zwischen
Otello und Desdemona zu beleuchten und den Zusammenhang zwischen privatem und
beruflichem Erfolg Otellos herauszustellen. Vergleicht man dieses „Liebesduett"
beispielsweise mit jenem aus dem 3.Akt der Traviata, so werden die Unterschiede gleich
sinnfällig. Nicht nur, daß es sich in der Traviata um eine solita forma handelt, sondern auch
das Verhältnis der Stimmen zueinander ist ein anderes. Es handelt sich um wahre Liebe.
Alfredo und Violetta übernehmen nicht nur wechselseitig die Melodielinien voneinander, sie
singen auch schließlich im Unisono, wobei sie teilweise vom Orchester im Unisono begleitet
werden, teilweise a cappella singen. Diese Kompositionsweise drückt ihre innige
Zusammengehörigkeit aus. Nun ist sicherlich zu berücksichtigen, daß Verdi seit seinen anni
di galeeria eine kompositionstechnische Entwicklung durchgemacht hat. Dennoch muß auch
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reflektiert werden, daß Verdi die Tradition nicht schlichtweg ablehnte. Hätte er eine innige
Liebe zwischen Otello und Desdemona situieren wollen, so hätte er sich auch der
traditionellen Stilmittel bedient. Es ist aber gerade eine andere Form der Liebe, die dem
Zuschauer hier entgegentritt. Verdi verdeutlicht dies, indem er eine Form wählt, die keine
Geschlossenheit aufweist, sondern montiert wirkt, indem er die Liebenden nicht im Unisono
singen lässt und ihnen zur Begleitung unterschiedliche Instrumentengruppen anbei stellt.
III Der 2. Akt
Bereits in der Introduktion zum 2. Akt erklingen jene Triolen und Basschromatik, die als
Symbol für Jagos Intrigentätigkeit gesehen werden können und welche sich unter dem
nachfolgenden Dialog mit Cassio fortsetzen. Auch in der Orchesterbegleitung zu Jagos Credo
finden sich diese ohrenfälligen Motive: Die Triolen, als aufwühlende, subversive Elemente
und die Chromatik, die das Orchester in einem unaufhaltbaren Sog nach unten zu ziehen
scheint. Unter Jagos Intrigen aber sinkt nicht nur das Orchester gen Boden. Dieser
kompositorische Fingerzeig Verdis scheint fast onomatopoetisch. Das Orchester stellt dem
Rezipienten nahezu bildlich vor Augen, wie Jagos Opfer durch dessen Intrigen zu Boden
gedrückt werden. Erscheinen diese Elemente in Verdis Vertonung parallel, wird die
Verknüpfung sinnfällig. Es ist also eine gewisse Abhängigkeit der „Marionetten" Jagos von
dessen Führung in der Musik angelegt. Wenn Jago im folgenden Dialog vermittels teilweise
arioser Gesangslinien, die partiell im Unisono mit dem Orchester erklingen, versucht Cassio
in seine Intrige einzuspinnen, ihn davon zu überzeugen, daß nur Desdemona (die schließlich
die „Herrin unseres Herren" (il Duce del nostro Duce) sei) mit einer Fürsprache bei Otello der
ausgesprochenen Degradierung entgegenwirken könne, so wird dem Zuhörer Jagos
Verstellung gleich offenkundig. Unter die arios lyrisch Gesangslinie legt Verdi die aus der
Introduktion zum 2. Akt bekannten Intrigentriolen, die auch schon in Jagos Brindisi ihre
diabolisch Wirkung taten. Hinzu tritt die Chromatik, die bereits als ein weiteres
Charaktermerkmal Jagos beschrieben wurde. Selbst wenn Cassio Jagos Verstellung nicht
bemerkt, seinem Gesang und seinen Worten traut, so erhält der Rezipient durch Verdis
Orchesterführung einen Wissensvorsprung. Besonderes deutlich wird Jagos Intrigentätigkeit,
wenn er Cassio mit einem süßlichen „Vanne" aus dem Dialog entlässt und dieses mit einem
diabolischen Unterton, nach dem Abgang Cassios und einer Überleitung in der Jagos
Triolenmotiv achtmal hintereinander gereiht, als in exponierter Verdichtung hervortritt, noch
einmal wiederholt. Er erscheint nun als Unmensch, fast einwenig diabolisch, wenngleich man
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aus der disposizione scenica entnehmen kann, daß Jago zwar der personifizierte Neid, ein
notorischer Bösewicht und intellektueller Kritiker sei, aber dennoch ein Mensch. Ein
ruchloser Mensch, aber kein Dämon.
Dass die fürsorglichen Empfehlungen, welche er Cassio zuvor gegeben hat, geheuchelt waren,
wird somit durch die Komposition Verdis deutlich.
IV Jagos Credo
Aber, wer ist Jago wirklich? Dies lässt sich anhand des Credos darstellen. Jago ist derjenige,
der die Fäden in der Hand hält, ununterbrochen die Netze webt, in denen seine Opfer sich
verstricken und zu Fall kommen. Sicher ist er daran interessiert auch selbst endlich Macht
auszuüben, die nicht alleine subversiv und unmerklich erscheint. Er will öffentlich als jener
Mensch anerkannt werden, als den er sich selbst sieht. Doch der Weg zu diesem Ziel ist einzig
über das Spinnen diverser Intrigen zu erreichen. Doch dies ist nicht die ganze Wahrheit, ist
nicht der ganze Jago. Problematischer Weise ist dies der augenfälligste Anteil des Charakters.
Boito konzipierte Jagos Credo, welches sich im Übrigen nicht im Otello Shakespeares findet,
strukturell und inhaltlich kongruent. Die Metrik unterstützt die Textaussage. Sie ist
gebrochen, findet kein einheitliches Versmaß. Einmal erscheinen endecasillabi, dann
settenari, ein anderes Mal quinari, ohne dass es dabei eine innere, übergreifende Ordnung
geben würde. Zudem zeigen sich diese, konventionell meist als Rezitativverse verwendeten
Silbenstrukturen, hier als versi lirici. Somit liefert Boito Verdi eine ausgezeichnete Vorlage
für die Kreation einer neuen musikalischen Form. Durch die gebrochene Metrik (metro rotto e
non simetrico) im gereimten Vers ist eine Arie ebenso wenig angelegt, wie ein Rezitativ. Die
Folge ist eine Destruktion der Arienform. Das gesamte Credo, dass sich im viermaligen
Ausrufen des „credo" gliedert, dem das jeweilige Bekenntnis folgt, und mit der nihilistischen
Conclusio: „La morte e nulla" schließt, schöpft sowohl aus dem deklamatorischen Potential
des Rezitativ, wie aus dem melodiösen Duktus der Arie. Jago wandelt sich also während er
sein Credo singt. Nach einer 4-taktigen rein orchestralen Einleitung in Oktavparallelen
rezitiert Jago die ersten Verse seines Credos. Angelehnt an die sakrale Deklamation des
christlichen Credos erhebt sich ein betender Ton über die reduzierte Orchesterbegleitung.
Allein die Exklamation „nomo" wird durch musikalisch rhetorische Mittel hervorgehoben.
Wie bei allen Troncoendungen im Credo wird der Text musikalisch ausgemalt (vgl.:
Wiederkehr der Credoeinleitung zu den Worten: „questa e la mia fé"; Hochton auf „Ciel").
Darauf folgt der zweite Teil der Credokomposition. Der Duktus dieses Teils ist ein gänzlich
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vom ersten verschiedener, Melodischer. Eine zweitaktige Orchestereinleitung, in welcher der
Triolenrhythmus erneut im vollen Orchester deklamiert wird. Darüber stürzen die Trompeten
in eindringlich hervorgehobenen Triolen über drei Oktaven in die Tiefe. Der Gesang nimmt
nun ariose Formen an, der teilweise im Unisono mit dem Orchester erklingt. Dies ist ein
Auffälligkeit, die ihre Bestätigung und Begründung im Text Boitos findet. Die Thematik
wandelt sich zum rein subjektiven Bekenntnis Jagos. Der Leser wird in die Gefühlswelt Jagos
hineingezogen. Der Text zentriert nicht mehr den grausamen Gott, sondern Jago als
Individuum. Ein kollektives Glaubensbekenntnis wird zum Ausdruck subjektiv individueller
Empfindung. Der Charakter Jagos scheint sich also nicht auf einen einzigen Zug festlegen zu
lassen. Jago weist divergente Charakterzüge auf. Er ist ein gemischter Charakter ganz im
Sinne Shakespeares. Er ist Mensch, Unmensch zwar, aber kein Dämon. Die Motive seines
eben solchen Handelns liegen zum einen in seiner beruflichen Zurücksetzung hinter Cassio,
der zum Hauptmann befördert worden war, zum anderen in seinem Verdacht Otello habe mit
seiner Frau Emilia Ehebruch begangen. Dies alleine kann aber sein unmenschliches Verhalten
nicht begründen. Die dunkle Seite ist ein grundlegender Charakterzug seiner selbst. Doch aus
welchen Erlebnissen zieht Jago seine Selbstbestätigungen? Berufliche Erfolge erzielt er nicht
in jenem Maße, welches ihn in sich selbst ruhen ließe. Auch seine Ehe mit Emilia bietet
keinen Anlass zu Stolz und Bestätigung, denn Eifersucht und Misstauen prägen ihre
Beziehung. Somit ist Jago private und berufliche Bestätigung gleichfalls versagt. Er neidet
folglich allen ihn umgebenden Menschen eine solche Bestätigung. Aus diesem Grund spinnt
er Intrigen. Diese ermöglichen ihm Macht über Menschen auszuüben, die aus Sicht des
privaten und beruflichen Erfolgs, ebenso wie in der Beurteilung der individuellen
Zufriedenheit, deutlich über Jago stehen. Ihn aber als das Böse, über alles waltende Prinzip zu
betrachten, wäre falsch, denn dies würde missachten, dass der Intrigant gleichfalls nur in
Abhängigkeit von seinen Opfern existieren kann. Stirbt das Opfer, kann Jago aus ihm kein
eigenes Leben mehr ziehen, ist auch er nichts – „nulla". Ein böser Gott, ein böses Prinzip
aber, so wie Jago hier von Karajan dargestellt wird, ist gerade dadurch ausgezeichnet, dass es
nicht bedingt ist, sondern bedingt. Es ist prima causa für alles Seiende. Genau dies ist aber
Jago nicht. Er steht eingebunden in die Kausalkette, er kann sich nicht selbst in Existenz
setzen und nicht selbst in Existenz erhalten. Jago ist ein komplexer, menschlicher Charakter.
Die Musik Verdis und der Text Boitos bieten die Grundlage für eine ausdifferenzierte
szenische Anlage. An Jago darf und muss nichts künstlich und aufgesetzt wirken. Sein
natürlicher Charme, seine Fähigkeit menschliche Reaktionen vorherzuahnen, seine
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persuativen Fähigkeiten sind natürliches Potential, welches auch auf der Bühne überzeugend
und ungekünstelt zu wirken vermag.
So ist auch das höhnische Gelächter, welches sich an Jagos Monolog anschließt durchaus
ambivalent zu deuten. Verlacht er hier in teuflischer Manier die Welt oder ist dies ein Lachen,
das gegen die Angst gesetzt wird? Ein Lachen, wie das fröhliche Pfeifen im dunklen Wald,
das vorgibt zu sein, was es nicht ist? Wahrscheinlich liegt auch hier die Wahrheit in einem
behutsamen Abwägen beider Möglichkeiten.
Nachdem so der Charakter Jagos näher umrissen ist, scheint auch seine Verstellung in der
nachfolgenden dritten Szene wenig zu erstaunen. Otello, der für Jago unvermutet auftritt, sieht
gerade noch, wie Cassio sich im Hintergrund von seiner Frau Desdemona verabschiedet. Er
ist zunächst unsicher, ob er seiner Beobachtung trauen darf und fragt Jago um die
Verifizierung dieses Faktums. Jago nutzt die Situation um seine Intrige einzuleiten und
Otellos Wut gegen Casssio noch zu schärfen, indem er andeutet, daß Cassio heimlich in
Desdemona verliebt sei. Dadurch, daß er sich einer genauen Explikation entzieht, weckt er
gerade das Interesse Otellos. Er repetiert die Worte Otellos und schürt so dessen Wut. Verdi
lässt Jago die Melodielinien Otellos übernehmen und zeigt so gleichsam den biegsamen
Charakter Jagos, der es ihm ermöglicht in jeder Situation scheinbar ehrlich und authentisch zu
wirken. Außerdem weiß Jago um die Wirkmächtigkeit seines Tuns. Er liest in Otellos
Charakterdisposition, wie in einem offenen Buch. Ihm ist bewusst, daß Otello wütend auf eine
ausweichende Haltung seinerseits reagieren wird. Jago schürt diese Wut bewusst, um sie
schließlich auf Cassio zu münzen. Otellos Wut setzt Verdi in eindringlicher Weise in Musik.
Im Unisono mit dem Orchester, in aufsteigender Linie von Achtelnoten, die Härte und
Akzentuierung durch die Szforzati Akzente erhalten, deklamiert er seinen Zorn über das Echo
Jagos. Das Schweigen Jagos schient Otello, als verheimliche dieser ihm relevante
Informationen und dies gerade ist Jagos Intention. Jago nutzt die Gunst der Stunde, um das
Netz um Otello zu spinnen. Wiederum deutet er nur an, was er denkt, doch es genügt um
Otello in die gewünschte Richtung zu lenken, in ihn die Eifersucht zu führen. In triolischer
Bewegung schwingt sich Jago auf, um Otello vor der Eifersucht zu waren. Im Unisono mit
dem Orchester warnt Jago Otello vor den Folgen der Eifersucht. Die Eifersucht sei eine
„blinde Hydra". Diese zeigt sich in der Vertonung Verdis in Form von chromatischen
Skalenausschnitten, die auf die exponierte Warnung folgen und in der Chromatik, welche die
Melodielinie bei der Jagos bei „gelosia" beschreibt. Schon lodert die Flamme der Eifersucht
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V Der Huldigungschor
Ein letztes Mal jedoch gelingt es die Wut Otellos gegenüber Desdemona zu beschwichtigen.
In der nun anschließenden Huldigungsszene erscheint Desdemona als reine Unschuld, deren
Wirkung sich auch Otello nicht entziehen kann. Otello ist gefangen zwischen den
Antagonismen, zwischen Jago und Desdemona, zwischen Schuld und Unschuld, Böse und
Gut, Falschheit und Wahrheit. Noch ist er hin und her gerissen kann nicht glauben, daß
Desdemona ihn mit Cassio betrügen könnte, doch sind Angst und Außenseitertum in Otello so
verwurzelt, daß er allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz der Intrige Jagos unterliegt.
Während der Chor im Hintergrund schon das Lob auf Desdemona singt (in settenari lirici),
wirkt Jago noch persuativ auf Otello ein. Unter den lyrischen Huldigungschor legt sich ein
Parlando im verso alessandrino. Jagos Aufforderung an Otello wachsam zu sein („vigilate")
setzt sich als disparates Element gegen das Erscheinen der reinen Desdemona. So schafft
Verdi erneut ein Plateau, indem die divergierenden Momente zusammenstoßen. Bringt in das
kontemplative Bild der Huldigung ein Handlungsmoment ein, daß in Versmaß, Artikulation
und Vortragsstil gänzlich konträr erscheint. Nachdem Jagos Parlando verstummt ist, gibt
Verdi dem kontemplativen Bild Raum zur Entwicklung. Vermittels einer wiegenden
Einleitung durch die Streicher wird der Huldigungschor als Baccarole vorgestellt, die
venezianisches Lokalkolorit einbringt. Verdi verdeutlicht somit nicht nur die Herkunft
Desdemonas, sondern zeigt zudem, daß er ein besonderes Gespür für Personen und
Situationen hat. Das Volk singt ein Volkslied. Die einfache Struktur ist dem hohen Stil der
solistischen Teile entgegengesetzt. Die einfach, meist homophone Artikulation setzt das Volk
von den Herrschern ab. Schließlich wird der Chor nur noch durch Mandolinen und Gitarren
begleitet, so daß sich zu der volkstümlichen Artikulation auch die volktümlichen Instrumente
gesellen. Die Kinder, welche schließlich ihren Lobpreis auf Desdemona erheben, sind textlich
und musikalisch vom Chor der Erwachsen isoliert. In ihrer Melodieführung herrscht die reine
„purezza", die Reinheit und Unschuld vor. Sie beten die Madonna an. Somit ist Desdemona
als Ebenbild der Jungfrau Maria gesetzt. Diese steht im Kontrast zu Otellos Wut und rasender
Eifersucht. Schließlich stimmt auch Desdemona in den Gesang ein. Sie übernimmt die
Melodielinie des Volkes. Dies ist Zeichen für ihre eigene Reinheit und ihre wahre Zuneigung
zum Volk, ihre Identifikation mit den Menschen, die ihr Huldigen. Im gemeinsamen Gesang
mit ihnen würdigt sie diese als Gleichgesinnte, stellt sich nicht über sie, indem sie eine neue
hochartifizielle Melodielinie einbringt oder sich metrisch abhebt. Das subversive Element tritt
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durch Jagos Parlando in endecasillabi jedoch schon bald wieder störend hinzu. Otello, der
ebenfalls im Parlando einfällt, hingegen zeigt sich wieder in Desdemonas Bann gezogen.
VI Desdemonas Verzeihensbitte und der Beginn der „Fazzoletto-Intige"
Doch die Idylle zeigt sich als nicht allzu beständig, denn nachdem die Menge sich entfernt
hat, tritt Desdemona auf Otello zu, um bei ihm für Cassio zu bitten. Dieser Bitte wird von
Otello mit kurzen Einwürfen („Non ora!") begegnet. Während Desdemona ihr Anliegen in
lyrischer Gesangslinie vorträgt, kocht in Otello die Wut empor. In kurzen, aber
emotionsgeladenen Einwürfen wird dies in Verdis Komposition deutlich. Diese Einwürfe
werden immer heftiger.Desdemona versteht die Situation nicht und lässt daher nicht von
ihrem Bitten ab. Die Musik wird bewegter, Verdi fordert: „Lo stesso movimento". Otello
erhitzt sich über die Situation so sehr, daß er von Desdemona ein Taschentuch zum abreiben
seiner Stirn fordert, welches sie ihm sogleich reicht. Im Unisono mit dem Orchester bietet sie
ihm an seine Stirn mit dem Taschentuch abzutupfen, doch Otello wirft das Taschentuch in
rasender Wut zu Boden und herrscht Desdemona rau an ihn zu in Ruhe zu lassen („Mi
lascia!"). Dieser Aufforderung hat Verdi im Orchester Marcato-Akkorde zugeordnet. Aus
dieser Konfiguration entwickelt sich nun ein Quartett, durch welches die Taschentuchintrige
initiiert wird. Die Gesangslinien des Quartetts überlagern sich gegenseitig. Die Interessen
aller Beteiligten sind divergent. Dies äußert sich auch in der metrischen und musikalischen
Desdemona initiiert das Quartett, indem sie Otello bittet ihr das „süße und frohe Wort des
Verzeihens" zu gewähren. Boito verfasst dies in settenari lirici. Die Melodie ist weit
schwingend und lyrisch. Zunächst im Unisono mit dem Orchester. Dann fällt Otello ein. Auch
er erhält von Boito einen Reim in settenari lirici. Damit zeigt sich die Zusammengehörigkeit
von Otello und Desdemona innerhalb des Quartetts. Wenngleich der Inhalt von Otellos Rede,
der quasi per se für sich das „Geschehene" reflektiert, von Desdemonas Verzeihensbitte
abgehoben ist. Er seniert was Desdemona dazu geführt haben könnte sich in Cassio zu
verlieben. Sein Alter, die Verlockungen der Liebe? Sicher aber ist ihm, daß das Ende der
Liebe zwischen ihm und Desdemona bedeutet, daß sie verloren und er dem Spott ausgeliefert
ist. Auch ihm ordnet Verdi teilweise lyrische Linien zu. Demgegenüber stehen Jago und seine
Frau Emilia, die sich in quinari um das von Emilia an sich genommene Taschentuch
Desdemonas streiten. Die von Boito vorgegebene quinari, ein vormals für das Rezitativ
gebräuchlicher Vers, ermöglicht Verdi die Umsetzung ihrer Auseinandersetzung im Parlando.
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Der kontemplativen Bitte Desdemonas und der gleichfalls kontemplativen Reflexion Otellos
stehen somit die handlungstragenden Rezitativverse von Jago und Emilia entgegen. Somit
durchbricht Verdi erneut die konventionelle Form. Das Quartett ist nicht rein betrachtender
Natur, sondern verbindet sich mit Momenten, die die Handlung vorantreiben. Das
„kontemplative Ensemble" ist durch ein „dramaturgisch zwingendes Ensemble" abgelöst
worden. Im Streit mit seiner Frau gelingt es Jago schließlich diese einzuschüchtern und ihr
das Taschentuch gewaltsam zu entreißen. Das Quartett endet mit einem Orchesterzitat von
Desdemonas Melodie, die es vormals initiierte. Desdemona bittet noch einmal um Verzeihung
und das Orchester hat mitleid und tut es ihr gleich. Noch einmal tritt ihre engelsgleiche
Melodie in den Mittelpunkt, welche von der chromatisch verzerrten Tenorstimme in der
Schlusswendung überlagert worden war. Dies jedoch kann Otello nicht erweichen. Er
deklamiert einsilbig allein sein zu wollen. Anstatt auf die Verzeihensbitte Desdemonas zu
reagieren, reflektiert er die Situation auf sich selbst. Dies ist, so Max Frisch „Ausdruck seiner
Mohrenangst", seines Außenseitertums. Auch in der musikalischen Gestaltung zeigt sich die
Verstrickung zwischen den zwei Prinzipien Desdemona und Jago. Während die Streicher
Desdemona im Quartett zugeordnet sind, fühlen die Holzbläser mit Jago.
Otello und Jago bleiben auf der Bühne zurück, um getrennt von einander den Stand der Dinge
zu resümieren. Otello kann nicht fassen, daß Desdemona ihm untreu war, während Jago
zufrieden feststellt, daß sein Gift die gewünschte Wirkung tut. In einem typischen intriganten
Triolenlauf wendet sich Jago noch einmal an Otello, dieser jedoch schickt auch ihn fort, um
sich von seinem Heldentum zu verabschieden.
VII Ora e per sempre addio sante memorie
In Otellos heldenhaftem C-Dur erstrahlt das nachfolgende "accompagnato Rezitativ", welches
seine „Arietta" einleitet. Auch hier kann man nicht von einer konventionellen Form sprechen.
Vielmehr scheint diese Arietta einleitend zu einem weitgespannten Schlussduett zwischen
Jago und Otello zu geraten, denn schließlich kehren beide im abschließenden Duett zu Otellos
Abschiedsgesang zurück, so daß eine grobe ABA´ Form entsteht. Im Accompagnatoteil
erhebt sich seine Klage, nach der Modulation nach As-Dur, über Orchestertremolo und eine
schleichende Melodie in den tiefen Streichern und Bläsern – die Vorbereitung auf den
Abschiedsgesang Otellos, der wie ein Kampflied anmutet und Otello zum letzten Mal rein
diatonisch singen lässt. Über der von den Celli geschaffenen Sturmatmosphäre erhebt sich
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eine Melodie, die an ein militärisches Aufbruchslied gemahnt. Auch treten Remisessenzen an
das Liebesduett des 1.Aktes auf. Die Das subversive Element der Triolen wird zum
gestaltgebenden Element. Mag der triolische Rhythmus zwar zunächst von Jago besetzt
erscheinen, so zeigt sich doch im Verlauf dieser Cavatina, daß die Triolen gerade den
militärischen Duktus untersteichen. Das Einfallen der Blechbläser unterstreicht diesen
Charakter. Die Eindringlichkeit dieses Abgesangs wird durch die Forderung des sempre
Crescendo und den sich bis zum h´´ steigernden Ambitus unterstützt. So steht am Ende der
Cavatina in exponierter Lage die Aussage „Della Gloria d´Otello è questo il fin". Hier spricht
Otello zum ersten Mal von sich in der dritten Person. Der Prozeß der Selbstentfremdung des
Helden hat begonnen. Jagos Gift wirkt. Zudem wird durch den Abgesang auf die heilige
Erinnerung wiederum die Liebe zu Desdemona mit dem militärisch beruflichen Bereich
verquickt. Der militärische Duktus tritt zu einer Textdimension, die eine solche
Melodieführung nicht intendiert. Verdi verdeutlicht durch eine solche Kompositionsweise,
wie der Charakter Otellos zu lesen ist.
Während nun die Cellolinie fortgesponnen und so zum Grund des folgenden Dialogs mit
Jago, der als recitativo accompagnato erscheint. Die Aufgewühlte Begleitung steht im
Kontrast zu der sich kaum entwickelnden rezitativischen Linie. Dies verdeutlicht die
Erstarrung Otellos. Er ist nicht Herr der Situation. Die Begleitung gewährt einen Einblick in
das Innenleben Otellos. Otellos Wut richtet sich nun auch gegen Jago, der ihm bisher noch
keinen sicheren Beweiß für seine Vermutungen beibringen konnte. Er greift Jago und stürzt
ihn zu Boden. Onomatopoetisch findet sich diese Struktur im Orchester wieder, welches
ebenfalls gen Boden sinkt. Jago fasst sich wieder, steht auf, auch dies onomatopoetisch vom
Orchester begleitet. Otello fordert Gewissheit der Anklage. Diese soll er erhalten, durch Jagos
Traumerzählung.
VIII Die Traumerzählung
Zur Einleitung der Traumerzählung erklingt wieder das solistische Fagott mit dem typischen
Jago-Triller. Die Traumerzählung selbst, mit der Jago beabsichtigt, Otello entgültig von
Desdemonas Schuld zu überzeugen (was ihm auch gelingt), fasst Verdi in einen „Siciliano"
dessen tänzerische Schlichtheit einerseits das erzählerische Moment betont, andererseits zu
der Erregung Otellos einen ironischen Kontrast bildet und Jagos Intriganz durch seine völlige
Ruhe noch stärker hervorhebt. Die engstufige Melodik, mit der die Erzählung beginnt,
verdichtet sich schließlich zur Chromatik. Die nächtliche Ruhe verbreitet sich aber nicht nur
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in der Melodieführung, sondern auch in der Dynamikforderung des Pianobereichs. Otello ist
in den Bann gezogen. Dies wird vor allem auch in der Kompositionsstuktur sichtbar. War die
Melodik Otellos zuvor von weiten Melodiebögen geprägt, die im Kontrast zur melodischen
Struktur Jagos standen, so treten die musikalischen Formeln Jagos in den Sprachduktus
Otellos ein: Die strufenweise, vielfach chromatische Melodik, Dreierrhythmen, Vorschläge,
Oktaven in den Bässen. So mündet der 2. Akt schließlich im Racheschwur Otellos.
Der Racheschwur ist in sich dreiteilig. Otello gibt die melodische Formel des Schwurs vor,
welche von Jago angenommen und nachgesungen wird. Schließlich bekennen sie sich
gemeinschaftlich zum Vollzug der Rache. Die Melodie ist an Otellos „Ora e per sempre
addio" angelehnt und schlägt so einen Bogen um das als Einheit angelegte „Duett". Otellos
Tun und Denken ist ganz von Jagos Intrige durchzogen. Triolische Strukturen, Chromatik und
punktierte Rhythmik, wohin man blickt. Der Verfall des Helden hat begonnen.
IX Der 3. Akt
Gleich nach der Introduktion zum 3. Akt erscheint der Herold, die Ankunft der
venezianischen Gesandten an. Zudem erklingen im Hintergrund Trompeten und
Kanonensignale als Zeichen der offiziellen Seite. Verdi und Boito verlegen die Trompeten
und Kanonensignale überlegter Weise hinter die Szene. Dies ermöglicht die Konzentration
des Rezipienten auf die im Zentrum der Bühne agierenden Charaktere und zentriert deren
Reaktion auf den „colpo di scena", nicht aber diesen selbst. Im Hintergrund nähren sich die
Signale der offiziellen Gesandtschaft unaufhaltsam. Der 3. Akt ist so im Gesamten geprägt
von der Divergenz zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre.
X Das zweite „Liebesduett"
Doch zunächst wird dem Rezipienten verdeutlicht, wie sich die Liebe zwischen Otello und
Desdemona gewandelt hat. Beginnt ihr Dialog mit einem lyrischen Thema in den Streichern,
welches in E-Dur steht und während des gesamten Dialogs präsent bleibt, so zeigt sich
dennoch, daß diese Liebe bereits in ihren Grundfesten erschüttert ist. Verdi komponiert auch
hier wieder ein Duett, welches von der konventionellen Solita Forma abstrahiert. Die
Tatsache, daß Verdi keine formale Geschlossenheit etabliert, wirft erneut ein zweifelnd
reflektierendes Licht auf die Beziehung zwischen Desdemona und Otello. Rankt sich das
Gespräch auf Seiten Desdemonas vorgeblich um ein obsessives Insistieren auf Cassios
Begnadigung, drängt Otello Desdemona auf das Vorzeigen des Taschentuchs. Der Konflikt
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der sich aus den divergenten Positionen entwickelt ist schärfer und damit auch existentieller
als bei Shakespeare. Dies ermöglicht eine bessere Komponierbarkeit. Zudem zeigt sich in der
Auseinandersetzung die tieferliegende Fremdheit zwischen Desdemona und Otello. Es geht
im Wesentlichen nicht mehr um das Taschentuch und sein Vorhandensein, sondern um das
Grundsätzliche Misstrauen, welches Otello Desdemona entgegen bringt und welchem sie sich
nicht zu entziehen vermag. Doch wie zeigen sich diese divergenten Positionen musikalisch?
Zunächst scheint die Liebe zwischen Otello und Desdemona noch einmal von jenem fernen
Glanz zu kosten, der sich in der Erinnerung an die vergangenen Zeiten im „Liebesduett" des
1. Aktes gezeigt hatte. In E-Dur, eingeleitet von den innig lyrischen Streichertakten entwickelt
sich zunächst ein musikalische Situation, die einem Liebesduett angemessen erscheint. Mit
Desdemonas erneuter Bitte für Cassio jedoch wandelt sich die Atmosphäre. Harmonisch
wechselt Verdi nach C-Dur, metrisch in ein Allegro agitato. In Aufgewühlten
Sechzehntelläufen werden nun die divergenten Forderungen Desdemonas und Otellos vom
Orchester begleitet. Schon der Name Cassios lässt in Otello die Wut wieder emporsteigen.
Ihm wird die vermeintliche Untreue Desdemonas bewusst und er erinnert, daß er noch immer
auf der Suche nach Beweisen für ihre Untreue ist, die stichhaltig sind. Nun will er sie
überführen und fordert das Taschentuch von ihr. Um die Situation noch eindringlicher zu
gestalten und Desdemona gänzlich von ihrer Verfehlung zu überzeugen, beginnt Otello die
Geschichte über die Zauberkraft jenes Taschentuchs zu erzählen. Das Taschentuch zu
verlegen oder zu verschenke bedeute, so Otello, schlimmes Unglück. Diese Erzählung
unterlegt Verdi mit Chromatischen Skalenausschnitten und diabolischen Vorschlagnoten, die
an Jagos Artikulation gemahnen. Es ist nicht mehr Otello selbst der hier spricht. Er blickt
bereits durch die Augen Jagos, folgt der Intrige, verliert sich in den Fängen Jagos. Das
Taschentuch aber hat tatsächlich eine magische Wirkung. Nicht auf Desdemona, sondern auf
Otello, denn er ist es, den es zu blinder Eifersucht führt. Die von Jago auf das Taschentuch
übertragene „Zauberkraft" führt zur Destruktion Otellos. So kommt es zur
Auseinandersetzung zwischen Otello und Desdemona, welche negiert das Taschtuch verloren
zu haben und verspricht es wieder aufzutun. Doch das „Liebesduett" gerät zur rasenden
Eifersuchtsszene Otellos. Die Auseinandersetzung ist begleitet von chromatischen Skalen, die
sich nach der Verfluchung Desdemonas durch Otello noch über drei Takte hinweg fortsetzten.
Dann erstirbt das Orchester und Desdemona beginnt ihre erschütterte Reflexion, die sich über
Streicherstaccati im Fanfahrenrhythmus erhebt. Der Fanfahrenrhythmus gemahnt an Otello
und an sein militärische Heldentum. Desdemonas Erstarrung über Otellos Anklage ist deutlich
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aus der musikalischen Struktur abzulesen. Ihre Äußerungen sind zunächst nur Tonrepetitionen
auf einer Tonhöhe. Nach und nach befreit sie sich von den erschütternden Anklagen und
beginnt in ihren typischen weitgespannten, lyrischen Melodiebögen eine Bitte für sich zu
entfalten, die sie an den wütenden Otello richtet. Doch Otello vermag sie nicht zu erweichen,
die chromatischen Skalen drücken dies aus. Desdemona bäumt sich ein letztes Mal auf
nachdem Otello sie als „Hure" beschimpft hat. Die reine Desdemona, die in der
Huldigungsszene der heiligen Jungfrau Maria gleich gesetzt wurde ist in ihrem ganzen Selbst
erschüttert von einer solchen Anklage. So schwingt sie sich bis zum b´´ auf, um ihre
unaussprechliche Verletztheit zum Ausdruck zu bringen. Otello aber hört ihr flehen nicht als
wahrhafte Bitte. Ihre Beteuerungen lassen ihn nur umso mehr an Desdemonas Untugend und
ihre Verstellung glauben. So entschließt er sich auch zum Schauspieler zu werden. Er schließt
das Duett, indem er Desdemonas Melodielinie vom Beginn aufnimmt. Unterlegt von der innig
lyrischen Streicherbegleitung, doch durchsetzt mit den chromatisch intriganten Zügen Jagos
scheint die ironische Brechung hervor. Auch sind in der Melodieführung signifikante
Abweichungen zu finden. Otello verhöhnt Desdemona. Dies wird dieser selbst jedoch erst
bewusst als Otello sie am Ende seiner Äußerung noch einmal als „Hure" beschimpft, „welche
die Frau Otellos ist". Er schickt Desdemona unter der Begleitung des Aufgewühlten
Orchesters hinaus, verbleibt selbst aber an Ort und Stelle, um seine Situation zu reflektieren.
XI Dio! Mi portrai.
Von außen lässt Verdi erneut die Trompeten erklingen, die ankündigen, daß der privaten
Destruktion Otellos bald die öffentliche folgen wird. Der verblendete und erschütterte Otello
reflektiert seine Situation in zweistrophigen „Arie", die aus sich regelmäßig abwechselnden
Versarten zusammengesetzt ist. Es ist Otellos zweite Soloszene, die sich in der Oper neben
„ora e per sempre addio" findet. Im Stil eines Accompagnato Rezitativs beginnt Otello. Seine
Stimme erhebt sich nur gebrochen, in einer mit Pausen durchsetzten Melodieführung. Der
Zusammenhalt wird nur durch den triolischen Untergrund im Orchester hergestellt. Verdi
fordert zudem PPP und voce soffocata (gebrochene Stimme). Erst vier Takte vor Ende der
ersten Strophe gelingt eine Wendung nach Es-Dur, die gleichzeitig ein Übergehen in einen
melodischeren Duktus ermöglicht. So zeigen sich in der zweiten Strophe weiter gespannte
Melodiebögen, das Orchester hingegen verringert seine Aktivität und mutet gleich einer
rezitativischen Begleitung an. Mit Otellos Rückfall in die Tonrepetitionen übernimmt dann
das Orchester erneut die melodische Gestaltung.
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XII Das Spinngewebe
Um diesem gebrochenen Helden den Todesstoß zu versetzen bedarf es nun freilich keiner
großen Kunst mehr. Jago kann sein Intrigenspiel frei entfalten und das Gift wirken lassen. So
gelingt es ihm Otello ein Gespräch belauschen zu lassen, welches er –Jago- mit Cassio führt.
Dabei gelingt es ihm das Taschentuch in Cassios Händen erscheinen zu lassen und zum
Schein ein Gespräch über Desdemona zu entwickeln, welches jedoch Wirklichkeit auf Jagos
Geliebte Bianca bezogen ist. Neben den typischen Merkmalen Jagos, die sich in Melodie und
Orchesterführung offenbaren, werden die Schlüsselstellen durch ein Marcatospiel im
Orchester und Vorschläge unterstützt. Jagos Ausführungen über das Feingewebte
Taschentuch, welche im Unisono mit dem Orchester erklingt. Die beschwingten, leichten
Linie zeigen erneut Jagos persuative Fähigkeiten. Vermittels leichter, melodischer Linien
vermag er seine Opfer in einem feinen Intrigengewebe gefangen zu nehmen. Das feine
Gewebe des Taschentuchs gleicht dem eines Spinnengewebes. Es gleicht den feinen
Umwebungen, mit dem Jago seine Oper in süßlichen, leicht anmutenden Melodien für sich
einnimmt. Diese leichten Linien setzten sich im Orchester fort, während man im Hintergrund
die murmelnden Stimmen Jagos und Cassios vernehmen kann. Otellos Leiden scheint im
gesamten Dialog zwischen Jago und Cassio im Kontrast zum leichten Konversationsstil zu
stehen. Otellos immer heftiger werdende Ausbrüche wirken auf dem Hintergrund der
zynischen Gesprächssituation fast komisch, zumindest unverhältnismäßig übertrieben. Sie
wurden von Verdi/Boito eigens hinzugefügt, finden also kein Vorbild bei Shakespeare. Auch
hier ist der Grund wohl wieder in der Bühenwirksamkeit und in der Kontrastierung der
Charaktäre zu suchen. Der zynische Trick Jagos erscheint somit in direktem Zusammenhang
zu Otellos existentiellem Zusammenbruch.
XIII Das Finale
Schließlich erschallen die Trompeten als Ankündigung der venezianischen Gesandten erneut
und Jago und Cassio unterbrechen, folgend auf diesen „colpo di scena", ihr Gespräch. Dies
öffentliche Sphäre dringt also langsam und schleichend in die private Sphäre der
Dialogisierenden ein, die sich noch im geschlossenen Raum befinden. Dem Rezipienten wird
so die notwendige Zeit gegeben zu begreifen, was der Einbruch der öffentlichen Sphäre für
die nachfolgende Szene zu bedeuten hat. Verdi legt das Finale des 3. Aktes so an, dass der
Zuhörer geschickt vom privaten bis zum öffentlichen Zusammenbruch Otellos geführt wird.
ESSAY ZUR ANALYSE VON VERDIS OTELLO - JANINE CHRISTGEN
Darauf folgt der kurze Dialog Jagos mit Otello, in dem Otello zugibt nun, rekurrierend auf das
belauschte, vorhergehende Gespräch Jaogos mit Cassio, endgültig von der Schuld
Desdemonas überzeugt zu sein und diese für ihr Vergehen büßen zu lassen. Otello erscheint
voll überschäumender Wut und Verzweiflung. Sicherlich muß sich hier der erste Schritt zu
Otellos Zusammenbruch, die Vernichtung des privaten Glücks, im Bühnengeschehen
visualisieren, dennoch ist es weniger die Verzweiflung, die Otello in diesem Moment
anzusehen sein sollte, als seine Wut über Desdemona, die seine Autorität und seinen Stolz in
Frage zu stellen scheint. Ein verzweifelter oder mitleidender Charakter wäre an dieser Stelle
nicht fähig mit Jago über Mordpläne zu beratschlagen. Statt überschwängliche, übertriebene
sentimentale Gefühle auf die Bühne zu bringen, sollte sich Karajan auf die genaue
Charakterzeichnung konzentrieren. Was bewegt Otello zu seiner Handlung? Wie hat sich
seine persönliche Disposition unter dem Einfluss Jagos gewandelt? Hier wird der Zerfall eines
vormaligen Helden gezeigt. Der Entfremdungsprozess eines dezentrierten Subjekts. Jago hat
Otello dazu geführt die Außenwelt mit Projektionen zu überziehen. Was Otello sieht ist nicht
die Realität, es ist Projektion – Blendung. Wenn aber ein Individuum der Welt in einem
solchen Verhältnis gegenüber steht, ist es nicht mehr zur Selbstreflexion fähig. Im Hegelschen
Sinn erfährt das Individuum die eigene Subjektstruktur im Durchgang durch die Negativität,
die Entäußerung seiner Selbst. Das Subjekt erfasst sich, indem es die Differenz zur Außenwelt
als seine Entgegensetzung, seine eigene Negativität erfährt. Ist diese Außenwelt aber mit
falschen Projektionen überzogen, so kann auch das Reflexionsverhältnis keine Bestätigung
der Subjektstruktur hervorbringen. Dies führt zur Dezentrierung und Entfremdung. Otellos
Handeln ist folglich auf diese Selbstentfremdung zurückzuführen. Woraus aber resultiert diese
Verblendung Otellos? Ist sie einzig von dem Intrigantentum Jagos abhängig? Dies ist mit
Sicherheit zu negieren. Jagos Intrigen könnten nicht greifen, gäbe es nicht charakterliche
Dispositionen Otellos, die durch die von Jago herbeigeführten Situationen angesprochen
wurden. Diese liegen teilweise in seiner Außenseiterposition begründet. Otello der Schwarze.
Seine berufliche Position resultiert sicherlich nicht aus gesellschaftlichem Ansehen, sondern
ist Ergebnis seiner erzielten Erfolge. Ihm ist bewusst, dass militärische Misserfolge für ihn
schneller zur Degradierung führen können, als dies möglicherweise bei Weißen der Fall sein
würde. Auch seine Frau Desdemona hätte einen Mann ihres „Standes" heiraten können. In
Otello existieren all diese Gefühle der Minderwertigkeit, die er durch militärische Erfolge und
öffentliche Präsentation seines privaten Glücks zu unterdrücken sucht. Jago aber weiß um
Otellos Disposition und nutzt diesen Einblick in Otellos Innenleben in geschickter Weise.
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Somit kann festgehalten werden, dass auch Otello ein gemischter Charakter im Sinne
Shakespeares/Lessings ist. Das bedeutet, dass auch er nicht charakterlich eindeutig positiv
oder negativ zu bewerten ist. Otellos Charakter ist als grundsätzlich positiv determiniert, doch
ist Otello auch nicht das unschuldige Opfer Jagos, als welches ihn Karajan in seiner
Interpretation gerne vorstellen möchte. Doch die Gründe seines Scheiterns sind
nachvollziehbar. Die Affekte, die seinen Zusammenbruch auslösen, lassen sich klar
ausdifferenzieren. Dies führt dazu, dass das Publikum Mitleid entwickelt, sich mit der Figur
und ihren Handlungen identifizieren kann. Die Korrespondenz zwischen Boito und Verdi
zeigt, dass beide eine Oper im Geiste Shakespeares schaffen wollten. Diese Konzeption steht
in einem notwendigen Zusammenhang mit der bei Lessing, in Adaption zur Shakespearischen
Dramenkonzeption, zu findenden Forderung nach gemischten Charakteren, die dem Kriterium
der Natürlichkeit zu unterstehen haben. Karajan aber scheint sich nur an der Bemerkung
Verdis zu orientieren, in der dieser feststellt, dass man wohl in der Welt keinen Charakter
fände, der so böse wie Jago oder so engelgleich wie Desdemona sei. Dies geht in eins mit der
Aussage Verdis: „Die Wahrheit erfinden ist besser". Die Kontraste verschärfen aber heißt
nicht die Charaktere zu vereindeutlichen. Dies kann man Boitos „disposizione scenica" in
eindringlicher Weise entnehmen. Desdemona ist folglich nicht charakterflach, ist nicht die
Inkarnation des holden, blonden, unterwürfigen Engels.
Sobald Otello, der gerade noch als gebrochener Charakter erschien, erneut die
Trompetensignale und den Einzug der venezianischen Gesandten vernimmt, kehrt er zu altem
Selbstbewusstsein zurück. Otello ist privat geschlagen und erniedrigt, aber seine öffentliche
Seite ist noch unbeschädigt. Er ist noch der gefeierte Held. Solange er militärische Erfolge
hat, ist auch sein privates Glück noch nicht vollständig vernichtet, denn Desdemona liebt ihn
aufgrund seines militärischen Heldentums. Die Bestätigung seiner öffentlichen Erfolge ist für
ihn daher lebens- und persönlichkeitserhaltend. Doch der öffentliche Zusammenbruch droht.
Die Gesandten erscheinen zusammen mit Edelleuten, Damen und Soldaten. Die Trompeten
im Hintergrund künden weiter offensiv vom Einbruch der öffentlichen Sphäre. Desdemona
erscheint gemeinsam mit Emilia und Jago. Lodovico übergibt Otello die Botschaft aus
Venedig. Während Otello das Dekret der Vernichtung seiner öffentlichen Persönlichkeit liest
und sich Lodovico mit Desdemona und Jago unterhält, finden sich immer wieder Einwürfe,
die Otello zu Desdemona spricht. Die Wut Otellos gegen Desdemona steigert sich schließlich
mit jeder Zeile, welche er dem Dekret entnimmt. Nach dem Erscheinen Jagos verliest Otello,
der noch immer erhöht steht, in sichtlich gefasster Professionalität das Schreiben.
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Otellos Wut greift um sich. Die ihn voller Mitleid anblickende Desdemona wird nicht gleich
von Otello zu Boden geschleudert. Zunächst deklamiert Otello die entscheidenden Worte: „a
terra e piangi". Es scheint fast als wolle er Desdemona auffordern seinen Worten zu folgen. Er
scheint zu warten, ob sie sich freiwillig gen Boden neigt. Als dies, verständlicher Weise nicht
eintrifft, packt Otello Desdemona und zwingt sie gen Boden. Otello ist zu diesem Zeitpunkt
auf dem Höhepunkt seiner Wut gegenüber Desdemona angelangt. Zurückhaltung ist hier nicht
mehr Otellos Stärke. Er ist verletzt, privat und öffentlich degradiert, erniedrigt. Sein Stolz ist
verletzt. private und öffentlich Sphäre haben sich nicht nur in dem Zusammentreten von
Desdemona und Lodovico, im Eindringen der Öffentlichkeit in die Festung und den
einbrechenden, beherrschen Trompetensignalen in die privaten Dialoge vermischt, denn
gerade in Desdemona tritt Otello seine öffentliche und private Vernichtung personifiziert vor
Augen. Sie hat, betrachtet man die Szenerie aus seiner Sichtweise, seine Liebe verraten.
Verraten an jenen Cassio, der nun seine offizielle Position übernehmen soll, an jenen Cassio
für den Desdemona noch vor Kurzem so flehentlich eingetreten ist. Cassio scheint Otello
sowohl öffentlich, wie privat im Folgenden substituieren zu wollen und dies alles erscheint
Otello in Abhängigkeit von seiner Frau Desdemona zu stehen. Er kann sich nicht mehr
beherrschen. In einem Ausbruch ungezügelter Demütigung wirft er Desdemona zu Boden.
Niemand der so geschlagen wurde wie Otello, würde zuerst eine Aufforderung ergehen
lassen. Er handelt im Affekt und kommentiert sein Handeln beiläufig.
Otello zwingt Desdemona schließlich zu Boden. Hierauf folgt die Reflexion Desdemonas.
Otello erkennt nach und nach auch seine eigene Schuld und lässt auf die Wut in seinem
Gesichtsausdruck Trauer und Verzweiflung folgen. Diese psychologisch zu verstehen. Wut
entspringt aus Angst, Angst vor dem Verlust seiner Identität, wenngleich er dieser bereits
zuvor, wenn auch für sich selbst unmerklich, entbehrte. Otello hat nun seine offizielle
Position verloren. Wie und wann er jedoch welche Form der Herrschaft einbüßt ist wiederum
diffiziler und daher im Weiteren noch zu erörtern. Nun tritt Otellos dunkle Seite zu Tage.
Das von Boito und Verdi so kunstvoll geschaffene Finale weißt Besonderheiten und
Neuerungen in der Finalkonzeption auf. Desemona am Boden liegend, im Kreis von den
betroffen Umherstehenden umringt. Um die Neuartigkeit des Finals Boitos und Verdis zu
verstehen ist ein Blick in die librettistische und musikalische Faktur ausschlaggebend. Boito
und Verdi legten dieses Finale als großes Tableau an. Hier sollen nicht nur, nach traditioneller
Finalkonzeption alle Handelnden auf der Bühne versammelt sein und in der klassischen
Weise des reflexiven „pezzo concertato" das Geschehene reflektieren. Zu dem statischen Bild
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sollten dynamische Handlungsmomente treten. Diese schufen Boito und Verdi durch die
Einfügung zweier Dialoge als dynamisch inhaltlich motivierte Prozesse. Zum einen handelt es
sich dabei um den Dialog Jagos mit Otello, indem es erneut um die Mordpläne -Desdemona
und Cassio betreffend- geht, und zum anderen um den Dialog Jagos mit Rodrigo, indem Jago
diesen zum Mord an Cassio anstiftet. Boito hebt das Betroffenheitsensemble unter der
Führung Desdemonas metrisch von den intriganten Handlungssträngen Jagos ab. Während
das Betroffenheitsensemble sich in gereimten settenari lyrisch aussingt, werden die Dialoge
in endecasillabi vorgetragen, die sich zwar ebenfalls als gereimte „versi lirici" zeigen, durch
ihr rezitativisches Versmaß aber bereits auf die deklamatorische Vertonung bei Verdi hin
konzipiert erschienen. Auf diese Weise entstehen zwei Ebenen. Eine reflexiv melodiöse und
eine progressiv deklamatorische. Der Chor folgt zwar inhaltlich dem Betroffenheitsensemble,
sympathisiert aber metrisch mit den gereimten endecasillabi der Dialogpartner. Leider macht
Karajan diese Konzeption nicht sichtbar, indem er beispielsweise die jeweiligen Dialogpartner
in den Mittelpunkt rückt. Ganz zu schweigen von den Konstellationen, die sich innerhalb des
Ensembles zwischenzeitlich ergeben. Der Zuschauer ist auf eine Visualisierung der
musikalischen Vorgänge angewiesen, da es ohne Partitur zur schieren Unmöglichkeit gerät,
der verwirrenden, kunstvollen Vielschichtigkeit zu folgen. Von Karajan kann der Rezipient
hier aber leider keine Hilfe erwarten. Dem Zuschauer entgehen somit die Besonderheiten
dieses Ensembles. Innerhalb des Ensembles kommt es zeitweise zu diversen inneren
Gruppenbildungen. Zunächst erscheint das Ensemble Emilia, Cassio, Rodrigo und Lodocico
im homophonen Satz a cappella. Alle verbindet die Betroffenheit ob des Vorfalls, dessen
Zeugen sie so eben wurden. Dennoch differenzieren sich die Gründe ihres Mitleids. Rodrigo,
der Desdemona heimlich liebt, klagt über ihre morgige Abreise nach Venedig. Emilia klagt
aus Verzweiflung über den Umgang mit der Unschuldigen. Cassio, der die gesamte Situation
als unmotiviert begreift, hofft auf ein Erwachen aus diesem bösen Traum. Lodovico, der
Otello noch nie in dieser Weise erlebt hat, verklagt dessen Verhalten gegenüber Desdemona.
Über all dies erhebt sich nach kurzem wieder Desdemonas Thema aus ihrer Reflexion, die
dem Ensemble voranging. Sie ist, obgleich geschlagen auf dem Boden liegend, erneut voller
Mitleid für Otello, sich selbstlos hinter der Sorge für den gefallenen Helden zurücknehmend.
Im Folgenden werden Emilia und Cassio ebenso wie Rodrigo und Lodovico durch die
Melodielinien verbunden. Besonders interessant werden die Konstellation in dem
aufgewühlten „staccato animando" Teil des Ensembles. Hier deklamieren Desdemona und
Emilia zusammen. Sie sind in Trauer und Schmerz ebenso verbunden, wie in der Angst vor
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dem Zukünftigen. Auch Cassio und Rodrigo sind sowohl musikalisch, wie in ihrem Schicksal
verbunden, denn schließlich soll Rodrigo Cassio töten, dass sich diese Konfiguration
schließlich umkehren wird, weiß noch niemand. Problematisch ist zu erklären, warum
Lodovico und Jago gemeinsam singen. Vielleicht weil beide in der Sorge um Desdemona
verbunden sind? Zwar steht ihre Fürsorge unter divergenten Vorzeichen, denn Lodovico
leidet mit Desdemona, Jago hingegen heuchelt das Mitleid und ist mitverantwortlich für den
Todesstern, der schon über Desdemona aufgegangen ist. Auch ist verständlich warum sich
Jago einem Ensemblemitglied anschließt, wenn man sein gewöhnliches Verhalten betrachtet.
Immer wenn er intrigant ist, als persuativ erschient, verstellt er sich. Er übernimmt melodiöse
Linien, die nicht seinem eigenen Charakter entsprechen. Jago ist das Chamäleon. Er weiß sich
geschickt zu tarnen nicht aufzufallen. Allerdings zeigt sich in seiner stetigen Adaption
fremder Linien auch seine eigene Unfähigkeit zur Expression selbiger Gefühle. Desdemona
gliedert das Ensemble, durch das beständige Wiederaufgreifen ihres Themas. Sie gestaltet das
heterogene Vorgehen auf der Bühne. Entscheidend ist jedoch auch die Entwicklung des
Charakters Desdemonas, welche anhand der musikalischen Faktur des Finales nachvollzogen
werden kann. Desdemona besitzt einen eigenen, starken Charakter. Ihre Melodielinie führt
nicht nur das Ensemble an und ein, sondern geht ferner in dessen melodische Gestaltung über.
Das Ensemble steht sowohl vom inhaltlichen, wie vom musikalischen Gesichtspunkt unter
Desdemonas Bann. Gleichzeitig aber wird das Ensemble unterschwellig von Jagos Rhythmus,
den Intrigentriolen, gefangengenommen. Desdemona und Jago erweisen sich folglich als
konstitutive Faktoren dieser Finalkonzeption. Dies zeigt sich auch in jener Phase, in welcher
Desdemona nach der Erniedrigung ihre Fassung wiedererlangt. Selbst nach jener Demütigung
durch Otello, aufgrund welcher sie für kurze Zeit nur in gebrochenen, pausendurchsetzten,
melodischen Phrasen zu „sprechen" vermag, gewinnt sie schließlich ihre eindringliche,
lyrische Gesanglichkeit zurück. Diese melodische Anlage der Figur verleiht Desdemona
Charaktertiefe und unterstreicht ihre Relevanz im Gesamtkontext.
Unerwartet bricht das Ensemble ab. Otello unterbricht es mit seinem „Fugite" in As-Dur.
Dann ein betroffenes, homophones „Ciel" des Ensembles und des Chores in E-Dur, welches
hinüberführt zu Otellos zweitem „Fugite" in Cis-Dur. Wie bei seinem ersten Auftritt erscheint
Otellos Stimme noch einmal a cappella; ohne Orchester und in der selben Tonart. Aufritt und
Abritt des Helden in Cis-Dur. Hier wird die Gegenüberstellung von dem glänzenden Sieger
von einst mit dem gebrochenen Helden kontrastiert. Daß hier nicht mehr der Held von einst
zugegen ist, wird musikalisch eindeutig. Nach einem chromatischen, orchestralen Intermezzo
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noch einmal Otellos „Fugite", jetzt aber in strahlendem C-Dur. Dies bildet einen deutlichen
Kontrast zu dem ausgesagten Deklamationsinhalt. Jenes C-Dur wirkt höhnisch, sarkastisch.
Die Intrigentriolen sind wieder zu vernehmen. Otello verliert den Halt und fällt wie seine
Gesangslinie in abwärts gerichteten Sequenzen gen Boden. Otello bleibt alleine zurück. Er ist
nun ganz in schwarz gekleidet, der weiße Umhang, welchen er zuvor noch bei sich trug, hat er
abgelegt. Für Otello ist seine hervorgehobene militärische Position nur noch leere Hülle. Alle
öffentliche Anerkennung nur noch Abglanz eines Einst. Wenngleich er die Insignien der
Herrschaft offiziell erst am Ende des 4. Aktes an Lodovico abtritt, ist hier der Tiefpunkt der
öffentlichen und gesellschaftlichen Erniedrigung Otellos erreicht. Rechtsgültig wird der Akt
der Degradierung jedoch erst durch Lodovicos Deklamation: „La spada a me!", die von der
gleichzeitigen Ausführung der Handlung - der Enteignung Otellos von dessen Schwert –
begleitet wird. Der im 3. Akt erreichte Tiefpunkt aber führt zur Ohnmacht Otellos. Er liegt
nun inmitten jenen Kreises, in welchen er zuvor Desdemona geschleudert hatte. Es blendet
sich der Zusammenhang zu einem Kreis der Verdammnis auf: Wer hier liegt steht nicht mehr
auf, ist gesellschaftlich isoliert. Vielleicht vermeiden auch daher alle andern handelnden
Personen es, diesen Kreis zu betreten. Auch Jago, der nun seinen Sieg über Otello deklamiert.
In glänzendem C-Dur hört man hinter der Bühne die Evivat-Rufe auf Otello, doch der „Leone
di Venezia", wie er genannt wird, ist, und dies resümiert Jago, gefallen. All dieses Geschehen
scheint Otello zu verhöhnen, oder den neunen Herrscher – Jago – zu inthronisieren? Zu
denken wäre dies, zumindest erscheint Jago am Ziel seiner Hoffnungen. Er zitiert die Linie
seiner ersten Deklamation „L´alvo frenetico dell mar sia la sua tomba." (Sei doch das
aufgewühlte Meer sein Tod) zu den Worten: „Chi può vietar che queata fronte io prema col
mio tallone?" (Wer kann verhindern, dass ich diese Stirn mit meiner Ferse zerquetsche?). Was
das Meer einst nicht auszurichten vermochte kann jetzt er: Jago. Die Vivat-Rufe, gelten schon
ihm. Das Trompetengeschmetter, besiegelt den öffentlichen Niedergang Otellos. „Ecco il
Leone" (Da liegt der Löwe). Jago steht an der Außenlinie des Kreises, in welchem Otello
liegt. Das Wort „Leone" verlässt Jagos Lippen und Otello hebt ein letztes Mal die Brust, als
ob er in seiner Bewusstlosigkeit noch einmal der Vergangenheit nachtrauernd seufzen würde,
während Jago auf ihn deutend das Betreten des Kreises vermeidet.
XIV Der 4.Akt
Nachdem der Held so gebrochen auf dem Tiefpunkt angekommen ist, werden im 4.Akt die
Konsequenzen seiner Selbstentfremdung dargestellt, zudem tritt sein Verfall an die
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Öffentlichkeit. Der 4.Akt aber dient auch zu einer Charakterstudie Desdemonas. Im vierten
Akt wird Desdemona, deren rührende, duldende Zartheit während des dritten schon
begütigende Musik geworden war, durch die verfeinerte Sprache Verdis so erhöht, daß sie in
den Mittelpunkt der Szene rückt.
Wie bereits von Verdi und Boito in der Diskussion um die Gestaltung des Finales des dritten
Akts angedeutet, sollte sich die Handlung und somit der Verfall des Helden konsequent
vollziehen und nicht von äußeren Faktoren gestört werden. Diese Konfiguration zeigt sich
auch in der räumlichen Disposition der Oper. Vom Beginn an hat sich die Szene aus dem
Rahmen der Sturmszene, in welcher die aufgewühlte Natur vorherrschte, konsequent ins
Private zurückgezogen. Schließlich wird dem Rezipienten nun Desdemonas Schlafzimmer
vorgeführt. Die räumliche Zurückgezogenheit korespondiert mit der Funktion der Szene. Es
ist ein privates Abschiednehmen, eine Vorbereitung auf den Tod. Das Schlafzimmer wird zur
Todeskammer. Niemand hat „ein Fenster geöffnet" um diesen Folgelogischen
Destruktionsprozeß aufzuhalten.
Der vierte Akt ist als ein einziges Tableau fassbar. Er ist der Abgesang des Helden, der im
Meuchelmord an einer Unschuldigen Endet. Das Opfer wird zum Täter und kann in
anbetracht dieser Schuld und seiner gesamtgesellschaftlichen Destruktion nicht mehr
weiterleben. Dies soll nun aber von Grund auf erörtert werden.
Der vierte Akt wird mit der großen Szene der Desdemona eröffnet, die von Elementen eines
poetischen Realismus durchdrungen ist. So erden beispielsweise Salice (durch absteigende
Melodielinie) und der Gesang der Vögel (Flöten und Pikkolo) imitiert.
Bereits die Introduktion lässt die Todesgegenwart, die über dem gesamten Akt wie eine
schwere Wolke schwebt, spüren. Es sind mehrere Faktoren, die hier zusammenkommen. Die
Tonart E-Dur stellt den Zusammenhang zu der Liebe zwischen Otello und Desdemona her.
Das tiefe Instrumentarium verleiht der Einleitung einen dunklen, unentrinnbaren
Grundduktus. Das weinende Englischhorn, welches den Akt eröffnet ist nicht nur Sinnbild für
die Liebe, sondern unterstreicht den klagenden Ton der Melodie, die eine Antizipation des
Weidenlieds Desdemonas ist. Somit wird die Todesthematik bereits antizipiert. Das
Englischhorn aber gemahnt auch an den zweiten Akt in Wagners Tristan, wo es gleichfalls als
Symbol für die Liebe eingesezt wird. Daß es sich hier, gleichfalls wie im Tristan nicht um
eine unbekümmerte Liebe handelt wird auch vermittels der Seufzervorhalte und der leeren
Quinten deutlich. Die leeren Quinten erinnern an die Bordune des Leiermann in der
Winterreise, der bahrfuß auf dem Eis seht. Auch Desdemona steht bahrfuß auf dem Eis. Auf
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dem dünnen Eis, welches die die Liebe zwischen ihr und Otello ist. Desdemona droht
einzubrechen, auf dem Glatteis der Eifersucht zu sterben. All diese scheint bereits in der
Einleitung mitzuschwingen. Mit dem Heben des Vorhangs sinkt die Melodie im PPP ins
Bodenlose. In leeren Oktaven erlischt die Melodie.
Auf diese Einleitung folgt ein reines Rezitativ. Dies ist eine Besonderheit in dieser Oper, denn
nur ganz selten erscheinen in Boitos Libretto reine versi sciolti. Hier aber verdeutlicht der
rezitativische Vers die Sprachlosigkeit Desdemonas, die beklemmt und ergriffen von den
vorausliegenden Ereignissen noch nicht in der Lage ist sich in weit ausschwingenden
Melodiebögen zu artikulieren.
XV Das Weidenlied
Auf den kurzen Dialog mit Emilia folgt der Gesang des Weidenliedes. Desdemona leitet das
Lied ein, indem sie seine Überlieferungssituation rezitiert. Sie stellt heraus, daß die Amme
ihrer Mutter, Barbara, dieses Lied gesungen habe, die einen Mann liebte, der sie verließ. Hier
leuchtet bereits auf, daß es nicht nur das Lied der Amme, sondern auch das Lied Desdemonas,
der „Unglücklichen", ist. So werden auch im Lied Barbara und Desdemona eins. Das Lied ist
von Todesahnung und Trauer durchzogen und gliedert sich formal in 3 Strophen, wobei die
dritte durch einen colpo di scena unterbrochen wird, einen Windstoß. Metrisch besteht das
Lied aus settenari und quinari. Die settenari bilden den wiederkehrenden Einwurf „O Salce!"
und den Refrain, die Strohen sind in quinari gehalten. So ist die Vertonung welche Boitos
Libretto durch Verdi erfährt schon in der Vorlage angelegt. Der einfache strophische Aufbau
kongruiert mit der Ankündigung Desdemonas ein Liedes vorzutragen. Es ist wie Desdemona
selbst: rein, ungekünstelt, voller unprätentiöser Wahrheit. Die häufig col aparte Führung des
Orchesters unterstreicht dies. Die tiefe Bedeutung, die Vorahnung des Todes, erscheint im
schlichten Gewandt des Strophenlieds. Dies konvergiert mit Desdemonas Charakter. Sie ist
nicht auf affektgesättigte Wirkung ihrer Person bedacht. Ihr Ausdruck ist, wie Boito dies in
seiner Dispositione scenica fordert, geprägt von „ungekünstelter Mine, offenem Blick und
natürlichem Tonfall". Diese Natürlichkeit hatte bereits Desdemonas Gesang im zweiten Akt
gekennzeichnet, indem sie sich in die Deklamation es Volkes einband. Dies drückt „Reinheit,
Sanftmut und Arglosigkeit" aus. Einzig der einbrechende Wind stört die von der Szene
heraufbeschworene Atmosphäre. Verdi nutzt die Gelegenheit des Colpo di scena, um ein
weiteres onomatopoetisch, realistisches Element in die Komposition eingewoben. Wegen der
Unterbrechung lässt Verdi Desdemona die dritte Strophe noch einmal wiederholen. Auf diese
Weise wird die Bedeutung dieser Strophe als Bindeglied zwischen der Situation Desdemonas
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und Barbaras betont. „Er wurde geboren zu seinem Ruhm und ich zu lieben und zu sterben."
Das Schicksal der beiden Frauen ist auf diese Weise umrissen. Die Essenz der Oper und ihres
Konfliktes noch einmal zusammengebracht. Desdemona hat die Ausweglosigkeit ihrer
Situation erkann und wendet sich an Emilia. Mit einem üblichen „buona notte" kann sie
Emilia in dieser Nacht nicht entlassen. Es ist ein Abschied für immer. Die heraufbeschworene
Todesahnung die durch das Weidenlied zutage getreten ist, entläd sich in Desdemonas
Aufschrei auf dem ais („Ah! Emilia addio"). Das schicksalhafte Seufzermotiv, welches
bereits in der Einleitung exponiert worden war, bildet nun auch den Abschluß des Liedes.
XVI Die Preghiera
Desdemona verbleibt alleine in ihrem Schlafgemach und beginnt mit ihrem Gebet. Auch die
Preghiera ist ein typischer Operntopos, der gleich dem Brindisi in vielen italienischen Opern
zu finden ist. Bei Shakespeare wird das Gebet nicht eigens ausgeführt, doch schon
Berio/Rossini nahmen es aufgrund der Bühnenwirksamkeit in die Opernkonzeption auf.
Zugleich aber ist dieses Bühnenlied auch noch einmal Chrakterdarstellung Desdemonas.
Ähnlich wie Jagos dämonische Züge sich im Credo ausgestalteten, zeigen sich Desdemonas
Wesenszüge nun auch in ihrer Soloszene. Für die drei Strophen gibt Boito endecasillabi als
Versmaß vor, wobei die erste Strophe im Kreuz-, die zweite im Paar- und die dritte erneut im
Kreuzreim gehalten ist. Diese librettistische Vorgabe spiegelt sich in der melodischen
Gestaltung einer aba´ Form. Desdemona beginnt im sotto voce im Parlando. Der Endruck
eines typischen Gebetsgestus´ entsteht. Dem kollektiven Gebetsinhalt entspricht der
rezitierende Gebetsstil. Mit der zweiten Strophe wechselt das Gebet zu einem individuellen
Ton. Nicht nur der Inhalt des Gebets wird persönlicher, auch die Melodie schwingt sich in
freien Bögen auf, um dem individuellen Empfinden Raum zu geben. Sie bittet für den Sünder
und den Unschuldigen, für Otello und sich, für den Mächtigen und den Schwachen, in
Bedrängnis geratenen. Unter den Worten „prega per noi", welche durch ihre metrische
Struktur (quinario) von der restlichen Prghiera abgehoben sind, kehr Desdemona zum
kollektiv rezitierenden Gebetston zurück. Die Verrückung der metrischen Struktur
berücksichtigt Verdi in seiner Vertonung, indem er diese Worte wiederholt. Desdemonas
flehentliche Bitte für sich und Otello zentriert. Bei der Rückkehr in das konventionelle Ave
Maria verflüchtigt sich das rezitativische Gebet in ein stilles Gemurmel, welches wiederum an
die religiöse Gebetssituation gemahnt. Das Orchester übernimmt dabei die Melodie, welche
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Desdemona zuvor sang und verbindet damit die kollektive und die private Sphäre. Zudem
erreicht Verdi hierdurch eine Straffung der Szene. Erst bei den Worten „nell´ora della morte"
wird Desdemonas Stimme wieder vernehmlich. Das Amen beschließt das innigliche Gebet
schließlich erneut mit dem Hochton as , welches vom Orchester um eine Oktave erhöht
aufgegriffen wird. Die Bläserklänge sind im Ave Maria dem lichten Schein eines zarten, aber
dicht gewebten Streicherklangs gewichen. Am Ende des Gebets steht die Überhöhung des
Topos´ der Reinheit und der Unschuld Desdemonas, durch das sphärisch schwebende as´´´.
XVII Die Katastrophe
Besonders deutlich tritt Desdemonas Engelsgleichheit hervor, wenn die Nachfolgende Scena
erklingt. Mit einem Subkontra E beginnt die E-Dur Dreiklangsbrechung in den Kontrabässen.
Ein Sturz über 5 ½ Oktaven. Aus den tiefsten Tiefen scheint dieser, durch den Einsatz der
Dämpfer verfremdete Klang, zu dringen. Die Kontrabässe beginnen im Unisono, geisterhaft,
subversiv, dämonisch. Hier werden die Prinzipien Otello und Desdemona gegenübergestellt.
Der Aufrtitt Otellos scheint seinem Auftauchen aus dem Orkus, aus der Unterwelt gleich.
Kurz darauf ein Motiv in den erregten Bratschen, welches Otellos Wut ausdrückt, dazu ein
Trommelschlag im Pianissimo. Das Wutmotiv steigert sich, wird in der Krebs-Umkehrung
Fortgesponnen, bevor das Orchester wieder in ein liebliche, zurückgenommene Artikulation
verfällt und Otello die unschuldige, schlafende Desdemona erblickt. Otello küsst sie drei Mal.
Dies wird von Verdi musikalisch durch das Wiederaufgreifen des Bacio-Themas aus dem
ersten Akt dargestellt. Auch dieses Motiv ertönt nun drei Mal angeführt durch das
Englischhorn, bevor Desdemona erwacht. Doch Otellos Rührung von der schlafenden
Desdemona ist nicht von langer Dauer. Das sich nun etablierende Doppelschlagmotiv spiegelt
die innere Unruhe Otellos. Dieses Doppelschlagmotiv begleitet die nun folgende Unterhaltung
zwischen Otello und Desdemona. Das Orchester gewinnt Eigenständigkeit, drückt aus, was in
den unterschwelligen Regungen der Protagonisten zu spüren ist, sich in deren expliziten
Ausdruck, dem melodischen Duktus, jedoch entzieht. Äußerlich gefasst fragt Otello
Desdemona, ob sie gebetet habe. Er verkündet ihr nicht ihre Seele umbringen zu wollen,
weshalb er auch auf eine Erdolchung oder einen anderen Mord verzichtet, welcher körperliche
Blessuren verursachen würde. Desdemona beteuert ihre Unschuld, doch Otello, der in den
Projektionen gefangen ist, welche sich durch die Intrige Jagos einstellten, kann ihr kein Gehör
schenken. Jede Bitte ist vergebens. Die Versuche Desdemonas auf ihre Unschuld zu schwören
verleiten Otello zu nur noch aufschäumenderer Emotionalität. Das Orchester begleitet die
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aufschäumende Wut mit pochenden Sechzehnteln im homophonen Satz. Otellos Melodielinie
steigt bis zum a´´ empor. Auch Desdemona übernimmt diese Artikulation. Steigert ihre Linie,
um Hilfe flehend ebenfalls bis zum a´´. Zur Ruhe kommt die Bewegung für kurze Zeit erst,
als Otello erwähnt, daß auch Cassio bereits tot sei. Angestachelt von der Mitleidbekundung
Desdemonas entbrennt Otellos Wut aufs neue. Zeigt sich im Orchester erneut die
Doppelschlagfigur, die als Symbol von Wut und Eifersucht eingeführt wurde. Für einen Takt
treffen sich Otello und Desdemona in einer Unisonodeklamation. Das erste und letzte Mal in
dieser Oper erscheint das Zusammensingen in Oktaven, welches im Sinne der Konvention
eigentlich für Harmonie und Liebe steht. Hier aber ist der Topos in sein Gegenteil verkehrt.
Der Text macht dies deutlich. Sie bittet, gänzlich von ihm und seinem Wohlwollen abhängig,
um eine kurze Restzeit des Lebens, er aber bezeichnet sie als Dirne und beschwört ihren Tod
herauf. Alle Bitten Desdemonas sind vergebens; keine Nacht, keine Stunde, keinen Moment,
nicht mal mehr ein „Ave" lang soll sie leben. Die Doppelschlagfigur im Orchester, die in
Markatovierteln endet, sich schließlich in einer Aneinanderreihung von Dopppelschlagfiguren
Steigert verdeutlicht Otellos Innenwelt. Er erstickt sie und das Orchester weiß um den
intriganten Eingriff Jagos in diesem Unternehmen. Markantotriolen unterlegen den Mord.
Dann klingt die Triolenbewegung aus. Das Orchester beruhigt sich und Otello wagt nur zu
flüstern: „Calma come la Tomba" (Ruhig wie im Grab).
Es folgt der Colpo di scena: Emilia klopft an der Tür. In hektischen Worten umreißt sie den
Tod Rodrigos durch Cassio, während Desemona, sich ein letztes Mal aufbäumend, vom Bett
her ausruft zu Unrecht getötet worden zu sein. Emilia ist erschüttert, starr vor Schreck. Dies
zeigt die Generalpause im Orchester: Akustisch dargestellte Sprachlosigkeit, in welcher
Otello den Mord gesteht und Emilia ihn „Assassino" (Mörder) nennt. Darauffolgend löst
Emilia die Intrige schnell auf. Erklärt Jagos intrigante Machenschaften führt so Otello seine
Blinheit vor. Bei Shakespeare dauert dieser Vorgang wesentlich länger. Boito und Vedi aber
kürzen Shakespeares Drama auch hier, um weiterhin die Destruktion des Helden zu
Dies wird offensichtlich, wenn in der letzten Szene des letzten Aktes noch einmal die
venezianischen Gesandten auftreten, um Otello die Insignien der Macht zu entziehen. Alle
Handlunge vollziehen sich wie im Zeitraffer. Jagos Schuld wird festgestellt, er selbst kann
jedoch nicht mehr angeklagt werden, da er entschwunden ist. Otello erscheint auch nicht als
Ankläger Jagos, der, wie in Shakespeares Drama, die rechtmäßige Ordnung wiederherstellt,
sondern verharrt in erstarrter Fassungslosigkeit. Otello ist so bewegt, daß er glaubt seine
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Gefühlslage müsste eine Entsprechung in Natur finden „E il ciel nin ha più fulmini?!". Das
Orchester hat noch Blitze. In zwei chromatischen Skalen im fortissimo streben sie gen
Himmel. Dann fordert Lodovico „La spada a me!". Der Entzug des Säbels ist der letzte,
offizielle Akt der Erniedrigung Otellos, des Verfalls des Helden. Er fällt ins Bodenlose. In
chromatischen Skalen sinkt Otellos ehemaliger Ruhm zu Boden. Er verliert die Haftung, den
Sinn, die Be-gründung. In einem anschießenden recitativo secco resümiert Otello, daß dies
der Ende seines Lebenswegs sei, er wolle vereint mit der unschuldig getöteten Desdemona
sterben. Otello ist an diesem Punkt vollkommen von sich selbst entfremdet. Er spricht von
sich in der dritten Person: „Otello fu!" („Otello war!"). Mit einem Dolch, den er unbemerkt
unter seiner Kleidung hervorzieht, ersticht er sich. Die allgemeine Bestürzung nimmt er kaum
war. Er stirbt wendet er sich mit letzter Kraft der toten Desdemona zu. Ein letztes Mal ertönt
das Bacio-Thema, ein letztes Mal wünscht Otello einen erlösenden Kuß von Desdemona.
Während des letzten der drei Küsse, erstirbt sein Gesang, erstirbt der Held. „Otello fu".
Source: http://www.aoide.aoide.bplaced.net/Janine/index_htm_files/Otello.pdf
Characterising patients and controls with brain graphs constructed from fMRI data September 28, 2012 Systems Biology DTC University of Oxford Network science is a novel method of investigating the structure and function of the brain. We used network analysis in an attempt to distinguish between braingraphs constructed from fMRI data from patients and controls. The nodes in thebrain graphs are spatial regions of interest and the strength of their connectionis the correlation of the blood oxygen level-dependent (BOLD) signal of pairs ofnodes. The first data set contained little temporal information, so we performeda spectral clustering method on the communicability networks generated fromthe data. We found that there was some distinction between healthy and brain-damaged individuals. The second data set contained time-series data, whichallowed us to construct time-dependent adjacency matrices. The patients werediagnosed with schizophrenia, and the data was taken with the patients andcontrols taking the drugs Aripiprazole, Sulpiride, or a placebo. We performedtime-dependent community detection on the multilayer networks and the meanflexibility of the network was found. We found that for all drugs, the controlshad a higher mean network flexibility than the patients.
Osteopathic Family Physician (2014)2, 31-32 PRE-ORDER YOUR COPY TODAY! Mobile Apps for Point-of-Care Calculations, Somatic Dysfunction in Osteopathic Warfarin Nomogram & Following GuidelinesRobert Hasty, DO, FACOI; Pranav Jain, MD; Brian Kessler, DO Family Medicine, Second Edition Campbell University School of Osteopathic Medicine; and Southeastern Health, Lumberton, NC