Freitag 14
Die Ost-West-W
Schöne neue Welt
Kurz mal etwas Stolz
Rachel Vogt über
Tom Mustroph über
Die Schriftstellerin
»Second Life« und das
das Schutzkorsett für
Luo Lingyuan über Reichtum
richtige Leben im falschen
Anti-Mafia-Zeugen
und Nationalgefühl
Konrad Ege
Stehaufmännchenim Dämmerlicht
NOCH 21 MONATE GEORGE BUSH IM WEISSEN HAUS ■ Doch schonjetzt werden die Karten neu gemischt
Bei ehemaligen Präsidenten gehört es sönliche Daten ausspioniert, ohne die erfor-
zum guten Ton: Im Ruhestand baut
derlichen Genehmigungen einzuholen.
man Präsidentenbibliotheken. Die
Für Unruhe sorgt weiter, dass seit Ende
nach dem letzten Hubschrauberflug
März bekannt ist, Justizminister Alberto
schlagartig entmachteten Männer wollen we-
Gonzales (Bushs Spitzname für Gonzales ist
nigstens ihren Nachlass kontrollieren. Geor-
»Fredo«, entnommen aus Mario Puzos Der
ge W. Bush baut im imperialen Stil: Sein po-
Pate) habe Bundesanwälte auf ihre Loyalität
litisches Märchenland soll 500 Millionen
hin überprüft und acht »nicht loyale« entlas-
Dollar kosten und sechsmal größer als die Bi-
sen. Das könnte dem Justizminister jetzt den
bliothek seines Vaters sein. Die Historiker-
Job kosten. Bushs Sprecher Dan Bartlett gibt
zunft sinniert freilich bereits darüber, ob es
sich allerdings zuversichtlich: Der krisener-
jemals einen so schlechten Präsidenten gege-
probte Gonzales sei ein »Stehaufmännchen«.
ben hat wie George Walker. Und erstmals seit
Allerdings ermittelt auch der Justizausschuss
den Anschlägen vom 11. September 2001
des Senats. Und hat festgestellt, dass der E-
greifen Oppositionspolitiker zur Notbrem-
Mail-Verkehr des Justizministeriums und des
Weißen Hauses zum Thema ein 16-tägiges
Mit 51 zu 47 Stimmen verband der US-Se-
nat seine Bewilligung von 122 Milliarden
In Bushs schöner neuer Welt des Krieges
Dollar für die Kriege im Irak und in Afgha-
gegen den Terror und der Konzentration von
nistan mit der Auflage, in 120 Tagen mit dem
Macht werden die Karten neu gemischt, auch
Abzug der inzwischen 160.000 US-Soldaten
wirtschaftlich: Umverteilung ist angesagt.
aus Bagdad und Umgebung zu beginnen und
Nach Angaben des Economic Policy Institu-
alle Kampfoperationen spätestens im März
te sind allein 2005 die Einkommen der »un-
2008 abzuschließen. Bush
teren« 90 Prozent gefallen.
drohte mit einem Veto,
Die oberen zehn Prozent
sein Vize Richard Che-
haben dazu gewonnen, am
Bush sieht mehr und mehr aus
ney warnte vor »Chaos«
meisten die 0,5 Prozent
– und die demokratische
wie Staatsoberhäupter vor ihm,
ganz oben mit Jahresein-
Sprecherin des Repräsen-
kommen von mehr als 1,8
die noch im Bunker nichts
tantenhauses, Nancy Pe-
Millionen Dollar: Sie ver-
Sabine Kebir
losi, setzte noch einen
dienten Ende 2005 16 Pro-
drauf und reiste zu Ge-
zent mehr als zwölf Mo-
sprächen nach Damaskus
nate zuvor. Verantwort-
– ohne die Syrer sei regionale Entspannung
lich für diese Umverteilung sind Bushs Steu-
nicht denkbar.
ergesetze und eine unternehmerfreundliche
Mehr Rebell als Vasall
Aus Sicht des Weißen Hauses wird es zu-
Arbeitspolitik. Der Elektronikhändler Cir-
nehmend schwieriger, eine fortgesetzte Prä-
cuit City hat in diesem Jahr bereits zehn Pro-
senz im Irak zu begründen. Man kann höch-
zent seiner Arbeiter entlassen – die zehn Pro-
stens geltend machen, dass der Amerikaner
zent mit den höchsten Stundenlöhnen. Der
ARABISCHER GIPFEL ■ Der saudische König brüskiert die Amerikaner und macht den Israelis ein Angebot
»Missionen« nicht unvollendet abbricht. Will
Konzern wolle sparen, sagte die Firmenlei-
Bush die Irak-Operation als Teil des »welt-
tung, Entlassene könnten sich um frei ge-
ze aufzuheben, die Mitglieder der ehemaligen
Exil in anderen arabischen Staaten gebeten
weiten Krieges gegen den Terrorismus«
wordene Stellen bewerben.
Baath-Partei (Saddam Husseins) von öffent-
rechtfertigen, wird ihm sofort vorgehalten,
Immer mehr gesteht man in Washington zu,
Abdallah Ibn Abdelaziz wartet mit einer
Überraschung auf, als er am 28. Märzin Riad den 19. Gipfel der Arabischen
lichen Ämtern ausschließen. Wie Saudi-Ara-
Auf jeden Fall täte man im Westen wie in Is-
dieses Land sei erst durch die US-Invasion
dass George W. Bush einen Scherbenhaufen
Liga eröffnet. Erstmals kritisiert der
bien seine neue diplomatische Mission als
rael gut daran, das Signal aus Riad als notwen-
zum Nährboden des Terrorismus geworden.
hinterlässt – und dass viele Politiker, Republi-
saudische König öffentlich die westliche Irak-
Sprecher der arabischen Welt wahrnimmt,
dige und derzeit wohl einzig mögliche Form
In den Vereinigten Staaten ist die Stimmung
kaner wie Demokraten, die dafür verantwort-
Politik: »Im Schatten einer illegitimen auslän-
zeigt sich besonders beim palästinensisch-is-
einer symbolischen Politik der arabischen
gekippt, und Bush sieht mehr und mehr aus
liche Politik lange mitgetragen haben.
dischen Besatzung fließt im geliebten Irak das
raelischen Konflikt. Außenminister Prinz Al
Welt zu betrachten, die es verdient, ernst ge-
wie Staatsoberhäupter vor ihm, die noch im
Schließlich kam sie besonders der wirtschaft-
Blut von Brüdern und die religiösen Konflik-
Faisal bietet den Israelis ein Junktim an, wie
nommen zu werden. Allein schon deshalb,
Bunker ihre Niederlange nicht einsehen
lichen Elite gerade recht – nun aber seilt sich
te drohen, in einen Bürgerkrieg zu münden.«
das schon einmal ein Arabischer Gipfel vor
weil die saudische Regierung dringend als ein
konnten und wollten.
ab, wer kann. Man muss einräumen: Vielleicht
Von unrechtmäßiger Okkupation zu spre-
fünf Jahren tat: Zieht euch aus allen 1967 be-
Moderator gebraucht wird, sollte der Konflikt
Genau genommen ist es für den Präsidenten
hat George Bush doch kein goldenes Zeitalter
chen, ist ein gegen die USA gerichteter Af-
setzten Gebieten zurück, findet euch mit
zwischen Washington und Teheran eskalieren.
auch kaum möglich, eine Niederlage zuzuge-
für sich und die Seinen eingeleitet. Wie der
front wie ihn saudische Regierungen bisher
Ostjerusalem als Hauptstadt eines palästi-
Dass König Abdallah eine Militärintervention
ben. Die Irak-Politik ist viel zu direkt mit sei-
Fernsehsender NBC am Wochenende berich-
vermieden haben. Während des Gipfels
nensischen Staates ab – und alle arabischen
gegen den Iran ablehnt – obwohl er davon
nem gesamten Programm verbunden. Mit
tet, haben führende republikanische Senato-
äußert sich kein anderer arabischer Führer mit
Länder werden euch anerkennen. Diese For-
profitieren könnte, würde der schiitische Ri-
dem Feldzug gegen Saddam Hussein und dem
ren den Kommandierenden im Irak, General
ähnlicher Deutlichkeit. Auffallend ist die
mel schließt die Anerkennung Israels durch
vale in Teheran geschwächt – deutet gleichfalls
nie eindeutig definierten »Krieg gegen den
David Petraeus, wissen lassen, dass er nur bis
Zurückhaltung Ägyptens, offenbar kann sich
die palästinensische Regierung ein, die einen
darauf hin, dass Saudi-Arabien strategische
Terrorismus« sollte der Welt eine globale
August Zeit habe, »wirklichen Fortschritt«
ein zusehends geschwächter Hosni Mubarak
solchen Schritt nicht – wie bisher stets ver-
Verantwortung im Interesse der Araber über-
Führungsrolle der USA und den Amerikanern
nachzuweisen. Sonst gingen sie auf Distanz.
den Spagat zwischen lauer Kritik am Westen
langt – als einseitige Vorleistung erbringen
nehmen will. Warum sonst wurde auf diesem
eine eingeschränkte Demokratie mit weniger
Aber so sehr die symbolträchtigen Kon-
und wachsender Empörung unter seinen
Arabischen Gipfel ein Ausweg aus dem
Rechtsstaat aufgezwungen werden. Letzteres
gressabstimmungen auch aufhorchen lassen:
Landsleuten über die US-Politik nicht mehr
So wichtig ein derartiges Angebot auch sein
Atomkonflikt beschworen, der einen Verzicht
scheint nun ebenfalls zu scheitern. Selbst sei-
Eine grundsätzliche Kehrtwende ist nicht zu
leisten. Auch Algeriens Staatschef Bouteflika
mag – immerhin hat Israels Premier Olmert
auf alle Kernwaffen in der Region als einzig
nen konservativen Anhängern wird es mul-
erwarten. Die Demokraten fordern ja ganz
– einst Protagonist der Blockfreien-Bewe-
mit dem Vorschlag zu einer arabisch-israeli-
denkbare Lösung bezeichnet? Damit sind die
mig, wenn der Präsident Staatsbürger bei Ter-
bewusst nur den Abzug der Kampftruppen
gung – exponiert sich kaum. Wegen der bis
schen Friedenskonferenz reagiert –, so skep-
israelischen Potenziale gemeint, über die im
rorismusverdacht ohne Prozess unbegrenzt
aus dem Irak. Da bleibt viel Platz für »Aus-
heute nicht eingedämmten islamistischen Ge-
tisch wird es in den besetzten Gebieten selbst
Westen niemand reden will.
einsperren will, und das FBI abhört sowie per-
bilder« und Soldaten in US-Basen, die gera-
walt im eigenen Land wähnt er sich mit den
aufgenommen. Menschen aus Ramallah, be-
Alle 32 Resolutionen dieses Arabischen
de gebaut werden. Nur etwa die Hälfte des
USA im »Bündnis gegen den Terrorismus«.
fragt durch den katarischen Sender al-Djazi-
Gipfels wurden im Übrigen zum ersten Mal
derzeit im Irak stehenden US-Korps gilt im
Um so bemerkenswerter erscheint der Um-
ra, erklären unumwunden, von materieller
nicht nur mündlich verlautbart, sondern auch
Potsdamer Straße 89
engeren Sinne als »Kampftruppe«. Und bis
stand, dass die Arabische Liga die Regierung
Hilfe aus Saudi-Arabien spürten sie kaum
veröffentlicht. Ein Novum bei einem Treffen
die irgendwann abzieht, darf weiter gekämpft
des Irak geschlossen ermahnt, die neue Ver-
mehr etwas. Außerdem sei in Riad noch nicht
dieser Art und ein Indikator dafür, wie sich
PVSt A 04188, Entgelt bezahlt
werden. Gar nicht so einfach, ein Imperium
fassung dort zu ändern, wo sie nationale Ver-
einmal der Notruf im Irak lebender Palästi-
mit den Zeiten auch die Gepflogenheiten än-
E 2,90 / CHF 5,50 / PLN 15,00
CZK 110,00 / SKK 140,00
in der Abenddämmerung zu managen.
söhnung blockiert, und zugleich jene Geset-
nenser erhört worden, die um ein sicheres
Freitag 14
Das Abkommen, für den Irak seinerzeit
Torsten Wöhlert
Warum will die Genossin
durch den Vize-Premier Saddam Hussein un-
Katja Kipping die Männer-
terzeichnet, hielt ganze fünf Jahre. Dann war
wirtschaft in der neuen Lin-
der Schah gestürzt und Iran in postrevolu-
ken erst 2008 abschaffen,
tionäre Machtkämpfe verstrickt, so dass Sad-
Eine Affäre mit dem Zeug
wie sie jüngst der Berliner
dam Hussein – inzwischen Alleinherrscher –
Zeitung anver traut hat?
die Gunst der Stunde nutzte und das Algier-
Weshalb übernimmt sie
Abkommen am 17. September 1980 vor lau-
den Laden nicht gleich?
fenden Kameras zerriss. Fünf Tage später be-
TIMO Unwillkürlich würde einem
gann auf einer 600 Kilometer breiten Front
das Lied durch den Kopf
der erste Golfkrieg, der keinen Sieger hatte,
schießen: »Die Heimat hat
acht Jahre dauerte, Hunderttausende das Le-
sich schön gemacht und
ben kostete und die Wirtschaft beider Länder
UL Tau blitzt ihr im Haar« oder:
kollabieren ließ.
»Holde Gär tnersfrau, deine
Für die USA war 1979 mit dem Sturz des
IRAN ■ Noch sind die gefangenen britischen Soldaten eher für einen Nebenkriegsschauplatz
Augen sind so taubengrau«. – Die Frage
Schah-Regimes der nach Israel wichtigste
interessant. Das kann sich ändern
ist, wessen Lebenswerk wird die Genossin
Partner im Nahen Osten verloren gegangen,
K. K. vollenden. Dient sie als Par teivorsit-
also stieg Saddam Hussein zum kleineren
zende dem Vermächtnis der einstigen Po-
gehörte. Der eigentliche Grenzkonflikt be-
gern »Arabistan« genannt – und der mehr-
litbüro-Amazone Inge Lange? (»Dem Klas-
gann, als die Osmanen 1638 den heutigen Irak
heitlich von Schiiten besiedelten irakischen
senfeind wird angst und bange, sieht er
Eigentlich ist es völlig gleichgültig, an
welcher Stelle des Schatt al Arab diebritischen Soldaten von ihren irani-
eroberten und bis zu ihrem geschichtlichen
Provinz Basra. Die ethnische und religiöse
Mühelos lässt sich erkennen, dass Irans
die Lockenpracht von Inge Lange«, wollte
schen Kollegen aufgebracht wurden.
Abgang 1918 beherrschten. Für diese Epoche
Gemengelage allein sorgte für reichlich Kon-
Führung das amerikanische Desaster im
der Oktoberklub immer singen, entdeckte
Abgesehen von der Peinlichkeit des Vorgangs
regelten mehrere Abkommen mit Persien den
aber seine Widerständigkeit erst nach
– jedenfalls aus Londoner Sicht: Teheran
Grenzverlauf sowie Seefahrt und Handel auf
Solange die Grenze am iranischen Ufer ver-
Irak nutzt, um alte Rechnungen zu
'89). Oder sieht sich die Genossin K. K.
suchte ganz offenbar einen solchen Konflikt
dem 193 Kilometer langen Wasserweg.
lief, mussten die Perser für ihre Öl- und
mehr in einer Blutbahn mit jener Dame
und hätte wenn nicht diese, dann eine andere
Dass nun ausgerechnet britische Einheiten
Frachtschiffe eine »Maut« bezahlen und zu-
aus dem bekannten Drei-Groschen-Stück,
Gelegenheit gefunden. Genügend Zündstoff
seit dem Irak-Krieg 2003 die Zufahrt zum
dem irakische Lotsen an Bord nehmen. Für
der stets ein »Hoppla« über die Lippen rie-
bietet die iranisch-irakische Grenzregion alle-
Persischen Golf kontrollieren, dürfte Tehe-
den letzten Schah von Persien ein unhaltba-
Übel amerikanischer Realpolitik in der Regi-
selte, wenn ein Männerkopf vom Stiel fiel?
mal. Wechselseitige Gebietsansprüche lassen
ran schon deshalb als brüskierend empfin-
rer Zustand, schließlich hatte Rezah Pahlevi
on auf. Das änderte sich erst, als der irakische
Die Frauenquote würde übrigens 1932 in
sich historisch fast nach Belieben herleiten
den, weil Großbritannien das einst mächtige
seinem Land in den siebziger Jahren eine Mo-
Diktator im August 1990 den Überfall auf
Berlin auf der 3. Reichspar teikonferenz
und finden nicht zuletzt in unterschiedlichen
Persien im 19. und 20. Jahrhundert als Öllie-
dernisierungs-Rosskur verpasst, um dank
Kuwait befahl, um sich durch einen zweiten
der KPD eingeführ t: »Bis ein Drittel der
geografischen Bezeichnungen Ausdruck.
ferant zur Halbkolonie degradiert und nach
tatkräftiger US-Hilfe auch militärisch eine
Golfkrieg beim reichen Nachbarn für die
Mitglieder von Bezirksleitungen müssen
Wer den Zusammenfluss von Euphrat und
dem Ersten Weltkrieg eine Grenzziehung
Vormachtstellung in der Region zu sichern.
Kriegsverluste des ersten zu entschädigen.
Genossinnen sein«, so der Beschluss da-
Tigris »Schatt al Arab« nennt, folgt interna-
durchgesetzt hatte, die den Schatt al Arab bis
Als die Zentralregierung in Bagdad 1975
Auch für diesen Feldzug mussten histori-
mals. Ist die Genossin K. K. altkommuni-
tionaler Gepflogenheit. Die persische Be-
ans iranische Ufer als Teil des Irak auswies.
durch kurdische Aufstände, denen es an ira-
sche Grenzstreitigkeiten zwischen Kuwait
zeichnung »Anwar Rud« (wörtlich: Tigris-
Öl war und blieb der wichtigste Schmierstoff
nischem Beistand nicht fehlte, geschwächt
und Irak als Begründung herhalten. Nahezu
Jedenfalls ist es schön, dass nach dem
Strom) hingegen ignoriert den Euphrat und
für den Dauerkonflikt am Schatt al Arab, der
war, erzwang Teheran 1975 im Abkommen
zeitgleich erkannte Saddam jedoch die einst
Zusammenbruch des Realsozialismus we-
damit den »arabischeren« der beiden großen
zwischen zwei wichtigen Fördergebieten lag:
von Algier eine Korrektur der Grenze am
in Algier vereinbarte Grenze in der Flussmit-
nigstens eine monokausale Heilslehre
Wasserarme des Zweistromlandes, das bis
dem iranischen Chuzistan – von arabischen
Schatt al Arab. Sie wurde nun in der Fluss-
te des Schatt al Arab wieder an, um den Iran
überlebt hat: Männer führen Kriege / Män-
zum Aufstieg des Osmanischen Reiches im
Nationalisten wegen eines nennenswerten
mitte entlang der so genannten »Talweglinie«
ruhig zu stellen und einen Zwei-Fronten-
ner wollen immer Par teiführer sein / Män-
17. Jahrhundert größtenteils zu Persien
Krieg zu vermeiden. Seither gilt dieses Agre-
ner sind Unterdrücker / Männer sind Ma-
chos / Männer sind Vergewaltiger / Män-
Dass Russland jetzt untersucht haben will,
ner sind keine Frauen! – Viele GenossEN
wo genau die britischen Soldaten festgenom-
sollten sich fragen, ob sie in der Morgen-
men wurden, ist diplomatisches Geplänkel in
röte des heraufdämmernden Matriarchats
einem Konflikt, der sich tatsächlich auf ganz
der neuen Linken einen ehrenvollen Frei-
anderen Ebenen abspielt. Um Grenzverläufe
tod wählen, sich chirurgisch ein anderes
geht es dabei am allerwenigsten, wiewohl sich
Setting verpassen lassen oder doch lieber
diese nach wie vor trefflich instrumentalisie-
als Quoten-Männe unter der Genossin K.
ren lassen. Mühelos lässt sich erkennen, dass
K. sowie der unvergleichlichen Katina
die iranische Führung das amerikanische
Schuber t in einem Par teivorstand vor sich
Desaster im Irak nutzt, um alte Rechnungen
hin dämmern wollen.
zu begleichen, von inneren Problemen abzu-
Sicher würde die neue Linke mit der Ge-
lenken und regionalen Einfluss auszubauen.
nossin K. K. an der Spitze einen fetten Bat-
Mehr noch: Teheran wäre töricht, würde es
zen DDR-Vergangenheit los. Denn K. K. ist
auf den durch die US-Invasion bedingten
ein so junges Rotgardistenblut, dass man
Zerfall des Irak nicht offensiv reagieren. Das
sie nicht verantwor tlich machen kann für
heißt in diesem Fall natürlich, dort mit eige-
die »Parade des Soldatenliedes« bei Radio
nen Kräften präsent zu sein, was sich durch-
DDR I, für Schlager-Süßtafeln mit Kakao-
aus als außenpolitische Vorwärtsverteidigung
Zusatz oder das Pionier-Manöver Schnee-
verstehen lässt.
flocke. Auch hat sie ihre ausgefallenen
So gesehen, wären die britischen Soldaten
Pirouettchen nicht bei Ingo Steuer gelernt.
ein Faustpfand in einem »Geiseldrama« um
Und noch was: Berlins knackfrischer Eh-
Einflussagenten, von denen Teheran zuletzt
renbürger, der Dichter Biermann, könnte
hochrangige Spieler an die Gegenseite verlo-
über die Genossin K. K. nicht dichten, was
ren hat, darunter einen General, der in Istan-
er einst über den GenossEN Gysi dichtete:
bul spurlos verschwunden (oder desertiert?)
»Aber was nützt die populistische Berliner
ist. – Und das iranische Atomprogramm?
Schnauze, wenn unter der gepuder ten
Wer hier Verbindungen sucht, wird fündig,
Glatze im abgerichteten Kader-Gehirn der
aber auch erkennen, dass dieser Konflikt in
alte doktrinäre Quark schimmelt«. Erstens
einer anderen Liga ausgetragen wird, die we-
kommt die Genossin K. K. aus Sachsen,
nig mit einem Grenzstreit und gefangenen
und zweitens puder t sie, wenn überhaupt,
Briten zu tun hat. Denen ist vorerst die Rol-
nur die Nase.
le auf einem Nebenkriegsschauplatz zuge-dacht. Doch das kann sich schnell ändern. ■
Windhundrennen um Mindestlöhne
VIELE JÄGER SIND DES HASEN TOD
Es sind doch immer wieder die The-
Lange gehör ten Mindestlöhne zu jenen Konflikt-
Gewerkschaften nicht zu beenden sein. Auch
Bekämpfung von Armut trotz Arbeit ein
men, die zunächst ganz unverfänglich,
themen, die von den Par teien der großen Koali-
die Initiativen der Christlichen und der Linken
unverzichtbares Essential einer solidari-
in ihrem Streitwert beschränkt wirken,
tion nur mit spitzen Fingern angepackt wurden.
sind nicht weniger von par teitaktischen
schen Sozialstaatsreform. Wo sich
die dann die großen Debatten entfa-
Und nun das: Der SPD-Par teivorstand star tet
Kalkülen geprägt.
Chancen ergeben, verbindliche Mindest-
chen. Besonders heftig fiel die Reakti-
beherzt eine Unterschriften-Kampagne für ein
Was ist nun unter diesen Bedingungen zu
löhne zu erreichen, müssen sie genutzt
on auf den im Freitag von vergangener
Verbot von Lohndumping und für Mindestlöhne.
er war ten? Ein politischer Kompromiss innerhalb
werden – gleichgültig, welche Süppchen
Woche erschienenen Text von Martin
Gewerkschafter der CDU kontern mit einem
der großen Koalition scheint möglich. Demnach
auf dieser Flamme sonst noch gekocht
Krauß, Die Kraft des Tresens aus. Po-
eigenen Unterschriftsbegehren gegen Armuts-
könnten das Entsendegesetz auf Branchen wie
sitionen für und wider das Rauchen in
löhne und fordern gar den Gesetzgeber auf,
den Einzelhandel, die Forstwir tschaft, das
Doch eine so begründete Kooperationsbereit-
Kneipen und die Kraußsche Argu-
Lohnuntergrenzen festzulegen. Und die Galions-
Frisörhandwerk und die Postdienste ausge-
schaft kann nur für Mindestlohnregelungen
mentation ergießen sich seither in
figuren der neuen Linken, Gregor Gysi und
weitet und zugleich sittenwidrige Löhne gesetz-
gelten, die ihren Namen auch verdienen.
Form von Leserbriefen in die Redak-
Oskar Lafontaine, tragen sich mit spitzbübi-
lich verboten werden. Die Ausdehnung des
Diese sind leicht zu erkennen. Sie sollten
tion und die entfachte Debatte wird
schem Lächeln und großer Medienaufmerksam-
Entsendegesetzes würde es ermöglichen,
existierenden Tarifver trägen Vorrang
ihren Abdruck in den nächsten Wo-
keit in die SPD-Liste ein und kündigen einen
vorhandene tarifliche Untergrenzen für allge-
einräumen, gesetzlich aber eine Untergrenze
chen auf dem für diese Art der Kom-
inhaltsgleichen Antrag im Bundestag an.
meinverbindlich zu erklären. Und das Verbot
für tariffreie Zonen und unzureichende Tarif-
munikation reservierten Platz auf Sei-
Warum auf einmal dieses politische Windhund-
sittenwidriger Löhne würde Einkommen, die 20
standards definieren und verbindlich
te zehn finden. An dieser Stelle sei je-
rennen? Und welchem Hasen jagen die Kontra-
oder 30 Prozent unter der or tsüblichen oder
festlegen. Und diese Untergrenze
doch schon mal vorausgeschickt, dass
henten da nach? Sicher: Fast drei Millionen Voll-
tariflichen Bezahlung liegen, für rechtswidrig
dar f, wie vergleichbare Rege-
es in diesen Zeiten kein harmloses Ge-
zeitbeschäftigte in Deutschland arbeiten für
erklären. Soweit, so gut.
lungen in europäischen
spräch übers Rauchen mehr gibt – es
Armutslöhne, die nicht einmal die Hälfte des
Doch durch das Fernglas wird dieser Mindest-
geht zugleich immer ums große
Durchschnittslohnes betragen. Dunkelziffer
lohn-Hase schnell als Attrappe erkennbar. Denn
nicht unter einem Stun-
Ganze: um nichts weniger als den Frei-
nicht berücksichtigt! Stundenlöhne von zwei,
wo keine tariflichen Mindestnormen existieren,
denlohn von acht Euro
heitsbegriff an und für sich und den
drei oder vier Euro sind keine Seltenheit, nicht
läuft das Entsendegesetz leer, und das wäre in
liegen. Darunter dar f
symbolischen, beziehungsweise öko-
nur in Ostdeutschland und nicht nur im Dienst-
den eigentlichen Problembranchen oftmals der
nichts gehen! Stünde
nomischen Sinn des Rauchens; um
leistungssektor. Und über 900.000 Er werbs-
Fall. Und ein Verbot sittenwidriger Löhne würde
dies am Ende, könnten
nichts weniger als die entscheidende
tätige erhalten Aufstockungszahlungen, weil ihre
auch bedeuten, Armutslöhne von etwa 2,10
auch Betroffene und
Frage, ob das Zigaretten-Rauchen
Einkommen noch unterhalb der Bedar fsgrenzen
Euro im sächsischen Frisörhandwerk, 3,50 Euro
(beim Zigarrenrauchen ist das eh klar)
von Har tz IV liegen. Das alles ist ein Skandal –
im Berliner Bewachungsgewerbe und 4,40 Euro
Gefallen an diesem
nun dem Kapital hilft oder der Eck-
aber es ist auch seit langem bekannt.
im Hamburger Hotel- und Gaststättengewerbe
kneipe oder beidem, aber beidem nicht
Warum erregt es auf einmal die Gemüter der
für rechtskonform zu erklären. Denn die rele-
zu helfen ist. Der Autor selbst, das sei
politischen Klasse? Kein Zweifel: Die politi-
vanten tariflichen Bezugsgrößen liegen eben nur
hier nachgetragen, ist übrigens seit
schen Akteure treibt – vorsichtig formulier t –
20 bis 30 Prozent darüber. Das alles liefe letzt-
neun Jahren Nichtraucher.
nicht ausschließlich die Sorge um das Schicksal
lich auf die Karikatur eines Mindestlohns und –
Schöne, nach Wunsch auch rauch-
der von Armutslöhnen Betroffenen. Hinter der
absurder Weise – einen Akzeptanzbeschaffer für
freie Feiertage wünscht die Schlussre-
SPD-Initiative dür fte sich weniger das neuer-
den Niedriglohnsektor hinaus!
dakteurin dieser Ausgabe,
wachte soziale Gewissen als vielmehr die Mach-
Was also tun? Das Rennen wegen unspor tli-
terhaltungslogik der Par teistrategen verbergen.
chem Verhalten der Kontrahenten abblasen?
Ohne eine Konturierung des sozialen Profils
Nein! Die Gewerkschaften haben in den vergan-
wird der Sturzflug der SPD in der Wählergunst
genen Monaten erheblichen Druck auf die
kaum zu stoppen und das Zer wür fnis mit den
Bundesregierung ausgeübt. Für sie ist die
Freitag 14
Rachel Vogt
Das richtige Leben im falschen
»SECOND LIFE« ■ Im virtuellen Raum der US-Betreiberfirma »Linden Lab« tummeln sich fiktive Figuren und reale Konzerne. Es wird viel gehandelt, manchmal auch etwas verdient
Hier sieht jeder 15 Jahre jünger aus als Dollars verkauft und sie später wieder in ech- ein US-Doller kostete auf dem Tiefpunkt 291 ber selbst zur ersten Dollarmillionärin bei Se- Was kostet wie viel bei »Second Life«?
in Wirklichkeit. Die Frauen haben
te Dollars umtauscht, zieht das Unternehmen
Linden-Dollar. Erst nachdem Linden Lab die
cond Life erklärte und es damit als erste Spiel-
Kugelbrüste und lange Haare, die
in der Wechselstube Lindex eine Gebühr ab.
Software gesperrt hatte, beruhigte sich der
figur auf die Titelblätter renommierter Wirt-
55 Linden-Dollar
Männer muskulöse Brustkästen,
Die tatsächliche Macht von Linden Lab be-
schaftsmagazine wie Business Week und
Zwei obszöne Gesten
schwere Kiefer und manchmal einen Penis.
steht jedoch auch in der neuesten aller Welten
Fortune schaffte. Die Großgrundbesitzerin,
100 Linden-Dollar
Die meisten sind leicht bekleidet, einige tra-
darin, worin sie in der alten Welt ebenfalls be-
Schwebende rosa Penisse
die von Linden-Chef Philip Rosedale »die
Pistole mit Schalldämpfer
gen Flügel, Tiergesichter, Tangas. Wer eine
steht: im Besitz von Land. Dass es dieses
Regierung« genannt wird, weil sie in ihrem
200 Linden-Dollar
besonders feine Haut zeigt, der hat dafür ex-
Land nicht wirklich gibt, macht keinen Un-
Störaktionen passieren regelmäßig. Als An-
Reich eigene Gesetze erlassen hat, kauft uner-
20 Gesichtsausdrücke
tra bezahlt.
terschied. Der Wert von Dingen ist ebenso
she Chung (mit richtigem Namen Ailin
schlossenes Land (also Speicherkapazität auf
In der virtuellen Online-Welt Second Life
groß wie die Sehnsucht danach.
Graef, eine Deutsch-Chinesin, die mit virtu-
den 1.750 Linden-Servern) und lässt von ihren
225 Linden-Dollar
bewegen sich die Spielfiguren, so genannte
In Second Life gibt es Festland und 4.000
ellen Immobilien wohl als einziger Mensch in
Mitarbeitern Landschaften anlegen, bevor sie
40 naturgetreue US-Straßenschilder
Avatare, als gingen sie auf Eis. Sie wandern
Inseln mit einer Gesamtfläche von 360 Qua-
Second Life wirklich reich geworden ist) im
diese weiterverkauft. In ihren in China domi-
300 Linden-Dollar
mechanisch durch Städte, durch Landschaf-
dratkilometern – ein Gebiet etwas größer als
Dezember ein Interview geben wollte, wur-
zilierten Anshe Chung Studios arbeiten in-
Fünf Tiergruppen (Kühe, Schafe, Enten,
ten mit fließendem Wasser und Wälder, sie
die bayerische Landeshauptstadt München.
de sie mit gigantischen, schwebenden, rosa
zwischen rund 30 Programmierer, die luxu-
Schweine, Frösche)
fliegen oder teleportieren sich in Sekunden an
Kaufen darf allerdings nur, wer eine Premi-
Penissen zugedeckt, während ein klassisches
riöse Orte erschaffen, an denen sich später
300 Linden-Dollar
einen anderen Ort, auf einen anderen Konti-
um-Mitgliedschaft für zehn Dollar pro Mo-
Crescendo ertönte. Selbst Mafia-Clans stei-
hübsche und reiche Avatare verlustieren.
Animier te Missionarsstellung
nent. Der Begriff Avatar kommt aus dem
nat besitzt. Ein Quadratmeter Land kostete
gen ein und ruinieren Geschäfte, indem sie
Sanskrit und bezeichnet das Herabsteigen ei-
im November 6,7 Linden-Dollar – bis Janu-
virtuellen Abfall abladen oder Programme
Nike, Schwab und Le Pen
450 Linden-Dollar
ner Gottheit auf die Erde. Und der Gott hin-
ar hatte sich wegen der erhöhten Nachfrage
installieren, damit ein Ort von den jeweiligen
Kur venreicher Frauenkörper mit Schmoll-
ter jedem Avatar ist ein Spieler oder eine Spie-
der Preis verdoppelt. Um eine Preisexplosion
Rechnern langsamer geladen wird.
Second Life ist mit der Weltwirtschaft ver-
mund von Flesh Inc.
lerin. Doch wozu treiben die Götter ihre mit
zu verhindern, programmierte Linden Lab
Neben solchen Aktionen und Verletzungen
bunden. Unzählige Firmen – die Zahlen vari-
500 Linden-Dollar
Fantasie-Namen getauften Figuren von über-
flugs 800 neue Inseln – bald schon soll ein
von Urheberrechten gibt es Markenfälschun-
ieren stark – haben bereits ihre eigenen Nie-
Set mit 22 Bewegungen (Rennen, Sitzen,
all her in diese unübersichtliche Welt? Was
weiterer Kontinent auf den Markt kommen.
gen (auch in Second Life herrscht eine uner-
derlassungen in dieser Zweiten Welt etabliert:
Kriechen, Schwimmen, Fallen, Fliegen ect.)
sollen die Figuren in diesem Universum, in
Die Betreiberfirma braucht natürlich eine
klärliche Lust auf Gucci) und Fälle von Geld-
Nike verkauft virtuelle Turnschuhe, Nissan
dem es – anders als bei anderen Multiplayer-
stabile Währung, um den Kunden gegenüber
wäscherei: Second Life kennt die Schatten-
hat auf einer eigenen Insel einen Fahrpar-
800 Linden-Dollar
Games wie World of Warcraft – keine Unge-
vertrauenswürdig auszusehen. Das Unter-
spiele einer modernen Wirtschaft besonders
cours eingerichtet, Toyota lanciert ein exklu-
Hochklassige asiatische Frauenhaut Chihiro,
heuer zu schlachten oder magische Schwerter
nehmen bestimmt deshalb die Menge von
gut. Die Ginko-Bank etwa lockt Avatare mit
sives Modell, IBM lässt seine Mitarbeiter
zu finden gibt? Die Erklärung lautet: Sie sol-
Linden-Land und Linden-Dollar (etwa durch
gigantischen Versprechen auf Renditen. Vor-
konferieren, American Apparel hat einen vir-
8.500 Linden-Dollar
len genau das Gleiche tun wie ihre Lenker in
die Erhöhung von Gebühren), um eine Infla-
würfe, dass sie diese auszahlt, indem sie sich
tuellen Shop mit seinem Online-Shopping-
Baum mit drei Baumhaus-Appar tments (mit
der realen Welt. Sich unterhalten via SMS, Sex
tion zu verhindern. »Unser Ziel ist es, den
bei den Einlagen anderer Kunden bedient –
Portal verlinkt. Seit Herbst berichtet ein
je einer Eingangshalle, zwei Zimmern und ei-
haben, sich beschimpfen, um die Ecken zie-
Kurs so konstant wie möglich zu halten – ge-
ein klassisches kriminelles Schneeballsystem
Londoner Korrespondent der Nachrichtena-
hen – und Geld in die Hand nehmen. Denn
nauso wie es die meisten Länder im globalen
praktiziert –, konnten noch nie wirklich ent-
gentur Reuters unter dem Namen Adam
9500 Linden-Dollar
Second Life ist keine gesellschaftliche Uto-
Markt auch versuchen«, meint Linden-Grün-
kräftet werden. Was Second Life allerdings
Reuters aus Second Life – er hat anlässlich des
Hochhaus, 350 Meter hoch
pie, sondern ein Markt.
der und -Chef Philip Rosedale. Der Kalifor-
nicht kennt, das sind Steuerbehörden. Doch
Weltwirtschaftsforums in Davos beispiels-
nier hat mit Linden Lab eine Zentralbank ge-
die werden allmählich aufgeschreckt vom me-
weise den Avatar von dessen Begründer
81.500 Linden-Dollar
Virtuelle Dollars – und echte
schaffen. Ein wichtiges Instrument der Geld-
dialen Hype, der momentan um Second Life
Klaus Schwab interviewt, der aussieht wie
Monatliche Nutzungsgebühr für rund 66.000
politik freilich fehlt – der Leitzins. Denn Lin-
tobt und der über traumhafte dreieinhalb Mil-
derjenige Mensch, den Schwab wohl mor-
Quadratmeter Land
Als die Betreiberfirma, die kalifornische Lin-
den Lab verleiht kein Geld. Noch nicht, sagt
lionen Spieler schwadroniert. (Linden Lab hat
gens im Spiegel gerne sieht: Mäusezähnig wie
465.278 Linden-Dollar
den Lab, im Sommer 2003 die Idee einer in-
Rosedale und träumt von einer raschen Ein-
diese Zahl inzwischen inoffiziell nach unten
immer, aber 30 Jahre jünger. Seit Dezember
Kaufpreis für rund 66.000 Quadratmeter
teraktiven, dreidimensionalen Welt hatte,
führung. »Dann hätten wir die traditionelle
korrigiert auf knapp zwei Millionen – eine
bringt der Springer-Konzern wöchentlich
fand sie zwar Geldgeber wie den Ebay-
Kontrolle, wie sie Regierungen haben.« – Ed-
Angabe, bei der auch jeder einmalige Besu-
die englischsprachige Boulevardzeitung The
Gründer Pierre Omidyar oder den Amazon-
ward Castronova, Professor an der Univer-
cher erfasst wird.) Man kann davon ausgehen,
Avastar heraus, in der es allerhand zu berich-
Erfinder Jeff Bezos – aber keine Spieler. Nach
sität von Indiana und einer der wenigen Öko-
dass etwa 300.000 Personen regelmäßig im Se-
ten gibt: Vom virtuellen Sundance Film Festi-
fünf Monaten hielten sich gerade einmal tau-
nomen, der sich mit Avataren-Welten aus-
cond Life unterwegs sind, davon jeweils rund
val etwa, über die Harvard Law School, die
send Menschen regelmäßig in der kahlen, lee-
kennt, nennt dies eine klassische Geldpolitik:
15.000 gleichzeitig. (Zum Vergleich: Acht
diplomatische Niederlassung Schwedens
ren Welt auf. Denn in Second Life gab es
»Alle Standard-Theorien der Mikro- und Ma-
Millionen Leute spielen das Online-Spiel
oder über die Attacken auf den Avatar des
nichts außer Software und Speicherplatz. Die
kroökonomie sind in der virtuellen Welt ge-
World of Warcraft.) Die Behörden jedenfalls
französischen Rechtspopulisten Jean-Marie
Welt sollte von den Usern erfunden werden,
nauso anwendbar wie im echten Leben.«
schalten sich bisher eher zögernd ein. In den
Le Pen, der vor der Präsidentenwahl poten-
wie sie auch sich selbst erfanden. Die Grün-
Doch bei einem – gemäß Linden Lab – mo-
USA, in Großbritannien und Australien wird
ziellen Wählern auflauerte.
der dachten schon daran, das Experiment ab-
natlichen Wachstum von zehn bis fünfzehn
augenblicklich debattiert, ob Gewinne und
Als Ziele der mitspielenden Unternehmen
zubrechen, entschieden sich aber, weiter zu
Prozent können die Dinge schon einmal ins
Einkommen, die in der virtuellen Welt erzielt
gelten Mitarbeiter-Training, Marktforschung
machen, nachdem sie wieder eine Idee hatten.
Schleudern geraten, da es in dieser »Neuen
wurden und auch dort verbleiben, versteuert
und Publizität. Selbst die PR-Firmen, welche
Sie anerkannten geistiges Eigentum. Das be-
Welt« keine Richtlinien, Regulationen oder
werden sollen oder nicht.
die virtuellen Auftritte begleiten, wollen in
deutete fortan, dass alles, was programmiert
Kontrollen gibt. Ein allgemeiner Kodex for-
Bei den Spielfiguren von Second Life han-
erster Linie experimentieren. Sie wollen be-
wurde, den Spielenden selbst gehörte. Und
dert lediglich artiges Benehmen: »Verhalte
delt es sich vorzugsweise um Bodyguards,
reit sein, wenn die dreidimensionalen Uni-
damit wurde alles käuflich. Der virtuelle
dich nicht abfällig!« – »Verhalte dich gesit-
Nachtclubbesitzer, Modedesigner, Architek-
versen einmal größer sind als eine eingangs
Markt war geboren – und er war sehr real.
tet!« – »Störe nicht den öffentlichen Frie-
ten, Tänzer, Glücksspielbetreiber und Cam-
erwähnte Stadt in Bayern.
Wie also funktioniert dieses Wirtschaftssy-
den!« und so weiter. Mehr als die Macht von
per (die herumstehen, um andere Leute an-
stem? Indem die Betreiberfirma Linden Lab
Linden Lab fürchten die Bewohner von Se-
zulocken), Prostituierte und Spekulanten.
siehe: http://secondlife.com/ http://secondlife.com /world/de/http://getafirstlife.com / http://secondlife.reu-
zwar die User untereinander Handel treiben
cond Life denn auch die Gesetzlosigkeit und
Verdienen tun sie nicht sonderlich viel. Gera-
ters.com / http://www.the-avastar.com.
lässt, aber schlussendlich über alle Macht ver-
die eigene Verletzlichkeit, die im November
de einmal 17.000 Spieler erwirtschaften einen
Und als Literatur Michael Rymaszewski et al.: Second Life.
fügt: Sie hat eine virtuelle Währung einge-
durch eine Hackerattacke offenkundig wur-
Gewinn – mehr als die Hälfte davon weniger
The Official Guide. Wiley & Sons, 2006. 342 Seiten. Ab Mai
führt – den Linden-Dollar – und diesen an
de. Die Software Copybot hatte Avatare und
als zehn US-Dollar pro Monat. 90 Leute ver-
den US-Dollar gekoppelt (1 US-Dollar ent-
Objekte kopiert – Second Life-Geschäftsleu-
dienen im gleichen Zeitraum über 5.000
Rachel Vogt (35) ist im ersten Leben Journalistin. Sie arbei-tet in Zürich als Redakteurin der WochenZeitung WOZ für
spricht rund 270 Linden-Dollar). Wenn Lin-
te schlossen aus Protest ihre virtuellen Ge-
Dollar. Einzige Ausnahme blieb bislang die
die Ressorts Politik und Wirtschaft. Daneben schreibt sie an
den Lab den hübschen Avataren virtuelle
schäfte und lösten dadurch eine Inflation aus,
erwähnte Anshe Chung, die sich im Novem-
einem abenteuerlichen Buch über Polarliteratur.
Freitag 14
Körperlich und geistig behinderte
Birgit Borsutzky
me wie zu Hause. Mit schlechten Erinnerun-
Menschen im Rentenalter gab es
gen an die Nazi-Zeit habe das nichts zu tun.
Susi müsse rund um die Uhr betreut werden.
in Deutschland bisher kaum. Die
»Bleibt sie sich selbst überlassen, dann ver-
Jahrgänge vor 1945 waren der
kümmert sie«, ist die Mutter überzeugt. Zwar
hat Susi eine Schule für geistig behinderteMenschen besucht. Lesen und schreiben
»Euthanasie« zum Opfer gefallen.
Nur für den Notfall bleibt
kann sie freilich nicht.
Doch werden – nicht zuletzt dank
In der 84 Quadratmeter großen Wohnung
des medizinischen Fortschritts –
hat die Tochter ihr eigenes Zimmer. Auf demTisch neben der Tür steht ein Kassettenre-
behinderte Menschen heute älter
korder, Bänder mit Volks- und Musical-Mu-
als früher. Kinder sollen ihre Eltern
sik liegen auf der Fensterbank. Nur das Bett
überleben. Ist das Kind
im Schrank war noch nie ausgeklappt. Immer
pflegebedürftig, müssen Eltern
IN DER OBHUT DER FAMILIE BIS ZUM SCHLUSS ■ Seit 51 Jahren betreuen Anna und Horst Radeck ihre
schon übernachtet Susi im Schlafzimmer derEltern. »Allein im Dunkeln fürchtet sie sich«,
manchmal anders denken.
behinderte Tochter und konnten es sich nie anders vorstellen
erklärt die Mutter. Und was vor Jahrzehnteneine Möglichkeit schien, dass sich nämlich die
Es ist eine gute Geschichte, solange sie
Tochter hätte abnabeln und mit Freunden
nicht aufhört und Anna Radeck tut,
oder Kollegen aus ihrer Werkstatt in eine be-
was zu tun ist. An das Ende ihrer Auf-
treute Wohngemeinschaft ziehen können –
gabe denkt sie nicht. Oder fast nicht.
das sei aus Sicht der Eltern undenkbar gewe-
Weil es auch das Ende der Geschichte wäre.
sen. »Damals war das Angebot für Behinder-
Keine Zukunft, allein Vergangenheit und Ge-
te noch nicht so wie heute.« Und Susi jetzt
genwart füllen das Wohnzimmer mit Regeln
noch ins kalte Wasser zu stoßen, wäre grau-
und Geboten. »Bloß nicht siezen«, sagt die
82-Jährige sofort. Ihre Tochter Susanne ist 51Jahre alt. Wer mit ihr reden will, der sollte sie
Das ist die kleine Hoffnung
am besten mit »Susi« ansprechen, rät dieMutter.
Das Wohnzimmer der Radecks ließe sich
Susi hat das Down-Syndrom. Sie sitzt im
ohne weiteres als ein Domizil älterer Men-
Schottenrock und rotweiß gestreiften Pul-
schen empfinden, würden nicht Kuscheltiere
lover auf dem Sofa und freut sich offenbar
auf Sofalehne und Tisch liegen. Als Erwach-
über den Besuch. Ihre Nägel sind rot lackiert,
sene könnte sie ihre Tochter beim besten Wil-
sie hört zu, nickt manchmal und lacht. Sie
len nicht sehen, meint die Mutter. Entschluss-
versteht, was gesprochen wird, und wer län-
fähigkeit und Urteilsvermögen fehlten gänz-
ger mit ihr redet, versteht auch ihre Antwor-
lich. Auf die Frage, ob beides eine notwendi-
ten. »Keine Lust zum Malen«, sagt sie und
ge Bedingung fürs Erwachsensein sei, zuckt
schiebt auf Papier gezeichnete Elefanten von
sie mit den Schultern. »Sie ist doch immer
sich, als hätte ihr das Malen noch nie Spaß ge-
noch ein Kind.«
macht. Lieber zeigt sie das Foto ihrer
Der Vater zeigt ein Dokument aus dem Jahr
Schwimmgruppe. Einmal in der Woche fährt
1995, in dem ein Arzt der Tochter eine aus-
die Mutter mit ihr zum Training und
gesprochen kindliche Persönlichkeitsstruk-
schwimmt gleich mit. Susi spielt auch Tisch-
tur attestiert. »Sie muss aus eigenem Willen
tennis, übt Gymnastik oder trifft sich mit Ar-
ausziehen wollen«, sagt die Mutter. Wie Susi
beitskollegen aus der Behindertenwerkstatt.
das ohne eigene Entschlussfähigkeit bewerk-
Auf die Frage, ob sie die Behinderung ihrer
stelligen soll, bleibt offen.
Tochter schon einmal als Last empfunden
Dass sie und ihr Mann selbst zum Pflege-
habe, schüttelt die Mutter den Kopf. Statt
fall werden oder plötzlich sterben könnten,
dass sich alles um Susi drehe, sagt sie, sei die-
weiß Anna Radeck. Beim Bruder oder bei
se in den Alltag der Familie integriert. Susi
der Schwester, die beide mit Anfang 20 aus-
wäscht sich morgens allein, zieht sich an und
gezogen sind, könnte Susi nicht wohnen.
schmiert das Brot, das die Mutter geschnitten
»Die haben ihre Arbeit und nicht die Zeit, sie
hat, bevor sie der Minibus in die Werkstatt
rund um die Uhr zu betreuen«, weiß die
fährt. Manchmal hilft sie auch im Haushalt,
Mutter. Die Eltern haben Susi deshalb vor
fegt die Küche oder trägt die Tüten vom
zehn Jahren für einen Wohnheimplatz ange-
Markt nach Hause. Schließlich ist sie kräfti-
meldet. Für den Notfall. Damals haben sie
ger als die Mutter. Wenn Radecks in den Ur-
das erste Mal daran gedacht, dass sie irgend-
laub fahren, kommt Susi natürlich mit.
wann vielleicht nicht mehr für ihre Tochtersorgen könnten. Ein Gedanke, der von denRadecks verständlicherweise schnell wieder
verbannt wird, über den sie nicht weiter re-
Allein im Dunkeln
den wollen. »Solange es noch geht, bleibt siebei uns«, sagt die Mutter. Sie selbst sei noch
»Ich habe noch Vater und Mutter«, sagt Susi
ohne weiteres in der Lage, die Tochter zu be-
auf die Frage, ob sie nicht lieber mit Freun-
treuen. Vieles gehe nur langsamer als früher.
den oder Arbeitskollegen aus der Werkstatt
»Aber bei Susi auch« – und es klingt wie ein
zusammen leben würde. Und der Vater,
Horst Radeck, meint: »Uns geht es doch gut.
Möglicherweise müssten sie bald damit
Warum sollten wir klagen?« Wie seiner Frau
rechnen, dass die Tochter an Alzheimer lei-
ist dem 82-Jährigen sein Alter nicht anzuse-
den werde, denn diese Krankheit treffe Men-
hen. Auch finanziell bräuchten sie sich nicht
schen mit Down-Syndrom oft sehr viel
zu sorgen. Als ehemaliger Postbeamter be-
früher als gesunde. Auch alterten sie schnel-
komme er eine gute Pension. Außerdem gäbe
ler. Unwahrscheinlich sei es nicht, dass die
es noch das Pflegegeld und Susis Erwerbsun-
Tochter vor den Eltern sterbe. Die Mutter
AUS KLEINEN GESTEN WERDEN OFT DIE GRÖSSTEN TATEN.
senkt den Blick, zögert, und dann sagt sie es
Anna Radeck glaubt nicht, dass ihre Toch-
doch: »Das ist die kleine Hoffnung, die uns
ter in einem Heim die gleiche Fürsorge bekä-
Wir suchen Menschen, die nach den Sternen
Geistig behinderte Menschen im Alter
greifen oder anderen dabei helfen. Heldinnen und Helden des Alltags, die mit Mut
Der Bundesverein Lebenshilfe schätzt, dass in Deutschland von den etwa 250.000
und Engagement die Welt ein kleines Stück
geistig behinderten Erwachsenen, die in Werkstätten arbeiten, 60 bis 70 Prozent
verbessern. Leute, die nicht mit dem, was ist,
in der Familie, meist bei ihren Eltern leben. »Der Anteil älterer Menschen, die in Kür-
zufrieden sind und es auch zu ändern vermögen.
ze das Rentenalter erreichen, ist besonders hoch«, sagt die stellvertretende Bun-
desvorsitzende Maren Müller-Erichsen. Viele Eltern, deren geistig behinderte Kin-
der bald nach 1945 geboren wurden, seien maßgeblich davon beeinflusst gewesen,
dass nach dem Ende der Nazi-Zeit der Gedanke des Gnadentods in vielen Köpfen
Helfen Sie uns, diese besonderen Menschen zu
noch präsent war und zuweilen auch geäußert wurde. »Die Eltern konnten das kaum
finden. Die taz zeichnet ehrenamtliches
verarbeiten und fühlen sich nun für ihre – erwachsenen – Kinder allein verantwort-
Engagement aus und vergibt zusammen mit
einer prominent besetzten Jury jährlich
Oft bleiben geistig behinderte Erwachsene für die Eltern ein Leben lang das be-
den Panterpreis. Der Preis ist mit 2 x 5 000 Euro
treuungsbedürftige Kleinkind. »Die Angehörigen sehen sich dann mehr als bei einer
körperlichen Behinderung in der Pflicht, möglichst lange für ihr Kind zu sorgen«, sagt
Dr. Stephan Faust, Rechtsanwalt und Berater beim Allgemeinen Behindertenver-
Bewerbungsschluss ist der 5. Mai 2007
band Land Brandenburg.
Ob ihr erwachsenes Kind in eine Wohnstätte für Behinderte zieht oder nicht, ent-
scheiden die Eltern freilich nicht immer allein. Wer die Heimkosten nicht selbst zah-
len kann, beantragt Sozialhilfe. Der Sozialhilfeträger prüft dann, ob eine stationäre
Betreuung notwendig ist oder ambulante Hilfen reichen. Dabei steht die Behinder-
tenpolitik der stationären Betreuung grundsätzlich kritisch gegenüber. Das Sozial-
gesetzbuch (SGB) IX hat 2001 einen Paradigmenwechsel eingeleitet: Das Streben
nach Selbstbestimmung und Teilhabe hat den reinen Fürsorgegedanken abgelöst.
So plädiert die Bundesinitiative Daheim statt des Heimauenthalts für mehr ambu-
lante Versorgungsstrukturen und den Aufbau kleiner Wohngruppen, um behinder-
ten Menschen ein selbst bestimmtes Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.
Ungeachtet dessen bleibt die Frage, was mit geistig behinderten Menschen im
Greisenalter passiert, die rund um die Uhr betreut werden müssen. Altenheime sind
Der Preis für HeldInnen des Alltags
in der Regel dazu nicht in der Lage. Selbsthilfe- und Wohlfahrtsvereine prüfen da-
her neue Konzepte, die ein würdevolles Altern für geistig behinderte Menschen er-
möglichen. Dass andere Länder Deutschland in dieser Hinsicht voraus sind, hat hi-
Mehr Informationen: www.taz.de/panter
storische Gründe: Die NS-Diktatur hat frühere Generationen behinderter Menschen
Bewerbungen: die tageszeitung „Panterpreis" Kochstr. 18 10969 Berlin [email protected]
nahezu ausgelöscht.
Freitag 14
FREITAG: Derzeit wird in Deutschland
stufe festzustellen. Die wäre dann nur das
wieder lebhaft über Patientenverfü-
»Abfallprodukt« eines solchen Verfahrens.
gungen diskutiert, während die Debat-
Die Ausweitung des Pflegebegriffs, das muss
te um die anstehende Reform der Pfle-
man deutlich sagen, führt aber nicht automa-
geversicherung nur schleppend in Gang
tisch zu einer Leistungsausweitung und darf
kommt. Sehen Sie Bezugspunkte und glauben
dies auch nicht.
Sie, dass über Patientenverfügungen disku-tiert wird, weil man über die Pflege nicht
Der Druck auf die Pflegekasse entsteht auch,
sprechen will?
weil Demenzkranke in das Sicherungssystem
THOMAS KLIE: Die beiden Gesetzes-
der Pflegekasse einbezogen werden sollen. Sie
initiativen haben zwar eine thematische Ver-
werben seit Jahren dafür, dass das Leben mit
bindung, werden aber doch in sehr unter-
Demenzkranken nicht nur Last, sondern
schiedlichen Kontexten diskutiert. Während
auch Gewinn sein kann.
es im einen Fall darum geht, wie wir den so-
Wir wissen dank unserer Göttinger Kolle-
zialstaatlichen Beitrag zur Pflege ausgestalten
gen um Andreas Kruse, dass wir in absehba-
können, geht es im anderen um die Selbstbe-
rer Zeit keine Therapien für Demenzkranke
stimmung und Autonomie des Patienten an-
haben werden und es in diesem Bereich Hilfe-
gesichts von dramatisiert kommunizierten
bedarf nicht-pflegerischer Art gibt. Men-
Lebensende-Konstellationen – etwa bei
schen mit Demenz geben viele Anzeichen für
Zufriedenheit, wenn sie unter verträglichenBedingungen und eingebettet in helfende Be-
Diese Diskussion wird derzeit in vielen eu-
ziehungen leben. Man darf das nicht ver-
ropäischen Ländern geführt.
klären, aber ihr Leben gelingt offenbar in an-
Ja, denken Sie nur an die kürzliche Er-
derer Weise, als wir uns mit unserem selbst
klärung von 2.000 Ärzten in Frankreich, die
kontrollierten Konzept von Zufriedenheit
einräumen, sie hätten Menschen zu Tode ge-
annehmen. Für uns besteht die kulturelle
bracht und sich wünschen, dass dies entkri-
Herausforderung darin, dass wir nicht nur
minalisiert wird. Ich bin ein entschiedener
allen Menschen ein Lebensrecht zusprechen,
Gegner einer gesetzlichen Regelung von Pa-
sondern auch Lebensqualität und Zugehörig-
tientenverfügungen – zumindest zu diesem
keit. Das hängt nicht nur von sozialen Siche-
Zeitpunkt –, weil Sekundärwirkungen auf ei-
rungssystemen ab, sondern von der Grund-
ner ganz anderen Ebene zu befürchten sind.
haltung der Gesellschaft. Wir können viel
Die Sorge um menschenwürdige Bedingun-
dazu beitragen, dass Menschen mit Demenz
gen am Lebensende könnte Menschen dazu
gewürdigte Menschen sind und sich als sol-
bringen, eine Patientenverfügung zu unter-
che empfinden.
schreiben. Gerade das wäre dann nicht Aus-druck von Selbstbestimmung. Wir sollten
Aber wir pflegen doch gerade unser Bild von
also zuerst für Rahmenbedingungen in der
Selbstbestimmung und Autonomie?
Pflege sorgen, um Menschen nicht aus Angst
Der Zivilisationsprozess unserer Gesell-
vor einem unwürdigen Lebensende zu ver-
Die Erfahrung mit Pflege
schaft zielt immer stärker auf die Kontrolle
anlassen, in Patientenverfügungen Auswege
zwischenmenschlicher Beziehungen und auf
Selbstkontrolle ab. Wir bräuchten eine Zivi-lisation zweiter Ordnung, die unsere Gesell-
Ende 2005 zählte die Statistik 2,13 Millionen
schaft an den kulturellen Wert erinnert, jeden
Pflegebedürftige, bis 2040 werden es rund
verändert unsere Prioritäten Menschen, unabhängig von dem, was er ist
vier Millionen sein. Gleichzeitig verändern
und kann und unabhängig von unseren Kon-
sich die Lebensumstände, wir müssen mobiler
ventionen, als lebenswert und lebendig zu se-
und flexibler sein, was sich mit langfristiger
hen. Dieser Aspekt ist gerade auch im Kon-
Betreuungsarbeit nicht verträgt. Und die
IM GESPRÄCH ■ Der Rechtswissenschaftler Thomas Klie über die Reform der Pflegekasse, eine
text von Patientenverfügung und Sterbehilfe
Pflegekasse steht früher oder später vor dem
von großer Bedeutung. Wir dürfen nicht pro-
Exodus. Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
ultimative Familienpolitik und die Notwendigkeit, eine »Zivilisation zweiter Ordnung« zu schaffen
vozieren, dass pflegebedürftige oder de-
Die Sicherung der Pflege ist auf Dauer über
menzkranke Menschen ihr Leben als lebens-
die Pflegeversicherung nicht möglich, sie ist
Marktflexibilisierung sein. Die Pflegeversi-
unwert betrachten. Und denken Sie daran,
auf die Solidaritätsbereitschaft in Familien
Nachdem am 1. April der erste Teil der Ge-
Um ein Szenario wie bei der Gesundheits-
cherung ist primär für die Betroffenen da und
dass viele Menschen, wenn sie über 40 sind –
und in der Partnerschaft angewiesen, aber
sundheitsreform in Kraft getreten ist und
reform zu vermeiden, wollte Gesund-
keine Versicherung der Dienste.
und ich gehöre dazu – Erfahrung mit Pflege
eben auch auf die Solidarität zwischen den
das Gesundheitsministerium in einer
heitsministerin Schmidt ursprünglich ge-
haben und sagen, das hat die Prioritäten in
Generationen. Mit der innerfamiliären Pfle-
großangelegten Anzeigenkampagne verba-
meinsam mit ihren Kollegen Horst Seeho-
Derzeit werden zwei Drittel aller Pflegebe-
meinem Leben verändert.
gebereitschaft in dem tatsächlichen Ausmaß
le Beruhigungspillen verabreicht, ist die
fer und Ursula von der Leyen bis Frühjahr
dürftigen zuhause versorgt, rund 670.000 im
hat der Gesetzgeber 1994 bei der Einführung
nächste Sozialbaustelle, die Reform der
ein Konzept vorlegen. Doch die exklusiv ta-
Heim. Obwohl das Heim aber erheblich teu-
Das Gespräch führte Ulrike Baureithel
der Pflegeversicherung nicht gerechnet. Die
Pflegekasse, schon weiträumig abge-
gende Runde wurde im März durch einen
rer ist, hat man den Eindruck, dass das Prin-
Pflegekasse wäre schon um die Jahrhundert-
steckt. Die 1995 eingeführte und im Ge-
Querschuss aus Bayern aufgeschreckt:
zip »ambulant vor stationär« von der Politik
Professor Dr. Thomas Klie lehrt öffent-liches Recht und Verwaltungswissen-
wende finanziell am Ende gewesen, wenn die
gensatz zu den übrigen Sozialkassen von
Sozialministerin Christa Stewens schlug
gar nicht erwünscht ist, denn je nach Pflege-
schaften an der Fachhochschule Frei-
damals angenommenen Bedingungen einge-
den Versicherten alleine finanzierte Pflege-
vor, die Pflegekasse durch die Einführung
stufe wird die stationäre Unterbringung stär-
burg und ist unter anderem Experte für
treten wären. Schon da war bereits absehbar,
versicherung wird weder die Schwankun-
von pauschal sechs Euro pro Versicher ten
ker subventioniert als die ambulante. Wie er-
soziale Gerontologie und zivilgesell-
dass ein umlagefinanziertes System langfri-
gen auf dem Arbeitsmarkt noch die demo-
finanziell zu stabilisieren. Diese »kleine«
klären Sie sich das?
stig keine Zukunft hat. Das war durchsetzbar,
grafischen Veränderungen der kommenden
Kopfpauschale wurde seitens der SPD,
Die Abwägungen ob Heim oder nicht
weil die Bevölkerung an das System der So-
Jahrzehnte auffangen können. Zwar ist die
die lieber auf eine moderate Beitragsan-
Heim sind bei den Betroffenen meist ökono-
zialversicherung glaubt und hofft, dass es Sta-
Pflegekasse keine Rundum-Versicherung,
hebung setzt, schon aus ideologischen
mischer Art: Es wird überlegt, was das Heim
bilität schafft. Wir werden aber ein solches Si-
sondern gewähr t nur eine Grundversor-
Gründen ver wor fen. Der im Hinblick auf
kostet, weil durch die Zuzahlung möglicher-
cherungsniveau, wie wir es heute haben, für
gung. Doch seit ihrer Einführung wurde der
die Gesundheitsreform beigelegte Streit
weise ein Erbe verloren geht oder die Kinder
nachfolgende Generationen nicht erhalten
Beitragssatz von 1,7 Prozent – abgesehen
Kopfpauschale versus Bürger versiche-
zuzahlen müssen. Oder es wird abgewogen,
vom so genannten Kinderlosen-Zuschlag –
rung droht sich im »Pflegefall« zu wieder-
welche Nachteile mit der Pflege verbunden
nie erhöht, und auch die Pflegesätze wur-
sind, für den Beruf oder für den Urlaub, und
Plädieren Sie stattdessen eher für kapitalge-
den seither nicht angepasst. Inzwischen
Die Sozialdemokraten wollen dieses Mal
wie sie die Familie belastet. Auch das sind
müssen 28 Prozent aller Pflegebedür ftigen
auch die Privatversicher ten mit ins Boot
letztlich ökonomische Erwägungen, die viel
Ich würde für eine Mischfinanzierung plä-
und mehr als die Hälfte der Heimbewohner
holen, weil sie das derzeitige System für
stärker wirken als moralische. Dies und das
dieren – aus Umlage, Kapital und Steuer –
(in Pflegestufe III) aus eigener Tasche drauf-
ungerecht halten. Diese zahlen bisher
generell schlechte Image von Heimen führen
und schauen, wie die Mittel effektiv einzu-
zahlen oder bei Bedür ftigkeit Sozialhilfe in
zwar weniger ein, erhalten aber die glei-
zu einer deutlichen Begrenzung der Heim-
setzen sind. Pflege bleibt eine sozialstaatli-
Anspruch nehmen.
chen Leistungen aus der Kasse. Dieser
unterbringungen Zusätzlich wird mancher-
Die Flaschenpost für
che Aufgabe. Sie wird überwiegend in Netz-
Doch nicht nur der finanzielle Rahmen der
Vorstoß findet auch Unterstützung in der
orts geprüft, ob bei Pflegestufe I überhaupt
werken geleistet – traditionell in Familien,
Kasse soll überdacht werden, sondern
Opposition. In einem bereits Ende ver-
eine Heimbedürftigkeit vorliegt, wenn die
Herausgegeben vom Bund gegen Anpassung
künftig vielleicht auch in anderen Netzwer-
auch die Rahmenbedingungen der Pflege.
gangenen Jahres vorgestellten Reformpa-
Sozialhilfe zuzahlen müsste. Sie haben aber
ken. Wenn man will, dass dies so bleibt –
So sind heute demenzkranke Menschen
pier drängen die Grünen auf eine solidari-
insofern recht, als sehr viel Geld aus dem
Wollen Sie sie nicht doch mal lesen?
trotz rückläufiger Kinderzahlen, einer
immer noch erheblich schlechter versorgt,
sche Finanzierung der Pflege, zumindest
Topf der Pflegeversicherung in die Heime
höheren Frauenerwerbstätigkeit und zuneh-
weil sich die Pflegebedür ftigkeit vor wie-
aber auf die Einführung eines Finanzaus-
geht und das Leistungsrecht mit dem Grund-
mender Mobilität – dann muss man inves-
gend an ihrer körperlichen Ver fassung ori-
gleichs zwischen privater und gesetzlicher
satz ambulant vor stationär nicht Ernst
tieren in die Pflegebereitschaft der Men-
entier t, ihr Pflegebedar f unter Umständen
Versicherung und auf den Aufbau einer
schen und entsprechende Rahmenbedin-
aber größer ist als bei körperlich Einge-
Demographiereser ve.
gungen schaffen. Pflegepolitik ist vor allem
schränkten. Ein wichtiger Neuansatz könn-
Die unionsregier ten Länder reagier ten auf
auch Familienpolitik. Nicht nur Kinderer-
te auch die Einführung des persönlichen
den bayrischen Alleingang eher verhalten,
Für uns besteht die kulturelle Heraus-
ziehung und Berufstätigkeit sollten zu ver-
Pflegebudgets sein, das seit 2004 bereits
vor allem, weil mit sechs zusätzlichen
forderung darin, dass wir nicht nur allen
einbaren sein, sondern wir müssen auch die
im Behinder tenbereich getestet wird.
Euro keine Pflege zu machen ist, auch
Pflegearbeit und die Transferleistungen dar-
Statt an die Dienstleister oder Heime zahlt
wenn sie über zwanzig Jahre angespar t
Menschen ein Lebensrecht zusprechen,
auf ausrichten.
die Pflegekasse unmittelbar an die Be-
und verzinst werden.
sondern auch Lebensqualität und
troffenen, die eigenständig Leistungen
Bemerkenswer t ist, dass in den letzten
auf dem Markt einkaufen. Zur Disposition
Wochen zwar viel über das individuell be-
stehen auch die starren Pflegestufen, die
stimmte und geplante Lebensende dis-
Wenn die Familien kleiner werden, wird es
dazu führen, dass gute Pflege – etwa wenn
kutier t wird, aber nicht über würdiges
sich ein Patient so gut erholt, dass er in
Leben im Alter. Die Reform der Pflege-
wichtiger, dass man Netzwerke mit einem
Seit Jahren gibt es eine Diskussion, dass dem
die jeweils niedrigere Stufe kommt – be-
kasse könnte hierzu endlich ein Anlass
Leistungsrecht ein unzulänglicher Pflegebe-
gemeinsamen Wertehintergrund pflegt
straft wird.
griff zugrunde liegt, weil er einseitig am kör-perlichen Befinden orientiert ist. Das Mini-sterium hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um
Aber nimmt die Pflegebereitschaft in den Fa-
ein Leitbild der geteilten Verantwortung set-
Alle Beteiligten beklagen, dass seit 1995 die
den Pflegebegriff zu überarbeiten. Wie be-
milien nicht generell ab? Wie haben wir uns
zen: Familienangehörige, Freunde und auch
Pflegesätze nicht mehr angehoben wurden.
werten Sie diese Debatte und auf welche Wei-
die von Ihnen genannten Netzwerke vorzu-
bürgerschaftlich Engagierte teilen sich die
Was müsste hier passieren?
se würden Sie sich den Pflegebegriff ausge-
Aufgaben mit den Fachkräften und andern
Durch eine stärkere Flexibilisierung der
dehnt wünschen?
Nach wie vor gelingt es vielen Familien im-
Berufstätigen, die bei der Assistenz Aufgaben
Leistung und des Marktes ließe sich eine
Pflege dient ja der Sicherung der Lebens-
mer noch – bei allen Belastungen, die das mit
deutlich höhere Bedarfsdeckung erzielen, das
qualität, und mir erscheint bei der Überar-
86 S., 7 Abb., € 4.50 (Abo: 6 Hefte, € 30.50 inkl. Versand) / ISSN 0930-0503
sich bringt – die Pflege ihrer Angehörigen zu
zeigen die Erfahrungen mit dem personenbe-
beitung des Pflegebegriffs wichtig, dass künf-
Aus der neuesten Ausgabe: Fritz Erik Hoevels: .
sichern. Dennoch gibt es regionale und mi-
Das heißt, wir brauchen neue Unterstüt-
zogenen Pflegebudget, das wir aus dem Be-
tig alle relevanten Bedarfe erhoben werden,
oder ein Nationalsozialist . • Kurt Tucholsky: Der
lieuspezifische Unterschiede. Die Bereit-
zungsmodelle, die die Last der Angehörigen
hindertenbereich kennen. Unter der Voraus-
auch die, die über das hinausgehen, was die
Exodus • Kurt Tucholsky: Der Reichstagsbericht • Aus
schaft, allein und ohne professionelle Unter-
setzung, dass nicht alles geleistet werden
Pflegeversicherung bisher zu leisten in der
der Welt der Ideologeme (V): Was ich schon immermal kapieren wollte • Angela Virjat: Verräterischer US-
stützung zu pflegen, ist im bürgerlichen Mi-
Die Last muss verteilt werden, würde ich
kann, überlässt man es dem Betroffenen, der
Lage ist. Notwendig sind auch Maßnahmen,
Hang zur Symbolik • Hetze gegen Leipziger Stadtschü-
lieu sehr viel weniger ausgeprägt als in der
sagen. Alleinpflegende Angehörige sind oft
fachlich beraten darüber entscheidet, was
um die Pflegebedürftigkeit zu verhindern
lersprecher • Kerstin Steinbach: Obermaier und
traditionellen Unterschicht, insbesondere im
überfordert, und Depressionen sind in dieser
ihm besonders wichtig ist. Man könnte aber
und es pflegebedürftigen Menschen ermögli-
Schwarzer – und das soll alles gewesen sein? • Der
Migrantenmilieu oder in Haushalten, die auf
Gruppe besonders verbreitet. Das Leitbild
auch die Leistungserbringer einladen, flexible
chen, an der Gesellschaft teilhaben zu kön-
unterschlagene Fall José Maria Sison: EU entrechtetauf US-Befehl heimlich Oppositionelle
das Pflegegeld angewiesen sind. Wenn aber
»Heldin der Pflege« ist einfach nicht mehr
Leistungspakete anzubieten, die sich von den
nen. Sie müssten zusammen mit Fachkräften
die Familien kleiner werden, wird es wichti-
zeitgemäß und gefährlich für sie selbst und
aushandeln können, was geboten und was in-
ger, dass man Netzwerke mit einem gemein-
die Pflegebedürftigen, weil die Isolation und
lösen. Dagegen wehren sich die Pflegedien-
dividuell erwünscht wird, so etwa wie das in
samen Wertehintergrund pflegt. Wir brau-
die auf zwei Personen konzentrierte Pflege-
ste, die Einkommensverluste befürchten und
den Niederlanden der Fall ist. Das hätte eine
Postfach 6569, 79041 Freiburg, Tel: 0761/502303, Fax: 502247
Bestellungen per e-mail: [email protected] oder über Warenkorb auf
chen solche modernen leistungsfähigen
situation überfordert. Unter Umständen
die bisherigen Tarife nicht verlieren wollen.
Veränderung der Begutachtung zur Folge,
Netzwerke, und wir sollten viel stärker auf
kann das in einer Gewaltspirale münden.
Das kann aber kein Argument gegen eine
weil es ja nicht nur darum ginge, eine Pflege-
Freitag 14
Die Polizei steht derzeit nicht gut da: In
Jalloh in Polizeigewahrsam 2005 verantwor-
Berlin äußern sich Polizeischüler an-
ten müssen, wäre ohne den zähen Kampf von
tisemitisch und wollen nichts über
Flüchtlingsgruppen und antirassistischen
den Holocaust wissen. In Frank-
Initiativen nicht zustande gekommen.
furt/Main tauscht Michel Friedmans ehema-
»Die gängige Praxis, Verfahren einzustellen,
liger Personenschützer nach Dienstschluss
schwächt das Unrechtsbewusstsein in der Po-
symbolisch die grüne gegen die braune Uni-
lizei und ist für die Opfer psychisch verhee-
form. In Dessau stehen zwei Polizisten vor
rend«, meint Helga Seyb, Mitarbeiterin der
Gericht, weil in ihrem Gewahrsam ein gefes-
Beratungsstelle Reach Out in Berlin. »Gera-
selter Asylbewerber zu Tode kam. Sind Poli-
de Migranten haben oft ein großes Vertrauen
zisten notorisch rechts, rassistisch und ge-
in die deutsche Demokratie. Werden sie Op-
fer rassistisch motivierter Polizeigewalt und
In regelmäßigen Abständen kommen Fälle
ihnen wird nicht geglaubt, weil Aussage gegen
an die Öffentlichkeit, die Anlass zur Sorge ge-
Aussage steht und die der Beamten schwerer
ben, und genauso regelmäßig wird von Ver-
gewichtet wird, sind sie doppelt traumatisiert
waltung und Politik beteuert, es handle sich
und aus der Bahn geworfen.«
um Einzelfälle, um »schwarze Schafe«. Die
In seinem letzten Länderbericht fordert der
Polizei könne nur Spiegelbild der Gesellschaft
UN-Menschenrechtsausschuss die deut-
sein, heißt es abwehrend, eine Perspektive, die
schen Ermittlungsbehörden auf, alle Miss-
angesichts des wachsenden Neonazismus und
handlungsvorwürfe vor Gericht zu klären,
der weiten Verbreitung von Fremdenfeind-
und rügt abschreckende Gegenanzeigen we-
lichkeit und Rassismus wenig beruhigend ist,
gen »Widerstands gegen die Staatsgewalt«
vor allem für die potenziellen Opfer polizei-
oder »Verleumdung« durch die beschuldig-
licher Übergriffe. In der Regel sind es linke
ten Beamten. Wie abschreckend die Wirkung
Demonstranten und Angehörige von Min-
solcher Anzeigen vor allem für Ausländerin-
derheiten mit »geringer Beschwerdemacht«,
nen und Ausländer ist, lässt sich daran er-
wie es im Fachjargon heißt. Deutlich über-
messen, dass eine Verurteilung bedeuten
proportional betroffen sind Asylbewerberin-
kann, die Aufenthaltsgenehmigung zu verlie-
nen und -bewerber und Migranten und unter
ren. Angst vor Gegenanzeigen und hohen
ihnen wiederum Menschen afrikanischerHerkunft. Je dunkler die Haut, umso größerdas Risiko, Polizeiopfer zu werden.
Seit Jahren wird die Bundesregierung
In Zahlen ist das Ausmaß des Problems
angemahnt, unabhängige Kontroll-
nicht bekannt, denn eine systematische Er-fassung von Beschwerden und Anzeigen ge-
instanzen einzurichten, aber die deutsche
gen Polizeibeamte findet trotz mehrfacher
Polizei wehrt sich massiv dagegen
Aufforderung durch Amnesty International
bis heute nicht statt. Die Menschenrechtsor-
Demonstration vor dem Landgericht in Dessau im Gedenken an Oury Jalloh, der 2005 im Polizeigewahrsam ums Leben kam
ganisation dokumentierte von 1993 bis 2003
Verfahrenskosten, die Gewöhnung an Schi-
annähernd 200 Berichte über Willkür, Mis-
kanen und fehlende Rechtskenntnisse lassen
Beate Selders
shandlungen und unrechtmäßigen Gewalt-
eine hohe Dunkelziffer vermuten.
einsatz durch Polizeibeamte bei Personen-
Reinhard Mokros, Dozent an der Polizei-
kontrollen, Festnahmen oder in Polizeige-
Fachhochschule Nordrhein-Westfalen und
wahrsam. Fälle, die in die Presse gelangten
ehemaliger Vorsitzender der Humanistischen
oder bei Amnesty gemeldet wurden. Einige
Union, sieht die Ursachen für unrechtmäßi-
Je dunkler die Haut,
übernahm der UN-Sonderberichterstatter
ge Polizeigewalt in strukturellen Problemen
für Folter. Auch die Menschenrechtsgremien
des Apparates und in Diskursen wie der res-
des Europarates äußerten sich mehrmals be-
sentimentgeladenen Asyl- und Integrati-
sorgt über Misshandlungen und Todesfälle
onsdebatte der vergangenen zwei Jahrzehnte.
insbesondere bei Abschiebungen.
»Außerdem entstehen strukturelle Probleme
umso größer das Risiko
Seit Jahren wird die Bundesregierung auf
durch die Gesetzeslage«, meint der erfahrene
europäischer wie auf UN-Ebene angemahnt,
Polizeioberrat. »Die Residenzpflicht, die
unabhängige Beschwerdestellen und Kon-
Asylbewerbern und Geduldeten verbietet,
trollinstanzen einzurichten, um ihre Ver-
den zugewiesenen Landkreis zu verlassen,
POLIZEI UND RASSISMUS ■ Wenn es in Fällen von Polizeigewalt gegen Migranten überhaupt zu
pflichtungen aus internationalen Menschen-
und Fahndungen nach ›Illegalen‹ lenken die
rechtsabkommen einzuhalten. Aber die Lan-
Ermittlungen kommt, werden die Verfahren meist frühzeitig eingestellt
polizeiliche Aufmerksamkeit zwangsläufig
desdienstherren der deutschen Polizei weh-
auf ethnische Merkmale.«
ren sich massiv dagegen. Einzige Ausnahme
setzung der Kommission. Auch die CDU
Gewaltmonopols, die in den meisten eu-
en, so die Argumentation auch von SPD-Po-
Ein fremdländisches Aussehen stellt Men-
war bisher Hamburg. Nach einer unüberseh-
hatte von Anfang an Front gemacht gegen
ropäischen Nachbarländern bereits seit eini-
litikern wie dem Berliner Innensenator Kör-
schen bereits wegen ihrer bloßen Anwesen-
baren Häufung von Misshandlungsfällen
eine vermeintliche Unterhöhlung der Auto-
gen Jahren Standard ist.
ting. Das allerdings sehen sowohl Bürger-
heit unter Kriminalitätsverdacht. Wo es mehr
wurde auf Initiative der regierungsbeteiligten
rität der Staatsgewalt durch das Gremium,
Immer wieder wird in Polizeikreisen
rechtsorganisationen als auch EU- und UN-
Kontrollen gibt, wird auch mehr gefunden –
Grün-Alternativen Liste 1998 eine unabhän-
unterstützt von der Gewerkschaft der Poli-
schlicht behauptet, es bestehe kein Bedarf an
Menschenrechtsgremien völlig anders. Sie
Verdachtsmomente, die sich in Anzeigen und
gige Polizeikommission eingerichtet. Nur
zei. Deren Vorsitzender Konrad Freiberg ist
Kontrollinstanzen. Beweisen sollen dies aus-
werten die häufige Einstellung von Ermitt-
in der Polizeistatistik als Ausländerkrimina-
drei Jahre konnte sie als Beschwerdestelle für
bis heute der Meinung, externe Kontroll-
gerechnet die hohe Einstellungsquote von
lungsverfahren als Indiz für die geringe Be-
lität niederschlagen. Ein Teufelskreis, denn
Bürgerinnen und Bürger wie auch für Mit-
instanzen würden die Unabhängigkeit der
Ermittlungsverfahren gegen die Polizei und
reitschaft der Polizei, gegen die eigenen Leu-
ihre Voreingenommenheit und rassistischen
glieder des Polizeidienstes arbeiten, mit dem
Justiz in Frage stellen und ein zersetzendes
die wenigen Verurteilungen von Polizisten.
te zu ermitteln. Staatsanwaltschaften könn-
Ressentiments begründen Polizeibedienstete
Ziel, strukturelle Mängel aufzuspüren und
Misstrauen gegen die Institution Polizei eta-
So wurden zum Beispiel 2004 in Berlin von
ten wiederum durch ihre institutionelle Nähe
mit dieser vermeintlich hohen Ausländerkri-
Veränderungsvorschläge zu machen. Die er-
blieren. Erstaunlich, handelt es sich doch um
766 Ermittlungsverfahren 759 eingestellt.
zur Polizei befangen sein. Auch der Prozess
minalität, so das Ergebnis von Befragungen
ste Amtshandlung des Innensenators »Rich-
eine sehr naheliegende, demokratische Kon-
Nur ein Prozent kam vor Gericht. Daran
gegen zwei Polizeibeamte aus Dessau, die
im Rahmen verschiedener wissenschaftlicher
ter Gnadenlos«, Ronald Schill, war die Ab-
trolle des wichtigsten Teils des staatlichen
sähe man doch, dass die Vorwürfe haltlos sei-
sich für den Tod des Asylbewerbers Oury
Rassistische Motive? Wie schätzen Sie den Prozessverlauf ein? Ausgang des Verfahrens haben deshalb für tigen. Wie realistisch ist das im laufenden Ver-
Die Nebenklage kann bereits einen wichti-
alle davon Betroffenen eine große Bedeu-
gen Erfolg verbuchen: Gegen den ursprüng-
tung. Die verzögerte Reaktion auf die Alarm-
Das ist ein schwieriges Unterfangen, denn in
lichen Willen des Vorsitzenden Richters wird
zeichen aus der Gewahrsamszelle, wie sie ei-
Strafprozessen werden die gesellschaftlichen
künftig auch jener Todesfall in dem Prozess
nem der Angeklagten zum Vorwurf gemacht
Implikationen und Hintergründe solcher Fäl-
verhandelt, der sich bereits 2002 in derselben
wird, könnte auch rassistisch motiviert sein –
le systematisch »kleingearbeitet«. Hier pro-
IM GESPRÄCH ■ Der Rechtsanwalt und Menschenrechtsexperte Rolf
Zelle des Dessauer Polizeireviers ereignete.
wenn man etwa die zynischen Redensarten
zessual gegenzusteuern, ist die schwierige
Gössner über den in Dessau verhandelten Fall des Asylbewerbers
Damals starb ein 36-jähriger Obdachloser im
über den Gefangenen bei den beiden Tele-
Aufgabe der Nebenklage. Zu den Aufgaben
Oury Jalloh, der im Januar 2005 in einer Polizeizelle verbrannte
Gewahrsam – und Dienst tat einer der jetzt
fongesprächen entsprechend deutet, die der
der Prozessbeobachter gehört es, diesen Kon-
anklagten Polizeibeamten, dem schon damals
Angeklagte mit dem Arzt führte, der Jahllos
text in der Öffentlichkeit deutlich zu machen.
Nachlässigkeit vorgeworfen wurde. Die bis-
Gewahrsamstauglichkeit festgestellt hatte.
Das Gespräch führte Beate Selders
Seit voriger Woche findet vor dem Landgericht
Normalbürger und anders als Migranten oh-
herigen Zeugenvernehmungen ergeben im
Spendenkonto für Prozesskosten: Antirassistische Initiati-
Dessau ein Strafverfahren gegen zwei Polizei-
Übrigen ein teilweise erschreckendes Bild
Die internationale Beobachtergruppe fordert,
ve e.V. Kto. 3039600, BLZ: 10020500, Bank für Sozialwirt-
beamte statt, die mutmaßlich für den tragischen
von einer Sicherheitsbehörde, in der »Sicher-
den gesellschaftlichen Kontext zu berücksich-
schaft, Stichwort: Dessau
Verbrennungstod des Asylbewerbers Oury Jalloh
Ist in dem Fall besonders schlampig ermittelt
heit« offenbar über Menschenwürde und
verantwortlich sind. Die Anklage lautet auf Kör-
Bürgerrecht gestellt wird, in der Kontroll-
perverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen
Bisher kann meines Erachtens nicht davon
gänge nachlässig absolviert werden, in der es
und auf fahrlässige Tötung. Der Bürgerkriegs-
gesprochen werden – abgesehen von der
kaum Schulungen gibt, geschweige denn aus-
flüchtling aus Sierra Leone war Anfang 2005 in
mutmaßlichen Verschleppung des Verfah-
reichende Brandschutzmaßnahmen. Am
betrunkenem Zustand in Polizeigewahrsam ge-
rens, das sich schon über zwei Jahre hinzieht.
Ende verwandelte sich der Sicherheitsge-
raten. Die Polizisten fesselten ihn an Händen
Die Staatsanwaltschaft hat aber gravierende
wahrsam in eine Todesfalle.
und Füßen und ließen ihn an seine Matratze fi-
Widersprüche des Geschehens ignoriert und
xiert allein zurück. In dieser Sicherheitszelle
frühzeitig die Version der angeklagten Poli-
Spüren Sie eine Auswirkung der internatio-
verbrannte er am 7. Januar 2005, weil die Be-
zeibeamten übernommen. Danach habe das
nalen Beobachtung auf den Prozessverlauf?
antem trotz Alarmzeichen nicht rechtzeitig rea-
Opfer die schwer entflammbare Matratze,
Das ist schwer zu sagen. Es ist sicherlich
trotz Fesselung an allen Gliedmaßen, selbst
wichtig, dass diese internationale Prozessbe-
Eine internationale Delegation beobachtet
angezündet – mit einem Feuerzeug, das bei
obachtergruppe vor Ort ist. Sie drängt auf
diesen Aufsehen erregenden Prozess vor dem
der intensiven Personenkontrolle übersehen
eine rückhaltlose Aufklärung des Falles und
Landgericht. Der Rechtsanwalt Rolf Gössner,
worden sein soll und nach dem Brand erst bei
auf Entschädigung der Familie des Toten.
Präsident der Internationalen Liga für Men-
einer zweiten Zellen-Durchsuchung gefun-
schenrechte, ist Mitglied der Delegation.
den wurde. Es sind auch gänzlich andere Ge-
Wie begründet die Beobachtergruppe ihren
schehensabläufe denkbar, die im Laufe des
FREITAG: Was wäre ohne den öffentli- Prozesses untersucht werden müssen. Noch ist der Rassismusvorwurf nicht zu
chen Druck aus dem Vorfall geworden?
beweisen, auch wenn manche schon heute
ROLF GÖSSNER: Eine hypotheti-
Halten Sie die These, es handele sich um einen
von »Mord aus rassistischen Motiven« spre-
sche Frage – aber es ist schon als Erfolg
Mord zur Vertuschung von Misshandlungen
chen. Aber es gibt Anzeichen dafür, dass das
zu werten, dass das Verfahren nicht sang- und
auf der Polizeiwache, für wahrscheinlich?
Verhalten der Angeklagten rassistisch ge-
klanglos eingestellt worden ist, wie so häufig
Nach dem bisherigen Verlauf der Haupt-
prägt sein könnte. Das betrifft bereits die Per-
bei Todesfällen auf Polizeirevieren und durch
verhandlung gibt es hierfür keine Anhalts-
sonenkontrolle, die zur Festnahme führte.
punkte. Es ist zwar richtig, dass Oury Jalloh
Jalloh hatte einen gültigen Ausweis bei sich
vor seinem Tod Verletzungen erlitten haben
und erst wenige Monate zuvor war auf dem-
Halten Sie das Gericht für befangen?
muss – etwa einen Nasenbeinbruch, der erst
selben Revier seine Identität überprüft wor-
Mitunter kommen Zweifel an der Unvor-
in einer zweiten, von seinen Freunden initi-
den, was einer der Angeklagten wusste. Sol-
eingenommenheit des Vorsitzenden Richters
ierten Obduktion zu Tage getreten ist. Doch
che wiederholten, oft schikanösen Prozedu-
auf, wenn er einen afrikanischen Zeugen her-
ein Kausalzusammenhang zwischen diesen
ren erleben Flüchtlinge und besonders
ablassend behandelt, während er Polizeizeu-
Vorverletzungen und dem gewaltsamen Tod
Schwarzafrikaner hierzulande täglich. Man
gen, und seien sie noch so dreist, öfter hilf-
lässt sich bislang nicht nachweisen. Aller-
hat es im Gerichtssaal, wo viele Schwarze
reich zur Seite springt. Hier scheint das no-
dings muss im Prozess mit Nachdruck dieser
dem Prozess folgen, förmlich gespürt, dass in
torische Muster auf, demzufolge Beamte vor
Möglichkeit nachgegangen werden, auch
diesem Verfahren auch ihre demütigenden
Gericht oft anders behandelt werden als
wenn sie noch so unglaublich scheint.
Alltagserfahrungen Thema sind. Verlauf und
Freitag 14
Hugo Velarde
Eine »Neugründung Boliviens«
Der berühmteste Bolivianer aller Zei-
ten« – so artikuliert sich der Stolz lin-ker Bolivianer, aber auch der Miss-mut ihrer rassistischen rechten Kon-
trahenten, die dieses Lob mit zynischem Un-terton versehen – der 47-jährige indigenePräsident Evo Morales sorgt wieder für Auf-
Zwischen Reform Als Evo Morales im Januar 2006 für das höchste Staatsamt Boliviens vereidigt wurde, er-
klärte er, dieser Triumph gehöre ihm nicht allein, sondern gelte zugleich all denen, die von
der Geschichte diskriminiert und marginalisiert worden seien – und nie in das politische
Geschehen des Landes integriert waren. Sein bald darauf verkündetes Projekt eines »Neu-
sehen. Mit dem für ihn typischen Pathos der
en Boliviens« reichte von der Legalisierung des Koka-Anbaus bis hin zur Verfügungsgewalt
Bescheidenheit kündigt er vorgezogene Wah-len für 2008 an, bei denen er selbst nicht mehrkandidieren will. So präsentiert sich ein De-mokrat wie aus dem Bilderbuch. HugoChávez, so das venezolanische Fernsehen,
und Katastrophe des Staates über seine natürlichen Ressourcen und zwar ohne Abstriche. Einen mit hi-
storischen Symbolen versetzten Patriotismus vor Augen, der die »Neugründung Boliviens«
zum Ziel erklärte, setzte die Regierung Morales deshalb für den 2. Juli 2006 Wahlen zu
einer Verfassunggebenden Versammlung an. Ein Votum, das zwar von der Bewegung zum
Sozialismus (MAS) klar gewonnen wurde, aber nicht die erhoffte Zwei-Drittel-Mehrheit von
soll den Kopf geschüttelt haben.
255 Sitze bescherte. Damit stand außer Zweifel, dass der Regierung erhebliche Kom-
Es war zweifellos eine Sensation, als der
BOLIVIEN ■ Evo Morales' linker Verfassungspatriotismus
promisse nicht eingespart bleiben würden.
einstige Kokabauer aus dem verschlafenenDorf Orinoca in der Minenprovinz Oruro
und die Sackgasse von Sucre
mit seiner Bewegung zum Sozialismus (MAS)am 18. Dezember 2005 mit 54 Prozent derStimmen die Wahlen gewann und als ersterIndigener Boliviens am 22. Januar 2006 die
(bestenfalls könnte ihn Vizepräsident Alvaro
gelt die immer wieder aufflammende Gefahr
Staatsgeschäfte übernehmen konnte. Am 1.
García ersetzen). Um so mehr sind seine An-
eines Bürgerkrieges, der eine Katastrophe für
Mai 2006 schon erfüllte Morales eines seiner
hänger überrascht und entrüstet, während die
das ganze Land bedeuten würde.
Versprechen, indem er die Öl- und Gasindu-
Opposition von einem »cleverem Manöver«
Sollte freilich die überfällige Verfassungsre-
strie verstaatlichte und weitere Reformen in
spricht, um von augenblicklichen Krisen –
form vollends scheitern, dann will Evo Mo-
der Landwirtschaft und im Bergbau einleite-
etwa einer Korruptionsaffäre, in die MAS-
rales dafür offenkundig nicht verantwortlich
te. All dies verlief nach Plan und konnte nach
Mitglieder verwickelt sind – abzulenken.
sein und kündigt deshalb eine möglicherwei-
der anfänglichen Hysterie, die von den mul-
Ob es sich um ein »Manöver« oder eher ei-
se vorzeitige Demission an. Das hat wenig
tinationalen Konzernen wie von rechten Kri-
nen klugen Schachzug handelt, ist schwer zu
mit »Manövern« oder »Machtspielen«, son-
tikern geschürt wurde, mit »Rationalität und
beurteilen. Unwiderruflich jedenfalls scheint
dern mit dem Willen zu tun, die Integrität des
Augenmaß«, so die argentinische Zeitung Pá-
Morales' Erklärung nicht zu sein, wie sich ei-
Landes zu wahren.
gina 12, ins Werk werden. Die Welt war ver-
nen Tag später herausstellt, als Regierungs-
Morales' wahrlich historisches Verdienst
blüfft über das politische Talent des ebenso
sprecher Alex Contreras mitteilt: »Evo Mo-
besteht darin, dass seine Regierung, die lange
revolutionären wie pragmatischen indigenen
rales wird eine Kandidatur für eine vorgezo-
– koloniale und republikanische – Geschich-
gene Wahl nur akzeptieren, wenn es die
te Boliviens an die Gegenwart herangeführt
Volksbewegungen fordert«. Die Kandidatur
hat. Wo sich eine Jahrhunderte währende
werde jedoch vom Votum der Verfassungsge-
Ausbeutung durch die Oligarchie mit der
Durch die unnachgiebige Blockade der
benden Versammlung abhängen, die entge-
heutigen Zeit kreuzt, steht Morales für
Opposition droht Evo Morales eine
gen der derzeitigen Rechtslage eine Wieder-
Emanzipation und die Ablösung neokolo-
wahl des Staatsoberhauptes für zwei oder
nialer Politik neoliberalen Zuschnitts. Allein
Niederlage, die zum Zusammenbruch des
mehrere Legislaturperioden beschließen
die Aprilrevolution von 1952, die das Militär
gesamten linken Projektes führen könnte
könne. Das aber steht in den Sternen. Regulär
entmachtete und die radikalste Bodenreform
wäre die Amtszeit von Morales erst 2011 be-
Lateinamerikas auslöste, ist mit dem ver-
Gerade noch von der weißen Oligarchie
gleichbar, was im Augenblick geschieht. Mo-
seines Landes als »politischer Tölpel« und
Kein Zweifel, das Verhalten der Verfas-
rales versucht zu vollenden, was vor 55 Jah-
»Indio ohne Sinn und Verstand« diffamiert,
sungsgebenden Versammlung wird zur
ren schon einmal auf der Tagesordnung
handelte Morales mit den multinationalen
Schicksalsfrage für den Präsidenten. Durch
stand: ein Umbau des Staates, die Verstaatli-
Unternehmen neue Konzessionsverträge aus,
die unnachgiebige Blockade der Opposition
chung der Minen und Ölwirtschaft, eine
die 2006 1,26 Milliarden Dollar in die Staats-
– offenbar ihre einzig erfolgversprechende
Agrarreform und die Gleichstellung der Ge-
kasse brachten – 653 Millionen mehr als 2005.
Strategie – droht Morales und seiner MAS
schlechter. Dazu muss freilich mit einem oli-
Der so erwirtschaftete Haushaltsüberschuss
eine folgenschwere Niederlage, die zum Zu-
garchischen Staat gebrochen werden, dessen
von etwa fünf Prozent (einmalig seit 37 Jah-
sammenbruch des gesamten linken Projektes
Ursprünge bis in den Pazifikkrieg (1879 –
ren) kam vorrangig den Kleinbauern zugute,
führen könnte, auch wenn noch Möglichkei-
1884) zurückreichen, bei dem einst Chile
die 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
vanna der von Kuba und Venezuela ausge-
boykottieren. Und das mit einiger Wirkung,
ten bleiben, die Verfassungsreform auf den
über Bolivien und Peru triumphierte.
Wirtschaftspolitisch ging die Rechnung da-
henden »Bolivarianischen Alternative für
da bisher keinerlei Einigung über auch nur ei-
Weg zu bringen. Morales könnte die für eine
Ob Evo Morales selbst diese Mission in
mit schneller auf als Morales-Kritiker denken
Amerika« (ALBA) bei, die sich als Gegen-
nen einzigen Paragraphen der Verfassung ei-
Mehrheit der Verfassungsdelegierten unstrit-
toto lösen kann, ist nicht ausgemacht. Wie
konnten, was die rechte Opposition, ange-
entwurf zum US-Projekt einer gesamtameri-
nes »Neuen Boliviens« erzielt werden konn-
tigen Punkte eines neues Grundgesetzes be-
auch immer das Tauziehen um die Verfas-
führt von Ex-Präsident Quiroga, nicht daran
kanischen Freihandelszone (ALCA) ver-
te. Da ein solches Grundgesetz nur mit Zwei-
schließen oder per Referendum über die an-
sungsreform endet, der einstige Kokabauern-
hinderte, weiter einen an »Hugo Chávez und
Drittel-Mehrheit verabschiedet werden kann
deren – die umstrittenen – Artikel abstim-
führer hat nicht mehr und nicht weniger ge-
Fidel Castro angelehnten totalitären und au-
Dieser Präsident, den die Bourgeoisie in
und dazu Stimmen aus der Opposition ge-
men lassen. Das klingt rational, folgt einer
tan, als die Kardinalfragen künftiger Genera-
toritären Führungsstil« anzuprangern.
Bolivien (wie auch in Argentinien oder Bra-
braucht werden, steckt die Regierung in einer
grundlegenden demokratischen Überzeu-
tionen schon jetzt zu stellen. Seine politische
Doch mit Totalitarismus hat die Morales-
silien) inzwischen am liebsten nur noch als
Sackgasse, die Morales mehr und mehr als
gung und hätte gute Chancen auf Erfolg.
Basis steht nicht zur Disposition – die sozia-
Regierung nichts zu tun. Keine demokrati-
Lamatreiber sehen würde, ist wahrlich eine
Verhängnis zu empfinden scheint.
Insofern könnte die Ankündigung von Mo-
len Bewegungen, die mehrere korrupte Prä-
sche Institution wird in Frage gestellt. Im In-
Ausnahme an republikanischer Gesinnung in
Über seine Absicht, die Wahlen vorzuzie-
rales, nicht mehr kandidieren zu wollen, der
sidenten stürzten, den Ausverkauf des Lan-
teresse des Landes zielt die Verstaatlichung
der Geschichte seines Landes seit der Unab-
hen und selbst nicht mehr zu kandidieren,
Versuch sein, die eigenen Anhänger auf einen
des verhinderten, Bolivien neu entwarfen
der Gas- und Erölvorkommen darauf, eine
hängigkeit von 1825.
sprach er erstmals am 19. März in der Stadt
Kompromiss mit der bürgerlichen Minder-
und für eine soziale Demokratie stehen, die
moderne, wettbewerbsfähige Industrie auf-
Trotz – oder eher wegen – dieser unstritti-
Sucre, in der über die künftige Verfassung
heit einzustimmen. Schließlich ist das Land
auch in Lateinamerika einzigartig ist, bleiben
zubauen. Zudem hat Morales Handelsverträ-
gen Erfolge bleibt die rechte Opposition bei
entschieden werden soll: »Ich denke, ich habe
mit Abspaltungstendenzen konfrontiert, die
der Rückhalt des Präsidenten. Dieser Sieg ist
ge mit Argentinien, Brasilien, Venezuela und
ihrem Crashkurs und versucht mit allen Mit-
meinen kleinen Teil zum Wandel Boliviens
das Projekt einer »Neugründung Boliviens«
Morales und seiner MAS nicht mehr zu neh-
Kuba geschlossen, die entgegen allen Be-
teln, die von der MAS 2006 initiierte Verfas-
beigetragen«, erklärt der Präsident an diesem
zerstören würden, so dass großzügige Kon-
men, trotz der Sabotage einer rechten Olig-
fürchtungen bereits jetzt fassbare Resultate
sungsgebende Versammlung, die einer Mehr-
Ort – und muss sich darüber im Klaren sein,
zessionen unumgänglich sind. Diese pragma-
archie, die in Bolivien – folgt man dem be-
zeitigen. Am 29. April 2006, zwei Tage vor
heit des Landes mehr Rechte, vor allem mehr
dass es zu ihm als dem charismatischen Füh-
tisch abwägende Vernunft eines Präsidenten,
deutenden Soziologen René Zavaleta Merca-
seinem Verstaatlichungsdekret, trat er in Ha-
politische Partizipation garantieren soll, zu
rer des linken Lagers keine Alternative gibt
der Fundamentalistisches nicht zulässt, zü-
do – schon immer »antinational« war.
Jürgen Elsässer
Koalition der Unwilligen
KOSOVO ■ In der EU haben sich Staaten formiert, die eine weitere Zerstückelung Serbiens ablehnenIn der Vergangenheit galten die Fronten erneur geführt, der die einheimische Regie- vor der magyarischen Irridenta motiviert
auf dem Balkan als übersichtlich: 1992
rung jederzeit nach Gusto kontrollieren
auch das Nein aus Bukarest.
waren sämtliche Mitgliedsstaaten der Eu-
könnte. Zu diesem Zweck stünden ihm 1.500
Nach dem Scheitern der über einjährigen
ropäischen Union auf den anti-jugoslawi-
eigene Polizisten und Beamten zur Verfü-
Wiener Verhandlungen zwischen Serbien
schen und anti-serbischen Kurs der Regierung
gung – zusätzlich zu den bereits stationierten
und den Kosovo-Albanern wird der Ahtisaa-
Kohl/Genscher eingeschwenkt und hatten die
16.000 NATO-Soldaten der so genannten
ri-Plan seit dieser Woche im UN-Sicher-
Sezessionsrepubliken Kroatien, Slowenien
Schutztruppe KFOR, die nicht abgezogen
heitsrat debattiert. Der russische Präsident
und Bosnien-Herzegowina völkerrechtlich
werden sollen.
hat mehrfach erklärt, eine Verabschiedung
anerkannt. 1995 – und nicht erst 1999, wie vie-
Die Nein-Sager der EU argumentieren vor-
per Veto blockieren zu wollen. Damit bliebe
le denken – kam es zum ersten Kampfeinsatz
rangig mit dem Völkerrecht und damit ähnlich
die UN-Resolution 1244 in Kraft, die nach
Breslau – Krakau – Tatra – Prag
des NATO-Bündnisses: 14 Tage lang feuerten
wie Russland: Eine Abspaltung des Kosovo
Kriegsende 1999 beschlossen wurde und die
Flugzeuge des Brüsseler Paktes unter Teilnah-
sei ein gefährlicher Präzedenzfall. Erstmals er-
Zugehörigkeit der Provinz zu Jugosla-
Eine beeindruckende Schienenkreuzfahrt im nostalgischen Sonderzug
me von deutschen Tornados auf Stellungen der
langte nicht eine frühere Teilrepublik aus einer
wien/Serbien festschrieb. Es wird allgemein
Erleben Sie einige der prunkvollsten
Preise pro Person:
bosnischen Serben. Vier Jahre später, im Früh-
Föderalunion die Unabhängigkeit, wie das zu
befürchtet, dass daraufhin Regierung und
und traditionsreichen Metropolen
Doppelzimmer: 1.120,00 Euro
jahr 1999, wurden Belgrad, Novi Sad, Nisˇ und
Beginn der neunziger Jahre bei neuen Staaten
Parlament in Prisˇtina ohne UN-Segen die
EZ/Zuschlag: 195,00 Euro
Prisˇtina über elf Wochen lang bombardiert,
der Fall war, die aus der Konkursmasse der
Unabhängigkeit proklamieren und die USA
Osteuropas, eindrucksvolle Stätten
Aufpreis für Club-Abteil (p.P.): 88,00 Euro
eine weitere Gemeinschaftsaktion der transat-
UdSSR oder Jugoslawiens entstanden, son-
und ihre engsten Verbündeten den neuen
des Weltkulturerbes und die un-
Enthaltene Leistungen:
lantischen Allianz. In all diesen Konfrontatio-
dern eine untergeordnete Verwaltungseinheit.
Staat einseitig anerkennen. Mögliche Folgen
berühr te Naturlandschaft der Hohen
Fahr t im Sonderzug (1. Klasse od. Club-
nen stand in Europa nur Russland auf der Sei-
Mit Verweis auf das Kosovo könnten sich
beschrieb der FDP-Bundestagsabgeordnete
Tatra auf ungewöhnliche Weise per
Abteil) ab/bis gebuchtem Zustiegsor t /
te der Serben, dies aber oft unentschlossen und
künftig nicht nur Abchasien (bisher Georgien)
Rainer Stinner bereits Mitte Dezember 2006:
und Transnistrien (bisher Moldawien) selbst-
»Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung
Sonderzug! Der Sonderzug besteht
6x Übernachtungen in Hotels der gehobe-nen ör tlichen Mittelklasse / Halbpension
Kurz vor Ostern 2007 geschieht nun etwas
ständig machen, sondern auch Minderheitsre-
durch kosovarische Institutionen wäre ein
aus gepflegten Schnellzug-Wagen der
(Frühstück, Abendessen) / Schiffsfahr t
Unerwartetes: Zum ersten Mal seit 16 Jahren
gionen in der EU wie Korsika und das Bas-
klarer Bruch der UN-Resolution 1244. Da-
60er bis 80er Jahre, die neben
in Prag / ständige Chefreiseleitung /
zeigen sich offene Widersprüche in der Bal-
kenland. Letzteres erklärt den Widerstand
gegen müsste die KFOR eigentlich vorgehen,
ihrem nostalgischen Ambiente ein
deutschsprachige Gruppen-Reiseleiter /
kanpolitik der Westmächte. Auf der EU-
Spaniens – sehr zum Verdruss von Javier Sola-
etwa indem sie die führenden Politiker des
Außenministertagung in Bremen haben die
na übrigens, der in dieser Frage nicht die Po-
Kosovo festnimmt. Gleichzeitig würde diese
komfor tables Fahrgefühl bieten. Die
Ausflüge, Eintritte und Führungen lautProgramm / Transfers mit ör tlichen Bus-
Vertreter von mindestens sechs Mitglieds-
sition der Regierung in Madrid vertritt.
Resolution jedoch auch von den Staaten ge-
Übernachtungen er folgen in ausge-
sen / ör tlicher Gepäckser vice, Gepäck-
staaten den Mut, der mit dem Ahtisaari-Plan
Boris Zala, Vorsitzender des außenpoliti-
brochen, die das Kosovo anerkennen. Da sich
suchten Hotels der guten ör tlichen
transpor t von Hotel zu Hotel in Polen /
anvisierten Abspaltung des Kosovo von Ser-
schen Ausschusses im Slowakischen Natio-
darunter vermutlich auch bedeutende
Sicherungsschein und Infomaterial
bien ihr Plazet zu versagen: Griechenland,
nalrat und Mitglied der sozialdemokrati-
KFOR-Truppensteller befinden, wäre KFOR
Zypern, Spanien, Italien, Rumänien und die
schen Smer-Partei von Premier Fico, fürchtet
als Machtfaktor zerrissen.«
Slowakei. Dabei sollte – so die Vorstellung
gar um den Bestand des eigenen Staates. So
Sind die USA bereit, unter Umständen die
13.07. bis 19.07.2007
Zeitungsverlag FREITAG
des UN-Beauftragten für das Kosovo, des
könne sich die ungarische Minderheit, »die
KFOR und damit auch NATO und EU zu
ab/bis Köln, Duisburg, Dor tmund, Berlin
Potsdamer Str. 89, 10785 Berlin
Finnen Martti Ahtisaari – das umstrittene
immer schon eine Tendenz zu separatisti-
spalten? Offensichtlich genügt Washington,
18.09. bis 24.09.2007
Tel.: 030/250087-32
Gebiet künftig eine Art Protektorat der EU
schen Bewegungen hatte«, das Kosovo-Mo-
wie im Irak-Krieg 2003, eine »Koalition der
ab/bis Bremen, Hamburg, Hannover,
Fax.: 030/250087-10
werden, das erste seiner Art: Der nur formell
dell zum Vorbild nehmen und einen eigenen
Willigen«. Die spannende Frage wird sein, ob
selbstständige Staat würde von einem Gouv-
Staat im Süden der Slowakei anstreben. Angst
Deutschland dieses Mal dazugehört.
Freitag 14
Abschied von Piroschka
Von Martin Leidenfrost
Es ist müßig, an dieser Stelle wie gewohnt andie letzte Osteuropa-Kolumne erinnern zu wol-len, sie liegt schon einige Ausgaben und damitWochen zurück. Aber Martin Leidenfrost war inder Zwischenzeit nicht untätig, sondern viel un-terwegs, um an dieser Stelle den Erzählfadenweiterspinnen zu können. Diesmal führt ihn seinWeg nach Levél in Ungarn, einer Ortschaft ander Grenze zu Österreich, über die oft im Inter-net schwadroniert wird. Zumeist sind es Freier,die sich darüber austauschen, ob es sich auchgelohnt hat, nach Levél zu fahren und Pirosch-ka oder andere Frauen vom Straßenstrich zu
treffen. Sonstige West-Ost-Begegnungen kom-men in dieser Gegend kaum vor.
Der Mensch ist im Zeitalter des Inter- nicht alle Beteiligten deutscher Mutterspra- ersehe ich, das Dorf war einmal deutsch be- »Ist Piroschka da?«, frage ich verlegen. Sie reicher, Türken, auch Ungarn. Es gebe insge-
nets durchsichtig geworden. Einige
siedelt: Levél/Kaltenstein. Es gibt eine katho-
reagiert kein bisschen überrascht: »Warum
samt nur noch drei Prostituierte in der
Berufsgruppen trifft das besonders,
Die Heldin unter den beschriebenen Pro-
lische Kirche, eine evangelische Kirche und
alle wollen Piroschka?« Sie macht mir ein
EXPO-City, außer ihr noch Piroschka und
zum Beispiel Autoren oder Prostitu-
stituierten war »Piroschka«. Einig waren sich
drei Tankstellen.
Angebot für 30 Euro und reduziert es mit
eine vierfache Mutter. Sie selbst sei aus der
ierte. Wer Texte publiziert, konnte noch vor
die zahlreichen Erzähler nur darin, dass die
In der Umgebung, welche die Ungarndeut-
dem nächsten Atemzug auf 20, plus fünf
nahen Großstadt Györ, allein und kinderlos.
wenigen Jahren hoffen, dass sich die misslun-
junge Ungarin ungern den BH ablegt. An-
schen Heideboden nannten, stehen zwei
Euro für das Zimmer. »Ich will nur reden«,
Sie wolle dorthin, wohin schon einige ihrer
genen Sachen rasch verlieren; heute findet
sonsten gingen die Meinungen der Männer,
Windparks. Es bläst ein kräftiger Wind, und
erkläre ich. Auch das hat sie nicht überrascht:
Kolleginnen verschwunden seien, nach Wien,
sich der letzte Dreck im Netz.
die nacheinander Piroschkas Kunden waren,
die Windräder des einen Windparks rotieren
»Warum alle sagen: nur reden?«
auf den Straßenstrich der Äußeren Mariahil-
Auch Prostituierte sind unfreiwillig glä-
auseinander. »Nach einer halben Stunde wur-
munter. Die zwölf Windräder hinter der
Piroschka sei nicht da. Die achtjährige
fer Straße. Dort könne sie 200 bis 300 Euro
sern. Was noch vor wenigen Jahren auf pri-
de sie ganz nervös und hat aufs Beenden ge-
Schnellstraße stehen hingegen unbewegt,
Tochter der Chefin habe Geburtstag und
täglich machen.
vate Runden beschränkt war, erweitert und
drängt«, schimpfte einer »und das, obwohl
gleichsam mit angezogenen Handbremsen da.
Piroschka feiere mit. »Wo ist dein Auto?«
Nach dem Gespräch führt sie mich hin-
vervielfältigt sich nun im virtuellen Raum:
ich 100 gelöhnt hatte.« Die anatomischen Be-
Der gesuchten Hüttensiedlung ist eine abgeta-
fragt sie. »Ich bin mit dem Zug da.« Jetzt ist
aus. Ich frage nach dem Briefkasten am
das Gespräch von Freiern, die sich über Pro-
schreibungen will ich nicht wiedergeben. Sie
kelte Tankstelle vorgelagert. Ein Österreicher
sie überrascht. Ich habe Angst, sie könnte
Haus. Ja, der Briefträger bringe ihr die Post
stituierte austauschen. Die Freier tun das in
waren sehr genau.
Ende 50, Typ ländlicher Heimwerker, stoppt
ihren Preis noch einmal unterbieten, und sage
hierher, zu dem Haus, das zweisprachig an-
elektronischen Sexforen. Dort bleiben sie
Neulich bin ich nach Levél gefahren. Ob es
dort seinen VW-Bus. Er fährt eine Runde
zu ihr: »Können wir für 25 Euro reden?« Sie
geschrieben ist: »Unter dem Linden«. Die
anonym, entsprechend freimütig äußern sie
uns gefällt oder nicht: Das Bild, das männli-
durch die Siedlung, ganz langsam, in Schritt-
führt mich in eines der Häuser.
anderen Häuser seien Motels, meint sie,
che Westler von den östlichen Nachbarn ha-
geschwindigkeit. Dann verschwindet er wie-
Im Erdgeschoss war wohl ein Schankraum,
doch scheint mir die Wäsche auf einigen
Einmal las ich im Internet einen solchen
ben, setzt sich oft allein aus solchen Begeg-
der in seine Richtung, laut Autokennzeichen
Tische und ein Tresen aus billig überzogenen
Balkonen nicht ins Bild zu passen. Erobert
Chat nach, einen Sexkunden-Dialog, der im
nungen zusammen. Die meisten Sexdestina-
in den grenznahen Bezirk Neusiedl am See.
Spanplatten sind übrig geblieben, noch nicht
sich das normale Leben den Puffbezirk zu-
Jahr 2004 begonnen hatte und längst ausge-
tionen liegen im Grenzsaum der Tsche-
Ich bin zu Fuß und muss mich zum Betre-
einmal abgenutzt, und doch atmet der leere
laufen war. Was vor meinen Augen abrollte,
chischen Republik – aber auch Ungarn stand
ten der so genannten EXPO-City zwingen.
ungeheizte Raum Verfall.
Wir verabschiedeten uns schließlich, und
war eine vielstimmige Erzählung von Dut-
einmal im Ruf eines solchen Milieus. Ich
Die ersten Hütten waren einmal Schuh- und
Wir gehen nach oben, unter die Dach-
ich ging essen. Eine Stunde später standen die
zenden Seiten, mal roh und verächtlich, mal
wollte wissen, wie still es inzwischen um das
Modeläden, winzig und längst leergeräumt.
schräge. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer
Windräder hinter der Schnellstraße immer
sachlich und berechnend, mal prahlerisch
ungarische Gewerbe geworden ist. Ich woll-
Die folgenden Häuser sind größer, mit Holz-
steht offen. Eine winzige Kammer mit einem
noch still, und lautlos glitten die Sattelschlep-
und naiv. Ort der Handlung war eine Hüt-
te sehen, ob es den Zielort der verstummten
balkonen, ein paar vielleicht bewohnt. Ein
schmalen Futon. Kaum ist die Tür zugezo-
per im Gegenlicht der untergehenden Früh-
tensiedlung in Levél, einem nordwest-
Freier überhaupt noch gibt. Ich wollte ein In-
paar Schilder künden von Zimmervermie-
gen, hat sie schon den Pullover ausgezogen
lingssonne dahin.
ungarischen Dorf nahe der österreichischen
terview mit Piroschka.
tung, aber die Bars und Clubs sind geschlos-
und fragt: »Mit oder ohne Gummi?«
Das Auto der Chefin stand noch an der
Grenze. Die Erzähler, sie stammten wohl aus
Levél liegt zwischen einer Autobahn, einer
sen. Alles totenstill.
Ich gebe ihr das Geld, lasse sie den Pullover
Tankstelle, auch beide Frauen waren noch da.
dem Großraum Wien, nannten sich Priapos,
Bahnlinie und aufwändig aufgeschütteten
Ich bin schon fast durch, da kommt beim
wieder überziehen, und es ist ihr auch egal.
Mag sein, vielleicht hat nicht alles gestimmt,
Netspezi, Mörty, Stefan_39 oder Onkel
Schnellstraßen für den Schwerverkehr. Die
»Franz-Turm«, dem Aussichtsturm der Sied-
Dann reden wir, einmal hupt draußen ein
was mir erzählt wurde. Oder lässt die Chefin
Dagobert. Der Grundton war lässig, alle ver-
verschiedenen Quellen des Verkehrslärms
lung, eine Frau auf mich zu. Sie macht einen
Wagen. »Chefin«, murmelt sie und läuft hin-
ihr Töchterchen mit Piroschka allein? Ich
glichen die Preise, und Verbformen wie
verschmelzen zu einem einzigen Grund-
ungesunden, abgekämpften Eindruck. Sie be-
unter. »Zwei, drei Business« habe sie nur
ging zum Zug, sie winkten mir heftig, und die
»waschte« und »blaste« ließen erahnen, dass
rauschen. An der zweisprachigen Ortstafel
deutet mir mitzukommen.
noch pro Woche. Die Kunden seien Öster-
Chefin wieherte vor Lachen.
Als sich die EU 2004 erweiterte, schrieen viele
Volker Schmidt
Alarm: Scharen polnischer Klempner und letti-
scher Prostituierter, tschechischer Autodiebe
und ungarischer Bandenkrimineller scharrten
angeblich am Schlagbaum mit den Füßen, um
in den Goldenen Westen zu reisen. Fragt man
die Menschen in den Beitrittsländern heute,
Exodus der blau-weißen Riesentaschen
winken viele ab: Den Westen haben sie abge-
schrieben, der Osten ist interessanter.
GEBREMSTER TRANSFER ■ Die Auswanderungswelle aus Mittel- und Osteuropa hat ihren Zenit längst überschritten
Noch sind die Zahlen einigermaßen Freizügigkeit herrsche, also alle EU-Bürger zu verlassen. Slowaken und Esten lagen – Doch fragt man mittelosteuropäische Mi- siert, kulturelle Hingabe und Gastfreund-
eindeutig: Der Osten verliert an Be-
überall leben und arbeiten dürften, werde
ähnlich wie die Deutschen – mit rund 35
granten und solche, die es werden könnten,
schaft erfahren. Und ein anderer Diplomat
völkerung – zwar nimmt die Lebens-
letzten Endes höchstens ein Prozent der ge-
Prozent eher im EU-Durchschnitt, Tsche-
im Detail nach ihren Motiven und Plänen,
aus dem Baltikum deutet an: »Nach Berlin
erwartung zu, doch gehen die Ge-
samten arbeitsfähigen Bevölkerung Mittel-
chen und Ungarn mit knapp 30 Prozent dar-
dann entsteht ein anderer Eindruck: Die mei-
will keiner, begehrt sind die Nachbarländer,
burten zurück und die Jungen wandern aus.
und Osteuropas den Exodus wagen. Diese
sten wollen sich – beispielsweise als Überset-
auch Warschau und Minsk, weil von dort der
In den Ländern des ehemaligen Ostblocks
Freizügigkeit jedoch gibt es bis heute nicht,
zer in Brüssel oder Schwarzarbeiter in Frank-
Weg nach Hause kurz ist. Aber auch Kiew,
und der früheren Sowjetunion könnte sich
gerade wegen der Angst im Westen vor einer
Kulturlos und psychopathisch
furt/Main – nur vorübergehend im Westen
Tiflis oder Moskau kommen in Frage, weil es
bis 2050 die Relation von Rentnern zu Er-
Massenmigration – folglich hält sich die Wan-
aufhalten, sehen ihn mit zynisch-verächtli-
in diesen Metropolen noch etwas aufzubau-
werbstätigen nach jüngsten Schätzungen der
derung in Grenzen. Zumal die Wirtschaft in
Eva Feldmann-Wojtachnia aus der For-
chem Blick und halten Distanz. Auf Dauer in
Vereinten Nationen gravierend verändern, in
vielen Beitrittsländern wächst, und die Ar-
schungsgruppe Jugend und Europa am Zen-
Frankreich oder Deutschland leben? Nie!
So wird das Osteuropa der EU zur Ein-
Polen und Ungarn etwa von heute 25 Rent-
trum für angewandte Politikforschung der
Eine Mehrheit empfindet diesen Teil Europas
wanderungsregion, wie das einst für Westeu-
nern pro 100 Erwerbstätigen auf ein Verhält-
Einer Anfang 2006 zum »Europäischen
Universität München zieht aus der Studie
als hektisch, unfreundlich, kulturlos und
ropa in den frühen neunziger Jahren galt:
nis von 70 zu 100. Die US-Entwicklungshil-
Jahr der Mobilität« veröffentlichten Studie
den Schluss, Mobilität als Migration und per-
psychopathisch oder verweist auf die oft lieb-
Akademiker aus den postsowjetischen Repu-
feagentur USAID bescheinigt den Transfor-
der EU-Kommission zufolge sahen zwar die
manenter Ortswechsel würden »mit indivi-
losen Beziehungen in den Familien.
bliken arbeiten in Ungarn, Polen oder Tsche-
mationsländern Mittelosteuropas seit dem
Menschen in allen (damals) 25 Mitgliedsstaa-
duellen und sozialen Deklassierungsprozes-
17 Jahre nach der Wende strömen die Mit-
chien. Und während polnische Frauen in
Zerfall des Ostblocks 1990/91 allerdings nur
ten der EU die Mobilität mehrheitlich posi-
sen« assoziiert und daher negativ besetzt. Da-
telosteuropäer längst nicht mehr mit ihren
Deutschland das marode System der Alten-
einen Bevölkerungsrückgang um 0,1 Prozent
tiv. Ausgerechnet in den mittelosteuropäi-
gegen käme Mobilität als temporärer Wech-
blau-weißen Riesenplastiktaschen aus den
pflege am Leben erhalten, putzen Ukraine-
– in der gleichen Zeit wuchs die Bevölkerung
schen Staaten jedoch fiel das Votum eher
sel in ein anderes Land, quasi als »Ausweich-
Reisebussen – sie kommen vielmehr mit
rinnen in Warschau. Laut der EU-Stati-
Westeuropas um 0,7 Prozent. Allerdings
skeptisch aus: Mit Ausnahme der Slowaken
lösung«, für viele in Betracht, vorzugsweise
leichtem Gepäck und tanken immer wieder
stikbehörde Eurostat stellen Ukrainer in
messen die Statistiken den Trend nur bis zir-
waren dort weniger als die Hälfte der Men-
für junge, gut ausgebildete Menschen, wie
per Billigflug Heimat auf. Selbst ihren Urlaub
Tschechien die größte Ausländergruppe (29
ka 2002; so langsam sind Volkszähler.
schen überzeugt, dass Mobilität grundsätz-
nicht zuletzt Zahlen des britischen Innenmi-
verbringen sie wieder lieber am Schwarzen
Prozent), in Ungarn sind es die gerade erst
lich gut sei; in Polen, Litauen und Estland
nisters belegen. Großbritannien gilt als be-
Meer, in der Hohen Tatra oder am Balaton als
EU-Bürger gewordenen Rumänen (43 Pro-
50 Prozent der Polen
nur knapp 40 Prozent. Entgegen dieses sig-
vorzugtes Ziel vieler Arbeitsmigranten, im-
auf Mallorca. Eine Kunsthistorikerin in Li-
zent). Russland zieht trotz Fremdenfeind-
nifikanten Votums war die persönliche Be-
merhin bewarben sich zwischen Mai 2004
tauen, die zum Kulturattachée in der Ukrai-
lichkeit Einwanderer aus Zentralasien und
Zugleich erfuhren Meinungsforscher der
reitschaft, vorübergehend Arbeit in einem
und Juni 2006 427.000 Arbeitnehmer aus
ne berufen wurde, meint dazu: »Ich hätte
dem Kaukasus an. Um die demografische
UNO, zwischen zehn und 30 Prozent der
anderen EU-Staat aufzunehmen, in einigen
Ländern Mittelosteuropas erfolgreich um
auch nach Berlin oder Madrid gehen können.
Krise zu lindern, schlug der nationalistisch
Osteuropäer seien grundsätzlich bereit, nach
Ländern dennoch hoch: So konnten sich
Jobs auf der Insel – 62 Prozent davon aus Po-
doch was soll ich da? Da interessiert sich nie-
gefärbte Liberaldemokrat Wladimir Schiri-
Westen zu wandern. Nur wenige freilich – so
mehr als 50 Prozent der Polen, gefolgt von
len, mehr als 80 Prozent waren jünger als 34
mand für die Kultur meines Landes, von dem
nowski immerhin ein Ausreiseverbot für
die Erhebung – würden allerdings den Wor-
Litauern, Letten und Slowenen, vorstellen,
und verfügten laut USAID über gute bis sehr
viele nicht einmal wissen, wo es liegt.« In Tif-
Russinnen vor, die weniger als zwei Kinder
ten Taten folgen lassen; selbst wenn völlige
auf Arbeitssuche die angestammte Heimat
lis und Baku habe sie Ausstellungen organi-
zur Welt gebracht haben.
Freitag 14
Giuseppe Masciari (Mitte) bei einem Gerichtstermin
Tom Mustroph
Mit Leib und Seele
ITALIEN ■ Giuseppe Masciari lebt seit zehn Jahren nach den Auflagen des staatlichen ZeugenschutzprogrammsEr will kein Held sein. »Als Held wirst Nostra, 268 zur Camorra und 121 zur in Leipzig, Dresden und Berlin. Als er sich schüchterung durch die Mafia gesellt sich der
du gefeiert, wenn du gestorben bist.
Ndrangheta gehört haben. Im Unterschied
für kurze Zeit in Dessau aufhält, wird er von
Boykott durch lokale Amtsträger. Masciari
Dann werden dir Blumen gebracht,
dazu gibt es nur 48 unbescholtene Bürger wie
Landsleuten, die dort ein Restaurant betrei-
hat ihnen schließlich die verlangten sechs
eine Schule wird nach dir benannt und
Giuseppe Masciari, die durch ihre Zeugen-
ben, angesprochen: »Wenn du Geld waschen
Prozent verweigert.
in den Zeitungen wird über dich geschrieben.
aussagen in Gefahr gerieten, ohne je der Ma-
musst, komm' zu uns. Wir haben die not-
»Plötzlich musste ich feststellen, die Kom-
Doch dir selbst nützt das alles gar nichts, denn
fia nahe gestanden zu haben. Wer im Zeu-
wendige Infrastruktur.«
munalverwaltungen verzögerten die Bezah-
du bist bereits tot«, meint Giuseppe Masciari,
genschutzprogramm steckt, ist de facto ein
lung meiner bereits geleisteten Arbeiten über
der gebürtige Kalabreser, trocken. Masciari
Mündel des Staates, kann nicht frei über sei-
In einer Liga mit FIAT
Monate hinweg. Sie brachten mich in derarti-
aber will leben. Normal leben. Nur ist dem 48-
nen Wohnort befinden, muss Reisen bean-
ge Schwierigkeiten, dass ich Ende 1993 die Fir-
Jährigen genau das verwehrt. Vor zehn Jahren
tragen und Besuche genehmigen lassen. Ei-
Masciari meint heute, für ihn sei dies damals
ma schließen und Konkurs anmelden musste«,
hat es der Bauunternehmer gewagt, Mitglieder
nem Antrag auf Arbeit kann stattgegeben
ein exemplarisches Erlebnis gewesen. Die
erzählt Masciari. Zwar verfügt er noch über
eines der gefährlichsten Mafia-Clans Italiens,
werden, muss aber nichts. Vor allem dies, die
vier süditalienischen Verbrechersyndikate
Aufträge in einem Volumen von 25 Milliarden
der Ndrangheta-Familien, anzuzeigen: beson-
ökonomische Abhängigkeit, lastet auf dem
Cosa Nostra, Ndrangheta, Camorra und
Lire, doch erschlagen ihn die Schulden. Die
ders die Vallelunga, wegen ihrer Bösartigkeit
einstigen Geschäftsmann Masciari.
Sacra Corona Unità seien offenbar europa-
mit dem Fall befasste Richterin Patrizia Pas-
auch Viperari – die Giftnattern – genannt.
»Man behandelt mich immer als Kronzeu-
weit präsent.
quin bleibt hart und verfügt den Konkurs.
47 Personen wurden auf seine Anzeigen hin
gen der Justiz, aber das bin ich nicht – ich bin
Laut einer BND-Studie vom Herbst 2006
vor Gericht gebracht. Mörder und Erpresser,
Unternehmer aus Leib und Seele!« – er
nutzt vorzugsweise die Ndrangheta bestimm-
Die stille Teilhaberin
doch ebenso korrupte Behördenvertreter und
schreit es fast aus sich heraus und tigert auf-
te Regionen in Deutschland nicht mehr allein
Unternehmer. Und noch immer laufen Pro-
gebracht durch den Raum. Er ist verzweifelt,
als Rückzugsraum, sondern ist auch ökono-
Im Oktober 2000 allerdings entscheidet ein
zesse, bei denen Masciari wesentliche Details
dass seine Courage ihm das Leben verbaut.
misch aktiv. In Italien gilt sie inzwischen als
Gericht in Catanzaro (Kalabrien), dass die
beisteuern kann. Als einen der bedeutendsten
Wenn er noch einmal die Wahl hätte – anders
das gefährlichste der genannten vier Syndika-
Pleite von der Mafia verursacht worden sei
Zeugen gegen die Mafia hat ihn der ehemali-
entscheiden würde er sich trotzdem nicht.
te. Im Jahr 2005 konnte die Ndrangheta 35
und Masciari deshalb das Recht auf eine an-
ge oberste Antimafia-Staatsanwalt Piero Lui-
Seit Oktober 2006 tritt Masciari bei Treffen
Milliarden Euro umsetzen, schätzte die italie-
gemessene Entschädigung habe – ein bislang
gi Vigna hofiert. Dabei ist Masciari kein Pen-
des Antimafia-Verbandes Libera öffentlich
nische Handelskammer in ihrem Bericht SOS
einmaliges Urteil für die italienische Justiz.
titi, kein reuiger Sünder, der sich nach sei-
auf. Es sind, sieht man von seinen fast
Impresa vom Juli 2006. 30 Milliarden Euro
Masciaris Anwälte forderten 1,2 Millio-
ner Festnahme zur Kooperation mit den
wöchentlichen Terminen vor Gericht ab, die
seien auf die Konten der Cosa Nostra geflos-
nen Euro für den durch Fremdverschulden
Behörden durchrang, um sich ein mildes Ur-
ersten Begegnungen mit einem größeren Au-
sen, 28 Milliarden auf die der Camorra.
erlittenen Konkurs, dazu eine Million pro
teil und Hafterleichterungen zu verschaffen.
ditorium seit Jahren. Masciari erklärt vor Ju-
Die Ndrangheta spielt damit in einer Liga
Jahr für entgangene Verdienste und eine wei-
Maciari ist ein Bürger, der aus eigenem An-
gendlichen und Erwachsenen Norditaliens,
mit dem FIAT-Konzern, der 2005 einen Jah-
tere Million als Kompensation für erpresstes
trieb Verbrechen angezeigt hat. Deswegen
was Mafia im Alltag bedeuten kann, und er-
resumsatz von 46,5 Milliarden Euro ver-
muss er mit einem Attentat rechnen und lebt
zählt seine Geschichte.
zeichnet, und verdankt eine solche Position
Für Genugtuung sorgt bei dem in den
seit 1997 mit seiner Frau und den beiden Kin-
1985 stieg der gelernte Bauingenieur in die
nicht zuletzt der Dominanz im Kokainge-
Bankrott getriebenen Unternehmer, dass im
dern im Zeugenschutzprogramm des Staates.
Firma seines Vaters ein und bewarb sich, um
schäft. Hier hat sie die Konkurrenz von Ca-
November 2006 ausgerechnet die Richterin
Versteckt, in einer anderen Region Italiens,
ein eigenes Arbeitsfeld zu haben, auch bei öf-
morra und Cosa Nostra klar an ihre Grenzen
aus seinem Konkursverfahren wegen Koope-
mit geändertem Namen und aus Sicherheits-
fentlichen Ausschreibungen. Er gewann ein
erinnert, vermerkte im Vorjahr eine Studie
ration mit der Ndrangheta verhaftet wird.
gründen vom Berufsleben suspendiert. Was
Straßenbauprojekt – und prompt rief die
der Antimafia-Behörde des römischen In-
Patrizia Pasquin soll stille Teilhaberin eines
auch für seine Frau, eine Zahnärztin, gilt. Ein-
Ndrangheta bei ihm an, ließ ihn jedoch nach
nenministeriums. Alarmierender noch als der
von der Ndrangheta betriebenen Feriendorfs
zig die beiden Kinder gehen in die Schule.
einer Intervention seines Vaters in Ruhe. Der
ökonomische Spitzenwert ist freilich der
gewesen sein und im Gegenzug Gerichtsver-
»Wir leben wie im Gulag. Wir fühlen uns
hatte bereits dem Chef der Familie Vallelun-
Grad der mafiosen Durchdringung der kala-
fahren manipuliert haben.
eingesperrt. Wir haben keine Freunde und
ga seinen Tribut gezollt und verweigerte wei-
brischen Gesellschaft, immerhin beträgt das
Manchmal, wenn er wieder einmal ver-
keine Verwandten mehr«, klagt der vitale
tere Zahlungen des Sohnes kategorisch. Im
Verhältnis von Ndranghetisti zur normalen
zweifelt ist über seine Lage – so fernab von
Mann. Die Großfamilie – acht Geschwister
Jahr 1988 starb der Firmenpatriarch, und Gi-
Bevölkerung 1 : 345. Mit anderen Worten:
Freunden und Verwandten – und dem Staat
allein hat Masciari – ist im heimischen Serra
useppe Masciari führte die Geschäfte allein
Auf jeden 345. Bürger Kalabriens kommt ein
dermaßen ausgeliefert, mutmaßt Masciari,
San Bruno geblieben. »Die Abreise war ein
weiter. Und das erfolgreich. Das Interesse der
Mann der Ndrangheta (1 : 903 lautet der Ver-
das Zeugenschutzprogramm sei eine subtile
Alptraum. Wir hatten kaum Zeit für die Vor-
Ndrangheta wuchs. »Anfangs bat man mich
gleichswert für Sizilien), deren kriminelle Po-
Bestrafung für den aufrechten Bürger. Denn
bereitung. Wir durften keine Möbel mitneh-
um kleine Gefälligkeiten, ein paar Millionen
tenz dadurch gestärkt wird, dass sich ihre
zu Gerichtsterminen werde er oft im Fiat
men, nur was wir am Körper trugen sowie ei-
Lire hier, ein paar Millionen dort. Einer sag-
Netzwerke fast ausschließlich aus Blutsver-
Tipo mit durchsichtigen Scheiben kutschiert,
nen Koffer. Zuerst brachte man uns in ein
te, ich solle ihm doch ein neues Auto kaufen.
wandten rekrutieren – im Gegensatz zur
während die Mafia-Aussteiger in großen Ka-
einsames Haus an einer Bahnstrecke. Hinter
Ein anderer wollte einen Job für einen Ver-
Cosa Nostra, die ihre Mitglieder traditionell
rossen mit abgedunkelten Fenstern unter-
dem Grundstück verliefen die Schienen, vorn
wandten. Es ging genau um die Art von
lieber nach dem »Leistungsprinzip« als dem
wegs seien. Manchmal werde sein Fahrzeug
flanierte der Straßenstrich.«
Diensten, die ein Unternehmer seiner Umge-
»Abstammungsprinzip« auswählt.
für alle sichtbar vor dem Gerichtsgebäude ge-
Mittlerweile ist die Familie in ein anderes,
bung zuweilen leisten muss.«
Diese Identität der Ndrangheta erschwert
parkt. »Es wäre ein Leichtes, die Spur aufzu-
von den Behörden ausgesuchtes Anwesen
Masciari baut auf Anfrage eine Begräbnis-
das Eindringen von außen ebenso wie einen
nehmen«, meint er. »Ich fühle mich nicht
umgezogen, aber die Wohnqualität lässt sich
stätte für Cosimo Vallelunga, den Bruder
Ausstieg aus dem Kreislauf der Gewalt. Wer
wirklich ausreichend geschützt. Und wenn
keinesfalls mit dem Haus am Meer verglei-
des lokalen Ndrangheta-Chefs Damiano –
ausscheren will, muss nicht nur ehemalige
es ein Land in Europa geben sollte, das einen
chen, das die Masciaris einst Hals über Kopf
bezahlt wird er dafür nie. »Vollends unan-
Partner anzeigen, sondern Brüder, Onkel
ehrlichen Bürger aufnehmen will, dann bitte
verlassen mussten. 1.700 Euro pro Monat er-
nehmbar wurde die Situation, als ein paar
ich dort sofort um politisches Asyl.«
hält die Familie für alle Ausgaben wie Klei-
junge arrogante Burschen auf mich zukamen
Unter der Fuchtel eines solchen Syndikats
Aus Protest gegen die unzureichenden
dung, Essen, Telefon. 1.700 Euro, wie es das
und etwas über regelmäßige Monatsraten
entscheidet sich Giuseppe Masciari 1990 zur
Schutzmaßnahmen begibt er sich Ende März
Gesetz vorsieht.
schwadronierten. Und sie baten nicht, sie
Gegenwehr. Er lehnt es ab, Schutzgeld zu
ohne Eskorte zu einem Gerichtstermin in sei-
forderten«, erinnert sich Masciari. Drei Pro-
zahlen, und lässt die ihm gesetzten Fristen
ne kalabrische Heimat, begleitet von einem
Sie baten nicht, sie forderten
zent auf alle Bauten lautet damals der Tarif
verstreichen. Prompt gelten ihm verbale
Aktivisten des Antimafia-Vereins Libera.
der Ndrangheta. Und sechs Prozent von den
Drohungen. 1991 kommt es zu ersten Dieb-
»Das ist jetzt meine Familie«, sagt
Etwa 5.000 Personen partizipieren derzeit
durch sie vergebenen öffentlichen Aufträgen
stählen auf seinen Baustellen. Ein Jahr später
Masciari trotzig und weiß um das Risiko, das
nach Angaben des italienischen Innenmini-
wollen Angestellte der Kommune einstrei-
wird eine Garage angezündet – der Schaden
er eingeht. »Man kann nicht nur gegen die
sters am Schutzprogramm, größtenteils Fa-
chen. Masciari zahlt stillschweigend
beträgt 70 Millionen Lire, es folgen weitere
Ndrangheta aufbegehren und sie juristisch
milienangehörige von Zeugen. Zudem 978
und sieht sich nach anderen Auftraggebern
Brandstiftungen, 1993 wird auf einen von
bezwingen – man kann auch gegen dieses
Pentiti, also Ex-Mafiosi, wovon 290 zur Cosa
um. Er bekommt den Zuschlag für Projekte
Masciaris Brüdern geschossen. Zur Ein-
Syndikat seine Heimat behaupten.
Freitag 14
friedliche Koexistenz propagierte, der ein
betrachtet werden müssen. Was wäre die
langes einseitiges Atomversuchsmoratorium
moderne Psychiatrie ohne die »ressourcen-
Der Autor hat mir aus der Seele gesprochen!
als Vorleistung erbracht hatte, der mit unzäh-
orientierte« Therapie. Wahrscheinlich ist das
Die offensichtlichen Systemvorteile der Ei-
ligen Abrüstungsvorschlägen der Welt das
nur durch Psychoeducation möglich. Ein
senbahn bei Energie- und Schadstoffbilanz
Wettrüsten ersparen wollte und zur Realisie-
Recht auf Abweichungen von der Planbar-
sowie Flächenverbrauch gaben auch für
rung seines Gesellschaftsmodells nichts drin-
keit und Konstanz ist nicht vorgesehen. Ein
Sonntagsredner, Beschwichtiger und Schön-
gender gebraucht hätte als Frieden und Ab-
Recht auf Faulheit gibt es schon mal gar
färber der neoliberalen Parteien seit Jahr-
rüstung – und deshalb »tot gerüstet« werden
zehnten Anlass für die Forderung nach einer
musste. Danke, Ihr Friedensfreunde, dass Ihr
Als unverschämt und arrogant empfinde
tung gegenüber Iran und Irak wurden von
Verkehrswende. Aktuelle Klima-Debatten
die Seite geschwächt habt, die die Hauptlast
ich den Hinweis auf den Sozialpsychiater
den USA nicht als eine strittige Angelegen-
werden zwar von Schwarzgelb nur zur Kern-
im Kampf gegen die Nazibarbarei trug, die
Heiner Keupp und den von ihm beschriebe-
Rudolf Walther, »Ein Mechaniker der Macht«, Freitag, 16.
3. 2007
heit zwischen gleichgestellten Partnern, son-
kraft-Verharmlosung instrumentalisiert, soll-
die Entkolonialisierung ermöglicht hatte, die
nen Zusammenhang von »Kohärenzgefühl
dern als ein Fall von Insubordination behan-
ten aber nach neueren, auch ökonomischen
bei allen Tarifverhandlungen als dritter Ver-
und chronischer Demoralisierung = Ist doch
Zur zutreffenden Charakterisierung Stein-
delt.« (s. Zbigniew Brzezinski, Die einzige
Erkenntnissen schleunigst den Stellenwert
handlungspartner unsichtbar die sozialen In-
alles egal«. Dass diesem Wirtschaftssystem
meiers und seinem Verhalten 2002 im Fall
Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherr-
des Systems Eisenbahn real erhöhen. Da an-
teressen der abhängig Beschäftigten wahrge-
die Arbeitslosen, Langzeitarbeitslosen, egal
Kurnaz wäre noch hinzuzufügen, dass die of-
schaft). Der ehemalige Sicherheitsberater von
dere, gemeinwirtschaftliche Basisfunktionen
nommen hat. Euer »Kerzenhalten« war er-
sind, ist ein Eindruck, den man aus der tägli-
fizielle deutsche Außenpolitik diametral den
Präsident Carter und spätere Berater am Zen-
der Bahn schon lange vor ökologischen Ein-
folgreich: Es gibt eine unipolare Welt ohne
chen Lektüre aller Zeitungen wohl gewinnen
transatlantischen Diensten des BND entge-
trum für Strategische und Internationale Stu-
sichten bekannt waren, kam es nicht von un-
Völkerrecht und mit neoliberaler Vernut-
kann. Zudem steht in der EU-Verfassung
genstand. Denn dieser hatte für das »Pro-
dien (CSIS) in Washington meinte schon in
gefähr, dass auch die rheinische, ja die eu-
zung des Humankapitals.
nichts von einem Recht auf Arbeit. Aber es
dukt-Marketing« des geplanten Irak-Krieges
den neunziger Jahren, dass »im Zuge der eu-
ropäische Kapitalismus-Version neben staat-
Herbert Wolf, Mézin/Frankreich
geht mir nicht um die chronische Demorali-
eine Schlüsselstellung inne.
ropäischen Einigung« das Bündnis auf einer
lichen Postverwaltungen auf Staatsbahnen
sierung der Langzeitarbeitslosen. Ich denke
Unter dem Codenamen Curveball präsen-
gleichberechtigten Partnerschaft beruhen
setzte. Einige historische Privatbahn-Pleiten
Recht auf Abweichung
eher an die chronische Demoralisierung im
tierte er dem CIA einen irakischen »Infor-
müsse. Es dürfe nicht mehr eine Allianz sein,
mögen da auch Pate gestanden haben.
ganz gewöhnlichen Alltag, die nicht zuletzt
manten« als vertrauensvolle Quelle, der be-
»in der es, um traditionelle Begriffe zu ge-
Die Stille um die unausgesetzte DB-Ver-
Till Bastian, »Was erhält uns eigentlich gesund?«, Freitag, 9.
herbeigeführt wird durch die unverschämten
hauptete, dass der Irak eine Flotte von mobi-
brauchen, einen Hegemon und dessen Vasal-
kaufsdrohung frappiert in der Tat. Parallel-
Lügen der Politiker, zum Beispiel im Vorfeld
len Biowaffenlabors gebaut hätte. Curveballs
beispiel »Gesundheitsreform«: die gleichen
Das Beste an diesem Artikel auf Seite 18 ist
des Irak-Krieges, des Jugoslawien-Krieges –
Behauptungen fanden Eingang in den Natio-
Erich Schäfer, Wien
Pseudo-Unterschiede zwischen den Groß-
der Artikel von Georg Fülberth auf seiner
man denke an den »Hufeisenplan« eines so-
nalen Sicherheitsbericht der Vereinigten Staa-
koalitionären; der gleiche undurchschaubare,
Rückseite, auf Seite 17. Es gäbe sehr, sehr viel
zialdemokratischen Militärfachmannes, heu-
ten, in die Reden des US-Präsidenten und in
Auf Verschleiß
zu Bastians Text zu sagen. Nur einiges.
te Radfahrer.
die berühmte wie peinliche Rede des damali-
zwischen schon zuvor identischen Absichten
Dass das »bei der Erfassung psychischer
Hajo Hübner, Solingen
gen Außenministers Colin Powell am 5. Fe-
Heiner Mohnheim, »Die kalte Enteignung«, Freitag, 16. 3.
der Unions- und SPD-Spitze; die gleiche
Gesundheit so bewährte Kohärenzgefühl«
bruar 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat.
mangelnde Zustimmung bei Basis und
unbewusst sein soll, leuchtet nicht ganz ein.
Orpheus in der Unterwelt
Neben anderen haarsträubenden Geschich-
Zunächst möchte ich mich für die umfang-
Unbewusst hängt mit Verdrängung zusam-
ten hat diese vom BND beigesteuerte Erfin-
reichen und immer sehr aufschlussreichen
Bernhard May, Düsseldorf
men, ein psychoanalytisches Konzept, mit
Karsten Laske, »Berliner Unter-Tage-Blues«, Freitag-Ro-
dung zur Rechtfertigung für den noch heute
Artikel in Ihrer Wochenzeitung bedanken.
dem auch in einer psychosomatischen Klinik
binson, 23. 2. 2007
andauernden Irak-Krieg maßgeblich beige-
Mit sehr viel Interesse habe ich den Artikel
Kerzenhalten war erfolgreich
gearbeitet wird. Dass dieses Kohärenzgefühl
Entschuldigung, dass ich mich erst jetzt dazu
tragen. Heute wissen wir: Curveball war
von Herrn Mohneim gelesen. Es ist sehr
für »Vorhersagbarkeit, Planbarkeit und Kon-
äußere, aber ich schlug mich mit rätselhaften
nichts weiter als ein Screwball, ein Wirrkopf.
wichtig dass bei diesem Vorgang hier mehr
Matthias Dell, »Lieber Freund«, Freitag, 16. 3. 2007
stanz als Qualitäten des Lebens« stehen soll,
Computerproblemen herum: Danke für die
(Darüber wie der Irak-Krieg in den USA
Öffentlichkeit hergestellt wird, um die Bür-
Matthias Dell als Laudator und den von ihm
kommt sicherlich auch den Vorstellungen der
U-Bahn-Beilage! Ein wunderbarer Streifzug
»verkauft« worden ist, haben Frank Rich mit
ger (Reisenden) aufzuklären! Bezug neh-
porträtierten Friedensfreunden in der DDR
EU-Bürokratie in Brüssel sehr weit entge-
durch die Berliner Unterwelt, vom Alltägli-
The Greatest Story Ever Sold und die beiden
mend auf diesen Text, kann ich als langjähri-
der achtziger Jahre sei Dank dafür, dass die
gen, kümmert die sich ja auch um die Vor-
chen hin zu tieferer Bedeutung. Ein schöner
Autoren der New York Times, Michael Isikoff
ger Mitarbeiter der Deutschen Bahnen diese
Beiträge letzterer zur Welt, wie sie heute
hersagbarkeit, Planbarkeit und Konstanz als
und David Corn, mit Hybris im vergangenen
Angaben bestätigen – auch aktuell habe ich
ist, endlich hinreichend gewürdigt wurden
Qualität der grünen Salatgurke. In so einem
Bettina Klix, Berlin
Jahr zwei lesenswerte Bücher geschrieben.)
weiterhin den Eindruck, soweit ich den Ein-
und werden. Der Dank gilt auch einer in der
System wäre kein Platz für Überraschungen,
Vor diesem Krieg musste alles vermieden wer-
blick habe, dass abgehängte Streckenbereiche
Vermittlung der DDR- Realität ebenso un-
Risiko, Unsicherheit, Liebe und Freiheit. Es
Windeln wechseln
den, was auf die tiefgreifende Unterstützung
wie zum Beispiel in der Region des Bahnho-
parteiischen wie objektiven Institution wie
gab mal ein Buch eines berühmten Psycho-
und Kooperation der Dienste diesseits und
fes Berlin-Lichtenberg (Blo) und dem dazu-
der Bundeszentrale für politische Bildung.
analytikers mit dem Titel Der überraschte
Leserbriefe von Eugen Maus, Dirk Schubert und Thomas
jenseits des Atlantiks bei der Erzeugung eines
gehörenden Berliner Biesdorfer Kreuz
Dank allerdings nur, wenn man denjenigen
Analytiker. Der hatte bestimmt ein beschä-
Hartmann, Freitag, 23. 3. 2007, zu: Claudia Neusüss, »Blu-men inbegriffen«, Freitag, 9. 3. 2007
günstigen Kriegsklimas und der Abwicklung
(BBik) die Langsamfahrstellen zunehmen
Kräften auf unserem Globus nahe steht, die
digtes Kohärenzgefühl. Aber bleiben wir
von Gefangenenrotationen hingewiesen hät-
und reichlich wenig von Bahnseite getan
schon damals das Motto ausgaben »Es gibt
noch etwas bei der EU.
Mensch Ihr Frauen! Drei Männer sagen uns
te. Einen Fall Kurnaz durfte es daher nicht ge-
wird, den Zustand zügig zu beseitigen. Auch
wichtigere Dinge, als im Frieden zu leben«
Von Elmar Altvater erfahren wir in dersel-
Bescheid: WIR SIND GAR NICHT DIS-
meine ehemaligen Mitarbeiter und ich im In-
(US-Außenminister Haig) oder: »Dem so-
ben Freitag-Ausgabe, Seite 1, etwas über ei-
KRIMINIERT! Wir verdienen gar nicht we-
Helmut Weigel, Hamburg
standhaltungsbereich FahrbahnNetz bezie-
wjetischen Huhn den Kopf abschlagen« (als
nige Paragraphen der EU-Verfassung:
niger. Wenn wir nicht in den falschen Beru-
hungsweise Bahnbau hatten spätestens Ende
es um die Pershing-II-Raketen ging). Oder:
III/178, III/185, III/233. Stellvertretend sei
fen wären. Wenn wir nicht dummerweise un-
der neunziger Jahre feststellen müssen, dass
»Achtung: die Bombardierung der Sowjet-
der § 178 zitiert: »Die Mitgliedstaten und die
sere Berufslaufbahn unterbrechen würden,
vermehrt auf Verschleiß gefahren wurde, wo-
union beginnt in fünf Minuten« (»Sprech-
Union handeln im Einklang mit dem Grund-
nur damit wir die Väter ärgern können, in-
Willy Wimmer, »Sperr-Riegel gegen Russland«, Freitag,
bei dies vereinzelt schon in den Bereich der
probe« von Präsident Reagan). Kräfte, deren
satz einer offenen Marktwirtschaft nach frei-
dem wir ihnen das Sorgerecht streitig ma-
Betriebsgefährdung reichte! Ich bitte Sie, in
Mittel stets der auch heute noch beanspruch-
em Wettbewerb, wodurch ein effizienter Ein-
chen. Wenn wir unseren beruflichen Aufstieg
Über die zwischen den USA, Tschechien und
dem Bemühen, die Öffentlichkeit weiter auf-
te atomare Erstschlag war und ist.
satz der Ressourcen gefördert wird.«
nicht so sträflich vernachlässigen würden,
Polen bilateral vereinbarte Errichtung eines
zuklären, um eine totale Privatisierung der
»Vor 25 Jahren formierte sich der Protest .
Bei Bastian lesen wir – er ist immerhin Psy-
um Kinderpopos zu wischen, Windeln zu
Raketensystems gibt es Meinungsverschie-
Deutschen Bahn zu verhindern, nicht nach-
gegen die Aufrüstung in der DDR« – heißt es
chotherapeut und arbeitet mit der Sprache –,
wechseln, in Elternbeiräten zu sitzen und In-
denheiten. »Auch die euroamerikanischen
im Text –, aber die DDR war ein Teil des
dass »nicht mehr allein die Konflikte und De-
itiativen für einen besseren Nahverkehr zu
Meinungsverschiedenheiten über die Hal-
Frank Hartje, Berlin
Blockes, der statt des »NATO Roll Back« die
fizite, sondern die Ressourcen des Patienten«
gründen, Fahrdienste zu FreundInnen, Mu-sikschule und so weiter zu leisten .
Und dass die Männer nicht zum Arzt ge-
Ich abonniere / verschenke
hen, daran sind wir auch schuld! Weil wir sienicht, wie es unsere Pflicht wäre, am Händ-chen nehmen. Dabei hat sich das Blatt längst
den Freitag für mindestens ein Jahr
gewendet und die eigentlich unterdrückten
sind die Männer. Jungs, wenn's nach mir gin-ge, bekämt ihr nur so viel Sorge- und Um-
gangsrecht, wie ihr auch bereit wärt, an Sor-ge und Umgangsarbeit zu investieren. By the
Strasse, Nr.
way: Haben die drei Jungs eine Erklärung
dafür, warum Frauenberufe (die überwie-gend Sorgeberufe sind) deutlich schlechter
Die Rechnung geht an:
bezahlt werden als Männerberufe, obwohldie Qualifikationsvoraussetzungen als auch
die Anforderungen genauso hoch oder höher
Strasse, Nr.
Datum, Unterschrift
Lebhafte DebattenZum Freitag
Ich möchte mich einmal bei Ihnen herzlich
dafür danken, dass es eine Zeitung wie den
Normalpreis ❑ E 11,00 ❑ E 33,00 ❑ E 066,00 ❑ E 132,00
Freitag gibt. Es ist ein Gewinn, ein Blatt le-
ermäßigt** ❑ E 07,70 ❑ E 23,10 ❑ E 046,20 ❑ E 092,40
sen zu können, welches sich unterscheidet
❑ E 18,50 ❑ E 55,00 ❑ E 110,00 ❑ E 220,00
vom gängigen Mainstream und welches die
Als Prämie für ein Jahresabo möchte ich
Geschehnisse in Politik und Gesellschaft oft
■ Dario Fo ■ Gerhard Holtz-Baumert
von einer anderen Seite beleuchtet oder inEcken der Welt schaut, die für gewöhnlich in
(Ausland zzgl. Versand / Jahr: Luft: E 41,- / Land: E 31,-)
* nur bei Erteilung einer Einzugsermächtigung
den anderen Medien kaum Beachtung fin-
** Für Schüler, Studenten, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und
den. Auf diese Weise wird einem als Leser
Rentner gegen Beleg
manches erst richtig bewusst. Ihre Zeitung
❑ bequem per Bankeinzug
❑ nach Erhalt einer Rechnung
gibt übrigens darüber hinaus häufig Anlasszu lebhaften Debatten in meinem Freundes-
kreis, und sie trägt bei uns den Spitznamen
»Zauberblatt«, was durchaus als Anerken-
Vertrauensgarantie: Mir ist bekannt, dass ich diese Bestellung innerhalb von 7
nung gemeint ist.
Tagen (Poststempel!) schriftlich beim Verlag Freitag, Potsdamer Str. 89, 10785
Anne-Cornelia Weber, Leipzig
Berlin, widerrufen kann.
Datum, 2. Unterschrift
Probeabonnement 13 Wochen für E 25,-
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von Vladimir Zarev
10407 Berlin. Oder faxen: 030 428040-42
Freitag 14
FREITAG: Frau Luo, welchen Unter-
schied macht es, wenn Sie auf deutschschreiben?LUO LINGYUAN: Auf Chinesisch
geht es natürlich schneller. Wenn ich aufdeutsch schreibe, kommt manchmal stun-denlang kein Wort, ich denke langsamer. Ge-
rade wenn ich über China schreibe wie inmeinem Erzählungsband Du fliegst für mei-
Was Fernsehwahlen von
nen Sohn aus dem fünften Stock! fallen mir
Nationalhelden sagen über das
zuerst chinesische Bilder ein. Die muss ichdann für mich übersetzen. Meine Denkweise
Publikum, das sie heute schaut
ist immer noch mehr chinesisch als deutsch.
Was wäre denn eine deutsche Denkweise?
Das Wort »Termin« kann man zum Beispiel
nicht übersetzen. Wenn wir das auf chine-sisch sagen, klingt es immer nach Rendez-vous. Da zeigt sich eine unterschiedliche Art,
Nun also Salazar. Die älteren unter
den Leserinnen werden sich erin-nern. Portugiesischer Diktator von1932 bis 1968, gestorben 1970, vier
Jahre bevor Portugal die Diktatur stürzte
miteinander zu kommunizieren. Chinesen
und seine Kolonien frei gab. Sie werden sich
sind neugieriger, sie stellen Fragen ohne
auch, das mit erheblich freundlicheren Ge-
Ende, über Eltern, Großeltern, Freunde, Ge-
danken, an den portugiesischen Kommuni-
liebte, alles. Wenn ein Deutscher jemanden
stenführer Alvaro Cunhal erinnern, der Sa-
kennen lernt, sind ihm solche Fragen pein-
lazar biologisch und politisch überlebte und
lich. Oder er glaubt, dass die dem anderen
bei der »Nelkenrevolution« 1974 eine aktive
peinlich sind. Deutsche versuchen vorsichtig
Rolle spielte. Bei der Fernsehwahl zum
zu sein. Deswegen dauert es so lange, bis sie
»Größten« Portugiesen des Staatssenders
wirklich mit einem warm werden.
RTP belegte er hinter Salazar (41 Prozent)den zweiten Platz mit 19 Prozent.
Was war dann der Impuls, in dieser Sprache
Die Ranking-Sucht zahlreicher Main-
zu schreiben?
stream-Medien kann man mit Recht als an-
Konkret war es ein Wettbewerb, an dem ich
steckende Krankheit sehen. Je weniger
teilnehmen wollte. Zuvor hatte ich deutsche
übersichtlich Lebensplanung, Gesellschaft
und europäische Bücher über China gelesen
und Politik werden, um so mehr steigt das
und das Gefühl, dass da etwas fehlt. China
Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung.
war nicht unbedingt falsch dargestellt, die
Das versuchen die Medien mit möglichst
Texte waren auch reflektiert, aber ich habe
viel Marketing-Lärm zu bedienen. Dass sie
gemerkt, dass ich viel mehr erlebt habe. Es
auch mit dieser Methode nur eine Illusion
gibt Dinge, die man als Tourist nicht erleben
verkaufen, gehört nach ihrem Selbstver-
kann. Solche Geschichten erfährt man nicht
ständnis zum Geschäft. Die ZDF-Gesichter
an einem Tag oder in einem Monat, sondern
Johannes B. Kerner, der die ZDF-Show Un-
in Jahren. Man hat gesehen, wie ein Kind in
sere Besten moderierte, und Guido Knopp,
der Nachbarschaft jahrelang verprügelt wur-
der für den späteren Sieger Adenauer plä-
de und am Ende stirbt. Das sind Dinge, die
dierte, sind Meister dieser Komplexitätsre-
ich nicht vergessen kann und die auch zum
duktion. Aus ihr spricht die Verachtung der
Leben in China gehören. Deshalb glaube ich,
vermeintlich intelligenten Medienmacher
darüber schreiben zu müssen.
für ihr Publikum, das in ihren Augen ent-schieden dümmer ist als sie selbst.
Welche Bücher von deutschen oder europäi-
Wie so oft war die BBC die erste Fernseh-
schen Autoren lesen sie denn?
anstalt, die diesen Zirkus unter dem Titel
Die Klassiker, Victor Hugo, Charles
100 Greatest Britons veranstaltete. Dort ge-
Dickens, die viel zu erzählen haben. Ich ste-
wann Churchill. In den USA war es Ronald
he in einer anderen Tradition. Wir Chinesen
Reagan, im deutschen ZDF wie gesagt Kon-
mögen es, in einer unheimlichen Dichte von
rad Adenauer und in den Niederlanden, ein
reichen Charakteren zu erzählen. Hier wird
ähnlich spektakuläres Ergebnis wie in Por-
in der Literatur reflektiert, analysiert und so
tugal, der ermordete Rechtspopulist Pim
weiter. In China sagt man, die Deutschen
sind ganz tolle Philosophen und deshalb den-
Was wollen uns solche Ergebnisse sagen?
ken sie manchmal ein wenig zu tief. Für das
Vor allem sagen sie, welches Publikum seine
Erzählen kann Philosophie hinderlich sein.
Abende vor der Glotze verbringt und für
Ich will ja nicht beleidigend sein, aber Tho-
welches Publikum das Fernsehen noch im-
mas Mann, das ist mir zu trocken.
mer das Leitmedium ist. Einfacher ist das inDeutschland mit dem fortdauernden Quo-
Deutsche Autoren können nicht erzählen.
tenerfolg der »Volksmusik« zu erklären.
Ja, aber wenn man die Kinderliteratur sieht,
Solche Sendungen erreichen an dunklen
dann denkt man: das Potenzial ist doch da.
Winterabenden fünf bis sieben Millionen
Durch meine Tochter habe ich ganz wunder-
Zuschauer. Das ist dann ein Marktanteil von
bare Sachen entdeckt, Paul Maar, Otfried
15 bis 20 Prozent. Das heißt: 80 Prozent
Preussler, Der Räuber Grapsch von Gudrun
gucken etwas anderes. Die Mehrheit aber,
Pausewang. Also eigentlich können die Au-
und das ist gesellschaftlich noch entschei-
toren gut erzählen. Nur wenn sie glauben,dass sie für Erwachsene etwas Tolles machen
Blühende Bauernhöfe
dender, sitzt nicht vor der Glotze, sondernweiß mit dem Samstagabend etwas Sinnvol-
sollen, dass nicht gelacht werden darf und al-
leres anzufangen. Dabei sind die vor der
les immer ein bisschen schwermütig sein
Glotze die Alten; die, die sie vermeiden, die
IM GESPRÄCH ■ Die Schriftstellerin Luo Lingyuan über deutsches Erzählen, chinesischen
muss, dann wird es mit der Literatur nichts.
für ihren angebliche Mediensucht gescholte-
Nationalgeist und europäischen Reichtum
In ihrem Roman »Die chinesische Delegati-
Der Intendant des Senders, der »die besten
on« lebt die Reiseleiterin Sanya ein halbes Le-
einfach nur eine Produktionsstätte für west-
den chinesischen Minderheiten nicht be-
Den Kommunismus hatte man sich aber an-
Deutschen« wählen ließ, Markus Schächter
ben in Deutschland. Einmal sagt sie, dass Eu-
liche Firmen sein.
haupten, was die Regierung gemerkt hat. Sie
ders vorgestellt.
(59), wird – so ein derzeit kursierendes
ropa ihr eine Form der Freiheit ermöglicht
versucht, denen jetzt mehr Rechte zu geben.
Das ist ja auch eine falsche Idee: Das Land,
Bonmot – in einem Jahr endlich das Durch-
hat, die es in China noch immer nicht gibt.
Hierzulande macht gerade diese Seite an
Sie dürfen ein Kind mehr bekommen und
dass allen gehört, gehört in Wirklichkeit kei-
schnittsalter seines Senderpublikums errei-
Was verbinden Sie mit Europa darüber hin-
Chinas Aufstieg manchem Beobachter Angst.
ihre Kultur stärker aufleben lassen, Tänze
nem. Da versucht jeder herauszuholen, was
chen. So gesehen kann das ZDF-Ranking
Chinesen sind sehr empfindlich, wenn sie
tanzen, Trachten tragen. Da ist aber noch vie-
er herausholen kann. Ich war nie wirklich
von 1. Adenauer, 2. Luther, 3. Marx, 4. So-
Durch die Ost-West-Wiedervereinigung
merken, dass die andere Seite sich überlegen
les oberflächlich, Folklore. Wenn man eine
vom Sozialismus begeistert. Die Idee ist gut,
phie und Hans Scholl und 5. Willy Brandt
macht sich Europa zum Vorbild. Die Trüm-
fühlt. Dann versuchen sie, den anderen zu
gewisse Stärke erreicht hat, wenn ein Land
aber nicht sehr menschlich. Menschen haben
nicht überraschen.
mer des Kalten Kriegs sind weggeräumt, die
schikanieren, das Geschäft nicht zustande
reich und demokratisch ist, hat man Natio-
einen gewissen Egoismus. Wenn etwas mit
Churchill war der letzte Brite, der einen
Spuren der Trennung werden weniger. Dieser
kommen zu lassen. Das ist vielleicht etwas
nalismus nicht mehr nötig. Jeder weiß, dass
mir zu tun hat, wenn etwas mein Interesse
Krieg gewonnen hat (naja, der Falkland-
Frieden in 50 Jahren, dass man miteinander
Neues. Dass die Chinesen durch den Natio-
das Gesetz funktioniert, und wenn etwas
betrifft, dann lege ich Wert drauf. Deshalb ist
Krieg war ja kein »richtiger«); gleiches gilt
immer besser auskommt, das beeindruckt
nalgeist, der von der Regierung unterstützt
falsch gelaufen ist, wendet er sich ans Gesetz.
der Schutz des Privateigentums wichtig:
für den französischen »Besten« de Gaulle,
mich. Und natürlich die Stärke, der Reich-
wird, arroganter geworden sind. Früher wa-
Das ist in China noch nicht so. Deshalb
Man hat eine direkte Liebe zu dem Stück
beide im übrigen Zeitgenossen des deut-
tum, immer ganz vorn zu sein. Der Reichtum
ren sie nur bescheiden, bescheiden, beschei-
braucht es den Nationalgeist, der alle ein we-
Land. In China haben wir immer gesagt, dass
schen Siegers Adenauer. In Russland würde
wird für Chinesen besonders auffällig in
den. Je stärker China sich fühlt, desto weni-
nig zusammenhält.
hier in Deutschland ein sozialistisch-kapita-
so gesehen vermutlich Breschnew gewin-
Westeuropa: an den
ger Angst wird es vor
listisches Modell entstanden ist. Es gibt eine
nen, wie es in den USA Reagan getan hat.
Bauernhöfen, die so
der Außenwelt ha-
In Deutschland ist das Nationalgefühl nicht
starke Mittelschicht, man achtet darauf das
Es ist das Unwohlsein der Couch-Potato-
Die Autorin Luo Lingyuan wurde 1963 im Süd-
schön mit Blumen
unproblematisch. Wie nehmen Sie dieses ge-
Geld ein bisschen zu verteilen. Es gibt keine
Generation vor den heutigen Unsicherhei-
westen Chinas geboren. Sie studierte Journa-
geschmückt sind,
brochene Verhältnis wahr?
wirklichen Bettler; in China gibt es Men-
ten der Globalisierung, den Auswirkungen
listik und Computerwissenschaft in Shanghai
obwohl da kaum je-
So ein Nationalgeist
Es gibt ja die Neu-Nazis. Vor deren »Na-
schen, die nicht wissen, wo sie einen Cent für
des Neoliberalismus und der gesellschaftli-
und lebt seit 1990 in Berlin. Seit 1992 veröf-
ist aber nicht dazu ge-
tionalgeist« hat man in China manchmal
den Tag herbekommen, denen gibt das Land
chen Individualisierung. Die Siegerfiguren
fentlicht sie in chinesischen Zeitschriften.
ist der Bauer reich,
eignet, die Sorgen be-
Angst, das hängt aber auch davon ab, wie
dieser TV-Wahlen verkörpern die »besseren
Nach einem auf deutsch verfassten Erzäh-
in China rangiert er
sagter Beobachter zu
darüber berichtet wird. Mein Eindruck ist,
Zeiten« in denen – angeblich, aber nicht
lungsband vor zwei Jahren, hat sie kürzlich
an der untersten Stu-
dass die nicht wirklich stark sind. Was mir
Gerade diese Mittelschicht ist aber dabei sich
wirklich – alles noch stabiler war. Haben
ihren ersten Roman vorgelegt, in dem die Ti-
fe der Hierarchie.
Das chinesische Na-
auffällt: Die Chinesen sprechen mit viel
aufzulösen, die Spanne zwischen arm und
60-Jährige und Ältere das in ihrer Mehrheit
tel gebende »Chinesische Delegation« auf Eu-
tionalgefühl unter-
mehr Liebe und Hoffnung über ihr Land.
reich wird größer.
jemals anders gesehen?
ropafahrt geht.
Gerade bei den Bau-
scheidet sich sehr von
Deutschland dagegen ist reich, aber man
Das ist die Aufgabe der Politik, das zu re-
Das macht, so schlau sind auch die Jünge-
ern ist der Wohl-
jammert immer ein bisschen. Es gibt einen
ren, nicht alles falsch, was die Älteren sehen.
stand ja eine Folge sehr deutlicher Interessen-
Reichs. Deutschland war angriffslustig, woll-
chinesischen Spruch, von einem, der ständig
Darum sind es ja viele Junge, die im Juni ge-
politik. Und Reichtum sieht man als Deut-
te immer mehr Raum erobern. China ist fried-
fürchtet, dass der Himmel runterfällt und
Sie haben viele europäische Länder gesehen.
gen den G8-Gipfel in Heiligendamm de-
scher zumeist eher kritisch.
lich. Ich denke nicht, dass die Regierung vor-
deswegen den ganzen Tag schlecht gelaunt
Könnten Sie sich vorstellen, in einem anderen
monstrieren wollen und auch die Kirchen-
Chinesen machen gerne Geschäfte und jetzt
hat, andere Länder anzugreifen. Das Land ist
ist. So kommen mir die Deutschen vor. Was
als Deutschland zu leben?
tage bevölkern. Mag sein, dass viele von ih-
ist endlich die Zeit da, wo sie das können. Sie
groß genug und hat schon so genügend Pro-
merkwürdig ist.
Es gibt ja überall ähnliche Werte, insofern
nen auch solche Medienwahlen verfolgen,
dürfen endlich, und deshalb ist es für viele
bleme. Der Nationalgeist ist ein Versuch, das
sind die Unterschiede gering. Frankreich
etliche auch spielerisch daran teilnehmen
erst mal erstrebenswert, reich zu sein. Das
Zusammenleben zu organisieren, in dem man
mag ich wegen der Literatur, die für Chine-
(und eine Figur wie Daniel Kübelböck,
gilt auch für das Land als solches, es will wie-
ein gemeinsames Ziel ausgibt: die wirtschaft-
Die Menschen hier sind viel engagierter.
sen vielfältiger ist als die deutsche. In Italien
längst vergessen, seinerzeit im ZDF auf
der eine Nummer sein in der Welt. China hat
liche, technische und wissenschaftliche Stär-
Obwohl sie nicht zeigen, dass sie ihr Land lie-
strahlen die Menschen mehr Wärme aus. Die
Platz 16 wählten). Aber sie nehmen es nicht
erstaunlich viel geschluckt, ohne einen Krieg
ben, setzen sie sich für es ein. Es gibt ver-
Deutschen sind vielleicht warmherzig, aber
so ernst, weil sie ein souveräneres Verhältnis
zu führen. Das Land wurde von Japanern
schiedene Demonstrationen, da gehen Leute
sie zeigen das nicht. Dafür machen sie ihre
zu den Medien entwickeln. Sie gehen mit
und Europäern besetzt, das Volk von der ei-
In Ihrer pragmatischen Auffassung wäre Na-
hin wie du und ich, die haben eine Meinung
Arbeit sehr gut. Ich habe hier viel gelernt,
den zahlreichen neuen medialen Alternati-
genen Regierung unterdrückt, und dennoch
tionalgefühl dann eine Art Placebo, das verab-
und an die glauben sie auch. Wenn sie mei-
weil ich häufiger Kritik bekommen habe,
ven bewusster um als ihre Eltern und vor al-
gab es keinen Aufruhr. Daher kommt eine
reicht wird, bis die wirtschaftliche oder politi-
nen, sie müssten was für die Umwelt tun,
dass ich zu schlampig arbeite. Manchmal
lem die Politikerinnen, die, völlig ahnungs-
gewisse Vorsicht: Die Chinesen möchten
sche Kraft fürs nötige Selbstbewusstsein sorgt.
dann achten sie auf ihr alltägliches Verhalten
wurde ich dreimal auf einen Fehler hinge-
los, ihnen alles Mögliche, was sie selbst
nicht schon wieder reingelegt werden. Bei
Ich denke schon. In der erfolgreichen EU
und erziehen ihre Kinder auch so. In China
wiesen. Und hab ihn doch wieder gemacht.
nicht kennen, verbieten oder zumindest
Geschäften verlangen sie, dass technisch zu-
kann jedes Land verschieden sein in punkto
kümmert man sich nur um die Familie,
sammengearbeitet wird. Das Land soll nicht
Sprache und Lebensstil. Das kann man von
Hauptsache, der Familie geht es gut.
Das Gespräch führte Matthias Dell
Martin Böttger
Freitag 14
gewaltige Output der Privaten sei auch ar-beitsmarktpolitisch ein Problem, weil die mei-
Der raue Wind der Ökonomie
sten Schüler auf dem Markt gar keine Chancehätten. Bis auf wenige Ausnahmen lässt dieZBF zu ihren Vorsprechen Privatschulen garnicht mehr zu: »Die Ergebnisse sind in allerRegel deplorabel«. Eine dieser Ausnahmen istdie Schule des Kölner Theater der Keller.
Symptomatisch ist, dass 1954 zunächst die
»EMPOWERMENT« UND »BOLOGNA-PROZESS« ■ Schauspielschulen begreifen ihre Ausbildung immer mehr als Vorbereitung auf einen Markt,
Schule, dann erst das Theater gegründet wur-den. Diese Genese ist Programm insofern, als
auf dem sich jeder selbst verkaufen muss
die Schüler bereits früh Bühnenerfahrungsammeln sollen. Der Lehrplan mit Grundla-
Das kannst du vergessen. Vergessen« Unternehmertum und Selbständigkeit, der lelen zur Schauspielausbildung sind dabei doch der ab 2008 angebotene Masterstudien- genunterricht, tägliches Bewegungstraining
»Was soll das heißen?« »Was das
aber auch noch auf anderer Ebene greift.
schlagend. Mit anderen Worten: die Folgen
gang soll als »projektorientierter Ausbil-
bis zu individuellem Rollenstudium unter-
heißen soll?« »Ja« »Das ist doch wohl
»Wir müssen die Schüler viel mehr fordern,
der Erziehung von 68 werden nun mit wei-
dungsteil, bei dem größere und kleinere Auf-
scheidet sich kaum von der Folkwang Hoch-
völlig klar: das heißt, dass du…« – die
selbst Entscheidungen zu treffen«, sagt De-
führungen realisiert werden« dann mehr Mo-
schule. Erstaunlich ist jedoch die große An-
Sätze zischen durch den Raum wie Peit-
kanin Marina Busse und weiß, dass sie damit
derselben Generation wieder wettgemacht,
bilität ermöglichen. Dafür haben sich die
zahl von 19 Dozenten, aus dem vor kurzem
schenhiebe. Anna Staab und Matthias Eberle
den Finger auf zwei Wunden zugleich legt.
damit den Schauspielschülern der raue Wind
Schauspielschulen in Zürich, Bern, Verscio
Dozentin Estera Stenzel als Professorin an
proben eine Szene aus Roland Schimmel-
Da sind einmal die Bildungsdefizite vieler
des Marktes zur Brise wird.
und Lausanne zu einem Angebotspool zu-
die Hochschule Ernst Busch berufen wurde.
pfennigs Push up. Doch die beiden Schau-
Schüler, die die Dekanin schon mal ihre Stu-
All die neuen Lehrinhalte müssen nun mit
sammengeschlossen, aus dem die Studenten
Doch die geringe Zahl von 24 Semesterwo-
spielschüler der Essener Folkwang Hoch-
denten ins Museum schleppen lässt. Das an-
dem im »Bologna-Prozess« vorgesehenen
sich ihre Fächerkombination zusammenstel-
chenstunden führt ins Herz des Problems.
schule sind unzufrieden: seit Tagen arbeiten
dere Problem ist gravierender: Es gibt nicht
Modulsystem und der Bachelor/Masters-
len. Schon heute machen Studenten aus
Privatschulen sind Wirtschaftsunternehmen,
sie alleine an der Szene, aber die emotionale
genug Studenten mit Biss und Durchset-
Struktur des Studiums verbunden werden.
Gießen und Hamburg ihren Abschluss in
die von ihren Einnahmen leben müssen. »Da-
Palette will nicht farbiger werden. Dass Anna
zungskraft. Marina Busse macht dafür die
Um den Bachelor hat man sich in Essen al-
Zürich. Hartmut Wickert kann sich vorstel-
durch dass sich die Schule vollständig selbst
Staab und Matthias Eberle eine Dialogszene
behütete Erziehung durch die 68er-Eltern
lerdings gedrückt und den neuen Folkwang-
len, dass in Zukunft in Bereichen wie Perfor-
finanziert«, so Direktor Hanfried Schüttler,
ohne Lehrer erarbeiten, ist nichts Außerge-
verantwortlich. Was dies für die Besetzungs-
Abschluss kurzerhand in »Art Diploma«
mance auch englischsprachige Studenten
»ist keiner der Lehrer festangestellt.« Jede Er-
wöhnliches. In Zukunft soll dies sogar weit
politik, für Rollenprofile bedeutet, kann man
umbenannt. »Unsere intensive Ausbildung
nach Zürich kommen. Schöne Welt der Glo-
weiterung des Lehrangebots kostet Geld, das
stärker die Essener Schauspielausbildung be-
nur erahnen. Aber nicht umsonst taucht in
ist eher dem Master adäquat«, begründet
balisierung oder neue Internationale der
die Schüler bezahlen müssen. Die monatli-
stimmen als bisher.
Essen und an anderen Schulen wie ein Man-
Hanns-Dietrich Schmidt die Entscheidung.
chen Belastungen liegen jetzt schon bei 350
Seit 2001 arbeitet die Folkwang Hochschu-
tra das Wort von der »Selbständigkeit« auf.
In der Schweiz ist man da weiter. Die deut-
Bologna wird kommen und die hiesigen
Euro im ersten und 385 Euro ab dem zweiten
le an einem neuen Ausbildungskonzept. Der
Offensichtlich geht es dabei um Strategien,
sche Kritik an der modularisierten Schau-
staatlichen Schulen werden sich dem anpassen
Jahr. Die Schule gerät dadurch in einen Teu-
Anlass für die Reform liegt zum einen in der
die als empowerment in Mode sind. Empo-
spielausbildung wie der Umwandlung des
müssen. Doch was bedeutet »Bologna« für die
felskreis: je mehr Schüler, desto mehr Einnah-
Vereinheitlichung der europäischen Hoch-
werment wurde ursprünglich von der ameri-
Diplomabschlusses teilt Hartmut Wickert,
privaten Schauspielschulen? »Wir haben ein
men. Trotzdem leistet man sich ein knallhar-
schul-Ausbildung, die unter dem Stichwort
kanischen Bürgerrechtsbewegung der siebzi-
der Departmentleiter für Darstellende Kunst
sehr kritisches Verhältnis zu den privaten
tes Prüfsystem, das nach jedem (!) Semester
»Bologna-Prozess« firmiert. Dahinter ver-
ger Jahre geprägt und meint eine Selbster-
und Film der Zürcher Hochschule für Musik
Schauspielschulen«, sagt Michael Schäfermey-
aussiebt, so dass am Ende der Ausbildung von
birgt sich kurz gefasst: die Einführung einer
mächtigung, die Verantwortung nicht mehr
und Theater, nicht. In Zürich hat man einen
er von der ZBF ohne Umschweife und weist
15 Schülern oft nur noch acht übrig bleiben.
auf Instanzen wie Gesellschaft oder Eltern
dreijährigen Bachelor-Studiengang einge-
auf Defizite bei den Ausbildungszeiten, den
»Bisher hat das Inhaltliche über das Wirt-
der Studierenden, Einführung eines gemein-
abwälzt. Nach Gründen wird nun nicht mehr
richtet, der allerdings nicht »berufsqualifizie-
Curricula oder den Lehrenden hin. Die Zahl
schaftliche gesiegt«, sagt Hanfried Schüttler
samen Punktesystems, Vergleichbarkeit der
gefragt; empowerment will die vermeintlich
rend« ist; sondern nur die »Eintrittsberechti-
der Privaten schätzt er auf 150 bis 200 – ge-
stolz. Was andererseits zur Folge hat, dass
Abschlüsse, Beteiligung der Studierenden
ungenutzten Autonomie- und Machtquellen
gung, um den eineinhalbjährigen Master-Stu-
genüber 18 staatlichen deutschsprachigen
Schüler im zweiten Jahr nur 90 Minuten ge-
und Europäisierung des Hochschulbereichs.
des Subjekts freisetzen und sie einer umfas-
diengang zu beginnen«. Am schauspieleri-
Schauspielschulen. Dass dies zu einem Zwei-
nuinen Rollenunterricht pro Woche erhalten.
Zum Zweiten hat man die anstehende Fusion
senden Selbstkontrolle zuführen. Die Paral-
schen Basisunterricht ändert sich nichts,
klassensystem geführt hat, ist nur das eine. Der
Nun kommen die Auswirkungen des »Bo-
mit der Bochumer Schauspielschule und die
logna-Prozesses« hinzu. Dass Studenten
veränderte Marktsituation für Schauspieler
zwischen privaten und staatlichen Hoch-
als Chance begriffen, so Dekanin Marina
schulen wechseln, scheint wenig wahrschein-
Busse, »die Ausbildung grundsätzlich zu hin-
lich. Vielleicht deshalb spricht Hanfried
Schüttler eher von Kooperationen mit Me-
»Marktsituation« meint dabei vor allem die
dienhochschulen, Angeboten im Bereich
sich auflösenden Ensembles. Hanns-Dietrich
Fernsehen und Casting, stärkerer Verbin-
Schmidt, Professor für Dramaturgie und
dung von praktischer und inhaltlicher Arbeit.
praktische Theaterarbeit: »Es gibt immer we-
Seine Marktanalyse und Lösungsstrategien
niger Anfängerstellen für Schauspielabgän-
ähneln dann auf verblüffende Weise denen
ger, aber immer mehr Möglichkeiten zu ga-
der Folkwang-Hochschule. Auch an der
stieren.« Abgänger müssten sich deshalb viel
Schule des Keller Theaters sollen Eigenenga-
flexibler und selbstbewusster in Zwischenbe-
gement und Selbstermächtigung des Schülers
reichen bewegen, in denen sie Stücke oder
immer größer geschrieben werden.
spartenübergreifende Projekte entwickeln,
Und gerade da fühlen sich die Keller-
anschließend arbeitslos seien, dann wieder in
Schüler im Vorteil. Der junge Firat Baris Ar:
Filmen mitwirkten. Die Konsequenz daraus
»Wir wissen, dass wir eine gute Ausbildung
ist, so Schmidt, »dass wir die Eigeninitiative,
bekommen, aber letztendlich ist es eine pri-
das Selbstbewusstsein und die Eigenarbeit
vate Schule und wir müssen mehr kämpfen.«
des Schauspielers stärker fördern wollen«.
Der türkischstämmige Schauspielschüler
Ein verbindlicher Lehrplan wird erst 2008
weiß, wovon er spricht. Er hat seine Ausbil-
fertig sein. Doch klar ist, dass die vierjährige
dung zum Einzelhandelskaufmann abgebro-
Ausbildung erhalten bleibt, der Fokus auf der
chen, musste seine Eltern von seinen Plänen
klassischen Rollenausbildung allerdings
überzeugen, hatte nach drei Vorsprechen im-
schwächer wird. Studenten der Ausbildungs-
merhin zwei Zusagen von Schulen und ist
gänge Schauspieler, Mime/Körpertheater,
nun, wie er sagt, in eine völlig neue Welt ein-
Regie und des neuen Fachs »Theater ma-
getaucht. Um die Zukunft ist ihm deshalb
chen« absolvieren zunächst eine einjährige
nicht bang. »Ich glaube, dass die Leute, die es
gemeinsame Grundausbildung, bevor man
hier schaffen, härter und innerlich reifer sind
sich dann stärker auf die facheigenen Inhalte
als die anderen.« Keine schlechten Vorausset-
und schließlich die Arbeit in Produktionen
zungen, um am Ende auf dem hart um-
konzentriert. Wichtig ist die Durchlässigkeit
kämpften Markt zu bestehen.
der Studiengänge und die Erhöhung der Zahlan freiwilligen Kursen für die Studenten.
Stolz ist man besonders auf das neue Fach
»Theater machen«, das in Kooperation mit
Die aktuelle Fernsehwerbung zwischen Witz, Wichtigtuerei und Pseudo-Wissenschaft
Performern wie der britischen Gruppe For-ced Entertainment entwickelt wurde. »Daszielt«, so Hanns-Dietrich Schmidt, »auf ei-nen selbständigen Autor-Produzenten, alsojemand, der im Bereich Performance arbeitenkann, der seine eigenen Stücke schreibt, deraber auch weiß, wie er Sponsorenmittel von
Gegurgeltes Parfum
welchen Leuten bekommt«. Ein Trend zu
Hervorgegangen aus dem Sonntag,
Unser Fernsehen besteht aus Werbe- Heute zieht man mehr vom Leder: Da wird vor, Sie wollten die Welt retten, das hat nicht pen?« Diese Aufforderung zu einer ontolo-
blöcken, um die herum Spielfilme,
Nivea Visage DNAge angepriesen, ein
geklappt, und Sie haben das Schwert Ihres
gischen Grundsatzdiskussion bleibt unerwi-
Nachrichten, Shows und Reporta-
Schmierstoff für die »Zell-Erneuerung mit
übermächtigen Gegners in der Brust. Mit
dert. Sie kleistert sich daraufhin trotzig die
gen drapiert werden. Das weiß ich
zellaktiver Folsäure«. Alsbald erfährt man
röchelnd-ersterbender Stimme sagen Sie nur
Lippen zu, und mit dem uns inzwischen ver-
seit 1978, als ich in der Nähe von San Diego
inmitten einer Wissenschaftlichkeit assoziie-
noch: »Es ist aus!« In diesem Tonfall und mit
trauten Understatement sagt eine Off-Stim-
Freitag Berlin, gegründet 1946 vom Kultur-
bund zur demokratischen Erneue-
/ USA in einem Motel saß und der Fernse-
renden Raumausstattung, dass Eucerin das
dem Akzent einer kaum identifizierbaren
me »Rouge allure – Chanel«, worauf der
rung Deutschlands, und der Volkszeitung, ehemals Deutsche Volks-
her gerade eine Chaos-Landschaft präsen-
körpereigene Hyaluron reaktiviert. Ehrlich?
Sprache lassen Firmen, die Riechwässerchen
Lippenstift-Penis wieder in die Hülle
zeitung, gegründet 1953 in Düsseldorf von Reichskanzler a. D. Dr.
tierte – rauchende Trümmer, gestresste Ret-
Wir sehen, wie im weißen Ambiente eine
herstellen, in ihren TV-Spots eine Off-Stim-
zurückfährt. Wie praktisch: Da die Blonde
Joseph Wirth, und der Tat, gegründet 1950 in Frankfurt/M. von derVVN. Die Gründungsherausgeber des Freitag: Günter Gaus,Chris-
tungsmannschaften, aufgeregte Reporter.
Dame – auch in Weiß (und blond) – gegen
me den Namen des Produkts gurgeln: »Ar-
nackert ist, muss der Buntstift ihrer Garde-
toph Hein, Gerburg Treusch-Dieter, Wolfgang Ullmann
Ein paar Meilen weiter war eine Passagier-
eine Wand tupft, auf der sofort wichtige
mani« oder »Bvlgari« oder so. Das soll, so
robe nicht farblich angepasst werden.
Herausgeber: Daniela Dahn, György Dalos, Frithjof Schmidt,
maschine in der Luft mit einem Kleinflug-
Info-Grafiken auftauchen, welche die Dame
hofft man, irgendwie sexy klingen. Es klingt
Apropos: Haarfarbe heißt jetzt vornehm
Friedrich Schorlemmer
Verlag und Redaktion: Zeitungsverlag Freitag GmbH,
zeug zusammengestoßen. Schnitt: Unver-
gleich noch wichtiger erscheinen lassen. Das
aber nicht irgendwie sexy sondern nur noch
»Coloration«, und Schwarzkopf rödelt
Potsdamer Straße 89, 10785 Berlin
mittelt hielt ein feixendes Kerlchen eine pa-
alles für »sichtbar weniger Faltentiefe«. Die
albern. Weil dieser akustische Gag, den ein
längst international herum mit »Professional
Berliner Sparkasse, BLZ 10050000, Konto 1543424674
nierte Hähnchenkeule in die Kamera und ju-
Tiefe ist also weniger zu sehen. Die Falten
Werbegenie erfunden hatte, von seinen platt-
Hair Care for you«. (Weeßte noch, Schwarz-
Geschäftsführung: Heinrich Eckhoff
belte: »Kentucky Fried Chicken!« Der Wer-
köpfigen Epigonen gnadenlos und immer
kopp, wie de damals in Berlin-Tempelhof
Jahresbezugspreis: 132,- E. Ermäßigter Bezugspreis gegen
Bescheinigung für Schüler, Studenten, Auszubildende 92,40 E;
bespot für die Fastfood-Kette war brillant
Gleichfalls zum Einbalsamieren ist eine
wieder nachgeahmt wurde. Denn PR-Leute
dein klassischet Schauma produziert hast?
jeweils inkl. Zustellung Inland. Im Ausland zzgl. Versandkosten:
platziert, von gegrillten Menschen ging es
Emulsion hilfreich, die bescheiden »Olaz
verfahren gern nach dem Prinzip: Besser gut
Und zwar uff Deutsch?)
E 31,- Land- bzw. E 41,- Luftpost. Kündigungsfrist 6 Wochen vor
nahtlos über zu gegrillten Hühnern.
complete« heißt und »everynight sunshine«
geklaut als schlecht selbst erfunden. Andern-
Bei allen Wichtigtuereien und professionell
Ende des Bezugszeitraumes.
Inzwischen sind die über 24 Stunden ver-
verspricht, was uns aber irgendwann dazu
orts erfährt man: Bepanthen ist eine Wund-
aufbereiteten Blödheiten gibt es in der der-
Aboverwaltung: AVZ, Allgem. Vertriebs- und Zustell-GmbH
Storkower Straße 127 A, 10407 Berlin
teilten Spots längst zum Essential des TV-
bringen wird, eine Schlafmaske aufzusetzen.
und Heilsalbe für eine heile Welt. Prima!
zeitigen TV-Werbung doch ein paar Höhe-
Programms auch bei uns geworden, und so
Wegen des gleißenden Lichtes zur Nachtzeit.
Jetzt haben wir endlich die Weltformel.
punkte: Die »pro Age«-Werbung von Dove
Abo-Telefon: (030) 428040-40; Fax -42,
Mo.-Fr. 8-16 h (Bitte bei Anfragen Abo-Nummer angeben.)
erfuhr man beispielsweise, dass das Ra-
Die Firma L'Oréal, weltweit größter Kos-
Nachdem ich einige weitere Szenen meiner
etwa, die mit ihren 50plus-Damen endlich
deberger Pils in der Semper-Oper gebraut
metik-Konzern, hat ein »intensiv rückstraf-
Lieblingsserie sehen durfte, wird ein Kurz-
die Erotikspielwiese erweitert. Oder die gol-
Redaktion / Verlag:
fendes Lifting-Gel mit Pro-Tensium und
film eingeblendet: Le Rouge. Eine Dame in
dig-freche Göre Kati von Müllers Froop
Tel. (030) 25 00 87-0, Fax: 25 00 87-10
Die Lage der Nation erspürt man in den
Antifaltenpflege« im Angebot, »mit Pro-Re-
Blond mit ohne was an räkelt sich im Bett-
(»Bitte Ruhe am Set!«), gegen deren Urkraft
Werbespots ungebrochen, man kann sie sich
tinol A – – – » wie hieß das grade? Man er-
zeug nach einem physiotherapeutischen Be-
man einfach machtlos ist. Und nachdem Sa-
Redaktionsleitung: Lutz Herden, Ingo Arend
nach Belieben zurechtzappen. Etwa beim
fährt noch, dass da »zwei komplementäre
wegungsmuster, das der Normbürger ver-
turn trotzig verkündet, dass Geiz noch im-
Inland, Ökologie, Wirtschaft: Connie Uschtrin, Michael Jäger, Steffen
Vogel, Ausland: Lutz Herden, Alltag, Kultur, Literatur, Geschlech-
Thema Schönheit. Einst hatten PR-Psycho-
Technologien« zum Einsatz kämen. Das
mutlich unter »Erotik« einordnen soll. Das
mer geil sei, sah ich neulich, tief in der Nacht,
ter: Ingo Arend, Matthias Dell, Barbara Schweizerhof, Wissenschaft,
logen herausbekommen, dass das ansonsten
freut uns sehr, denn wir sind an der Spitze
Blondchen (blauäugig auch, logo!) hat ir-
bei der Wiederholung von Close to home, die
Zeitgeschichte: Ulrike Baureithel, Kehrseite: Margareth Obexer,
Karsten Laske, Reporterin: Marina Achenbach, Bild/Layout: Jürgen
als ziemlich blöd eingestufte Fernsehpubli-
wissenschaftlicher Forschung angelangt.
gendwas in der Hand, was sich dann als Lip-
witzige Replik in einem Porno-Spot: »Geil
kum Produkte gut findet, die mit einem
Was die Körperpflege angeht, konkurrieren
penstift erweist, den sie ausfahren kann. Die-
aber geizig?« Die so angepriesene Hotline
Anzeigen: Gülcin Wilhelm (030) 25 00 87-32, Fax: (030) 25 00 87-10
Hauch von Wissenschaftlichkeit angeprie-
in der TV-Werbung zwei Strategien. Einer-
ses überdeutliche Symbol leitet hin zu ihrem
offerierte ein Schmuddeltelefonat von 15 Mi-
Satz & Reproduktionen: Michael Pickardt, Berlin
sen werden. Man muss dazu nur ihre Ingre-
seits die nüchtern-analytische Auflistung der
Partner, von dem man nur das bekleidete
nuten Länge für nur einen Euro. Aber – was
Druck: BVZ Berliner Zeitungsdruck
Am Wasserwerk 11, 10365 Berlin, www.berliner-zeitungsdruck.de
dienzen mit exotischen Namen belegen. Bei-
Creme-Rezepturen. Andererseits die Ge-
Beinpaar sieht und den sie fragt: »Sag mir –
redet man denn da so lange?
Für unverlangt eingesandte Manuskripte keine Gewähr.
spiel: Die legendären Jod S11-Körnchen.
fühlsnummer. Die geht so: Stellen Sie sich
ich muss es wissen: Liebst du meine Lip-
Olaf Leitner
FREITAG-Archiv-Arbeiten, Artikelrecherchen auf Anfrage
Freitag 14
Stefan Siegert
Oft gibt es dieses bezeichnende Zö-
gern, wenn vom Gegensatz derHoch-Kultur die Rede ist. Das Wort»Niedrigkultur« drängt sich als Ana-
logbildung auf, aber die meisten scheuen da-vor zurück, es auszusprechen. Man sagt stattdessen »Popkultur« oder, wissenschaftlicher,
Je hässlicher, desto böser
»Populärkultur«, manchmal auch »Massen-kultur« und nur sehr selten »Trivialkultur«.
Die Begriffsunsicherheit rührt zum einen da-
Zack Snyders Comic-Spektakel »300« überzeichnet die Schlacht der Spartaner gegen
her, dass man kein abwertendes Wort ge-
die Perser ins ernsthaft Lächerliche
brauchen will. Zum anderen haben vieleGenres der Popkultur in den letzten Jahr-
zeichnet: Ein Multikulti-Heer, in dem den
zehnten eine derartige Aufwertung im Ernst
verschiedensten Moden gefrönt wird, behan-
und der Ausführlichkeit ihrer kritischen Be-
gen und verhüllt mit exotischen Stoffen, viel
sprechung erlebt, dass es immer schwieriger
Schmuck und so perversen Dingen wie Pier-
erscheint, die Grenzen zur Hochkultur klar
cings. Die »Guten« aber zeigen im Gegensatz
zu bestimmen. Ein Film wie Zack Snyders
dazu viel von ihrer ehrlichen Haut: Sämtliche
300 bringt da ein fast schon in vergessenes
Spartaner tragen unter dunkelroten Capes
Gefühl in Erinnerung: Der Ruch des Unfei-
nichts weiter als eine Art schwarze Unterho-
nen, ja sogar Unanständigen, wenn nicht gar
se. Die geschickte Lichtsetzung mit entspre-
Illegitimen, mit dem die Popkultur einst un-
chender digitaler Nachbearbeitung verwan-
weigerlich behaftet war.
delt ihre nackten Oberkörper und -schenkel
Um so deutlicher wird dieses Gefühl, weil
in klar definierte Muskelpakete.
es in 300 um einen Stoff geht, der genau dort
Im wahrsten Sinne des Wortes ȟberzeich-
Wenn er einen raisonance-boden zu ei-
nem Clavier fertig hat«, schrieb der21-jährige Mozart im Oktober 1777aus Augsburg nach Hause, »so stellt
er ihn in die luft, Regen, schnee, sonnenhitze
verankert ist, wo der Bildungsbürger die
net« hat Frank Miller den antiken Stoff für
und allen Teüffel, damit er zerspringt.« Die
Wiege der Hochkultur ansiedelt: Im klassi-
seinen Comic. Zack Snyder fügt wie be-
Rechtschreibung geriet ihm zufällig. Groß
schen Griechenland. Frei nach Herodot er-
schrieben dem im Film noch eine weitere
wurde geschrieben, was mirakulös genug oder
zählt 300 die Geschichte jener Schlacht bei
Schicht dazu: Soldaten brüllen; Blut spritzt;
wichtig war. Und wichtig war Mozart vor al-
den Thermopylen, in der die legendäre An-
und das Ganze ist mit pumpender Rockmu-
lem das »Clavier«, sein Instrument, dem er in
zahl von Spartanern sich gegen ein zigfach
sik unterlegt. Die spartanische Kampfma-
der Augsburger Werkstatt Johann Andreas
überlegenes Perser-Heer aufopferte, um da-
schinenkultur mit ihren grausamen Auslese-
Steins erstmals in baulich und technisch avan-
durch den Rest der Griechen anzustiften, den
und Erziehungspraktiken wird hier vollkom-
cierter Gestalt begegnete. Er war begeistert
Invasoren unter Xerxes geschlossen die Stirn
men ungebrochen als »starker Tobak« kre-
über die Tricks, mit denen der Klavierbauer
denzt. »Military porno« hat das ein amerika-
aus Holz Klang werden ließ. »seine hämmerl«,
Frank Miller, einer der namhaftesten »au-
nischer Kritiker nicht umsonst genannt und
berichtet der Komponist und Virtuose, »wen
teurs« in der Kunst der graphic novels (so die
den bereits erwähnten Ruch des Unanständi-
man die Claves (Tasten) anspielt, fallen, in den
Bezeichnung für den aufgewerteten Comic),
gen damit ganz gut auf den Punkt gebracht.
augenblick da sie an die saiten hinaufspringen,
hat den Stoff zu einem Comic verarbeitet und
Ansonsten zeigen die Reaktionen auf den
wieder herab, man mag den Claves liegen las-
Zack Snyder hat nun aus dieser Vorlage einen
Film einmal mehr, dass Popkultur vor allem
sen oder auslassen.«
Film gemacht. Dieser fühlt sich in allem Frank
das ist, was aus ihr vom Publikum gemacht
Zeitlebens hat sich Mozart über Mechanik
Millers Handschrift und in nichts Herodot
wird. In Griechenland bricht der Film gera-
und Bau seiner Instrumente auf dem Laufen-
oder gar der historischen Authentizität ver-
de sämtliche Einspielrekorde – zwei Wochen
den gehalten. Deren Baugeschichte stand
pflichtet. Zwar agieren in 300 lebendige
nach Start haben ihn bereits ein Drittel aller
analog zum Platz Mozarts in der Musikge-
Schauspieler vor der Kamera, doch auf rund
Griechen im Kino gesehen. Die Ironie dieser
schichte an einem Schnittpunkt zwischen
1.500 Schnitte gehen im Film 1.300 »visuelle
Begeisterung blieb dabei nicht unkommen-
Gestern und Morgen. In dem »Stein vis-a-
Effekte«. Fast jeder Hintergrund ist digital er-
tiert, schließlich galten die Spartaner bislang
vis« von 1777, auf dem Andreas Staier und
zeugt. Anders gesagt: Die Bilder sind durch
auch in den griechischen Schulbüchern eher
Christine Schornsheim vierhändig Mozart
und durch künstlich. Das beginnt mit der
als eine Art Proto-Faschisten denn als Kul-
spielen, wurde dieser Moment zu Materie
Farbgebung, die die Palette auf dunkle Rot-,
turträger und Demokratie-Verteidiger.
und Klang. Die eine Hälfte des – auch optisch
Schwarz- und Grautöne reduziert, setzt sich
Die Amerikaner begeisterten sich ebenfalls
(auf dem CD-Cover) kostbaren – Instru-
fort mit artifiziellen Zeitlupen und Zeitraffern
in überraschend großer Anzahl für den Film,
ments ist ein Hammerflügel, wie Mozart ihn
von Schlachtszenen und findet seinen Höhe-
allerdings weniger weil sie sich in den Sparta-
bei Stein bewunderte, die gegenüber liegende
punkt in viel effektvoll spritzendem Blut. In
nern wiedererkennen als vielmehr, weil sie
Hälfte ein dreimanualiges Cembalo, dessen
300 geht es nicht um Echtheit, sondern um
sich im Comicgenre und seinen Übertrei-
vier Register zum Hammerflügel hinzuge-
Überwältigung, um den starken Reiz, der das
bungen sicher fühlen und auskennen. Mit
koppelt werden können.
große Publikum in drei Gruppen teilt: In die,
entsprechendem Genuss zitierte man in den
Beim ersten Hören ähneln sich die Klang-
die anerkennend staunen, in die, die angewi-
USA deshalb verschiedene iranische Quel-
welten. Steins Hammerflügel, der erste und
dert den Kopf schütteln und in die, die sich »so
len, in denen verlautbart wurde, dass man
modernste seiner Art, klingt hell und cemba-
was« gleich gar nicht anschauen wollen.
sich im Iran als Erben der Perser verun-
lonah. Dagegen setzt sich bei mehrmaligem
Was »Pop-« beziehungsweise »Niedrigkul-
glimpft fühle. Bedeutete das doch, dass man
Hören der kürzere, obertonreichere Klang
tur« ausmacht, lässt sich hier bestens beo-
dort den Comic so ernst nimmt, als handle es
des Cembalo ab. Mozart ist auf einem Cem-
bachten. Da wäre zum Beispiel die strikte
sich um ein Stück Hochkultur. Der Hochmut
balo in seinen Beruf hinein gewachsen. Noch
Vermeidung von Subtilität: In 300 wird ent-
Hollywoods besteht aber nicht darin, die
seinem Klavierspiel der späten Jahre war die
weder flott deklamiert oder gebrüllt, was das
Perser als Barbaren darzustellen – Xerxes tritt
frühe Cembaloerfahrung anzuhören. Stai-
Zeug hält und das stets in den tiefstmöglichen
in 300 als hipper Ohrringträger mit Balsam-
er/Schornsheim haben mit den kaum bekann-
männlichen Basstönen. Zudem sind Hand-
stimme auf, der den Spartaner-König Leo-
ten, ab 1777 komponierten Präludien Musi-
lung und Ausgang nicht nur vorhersehbar,
den Thermopylen anmarschiert kommen,
Münden und grässlich entstellten Gesichtern.
nidas um ein Vielfaches überragt – der
ken ausgewählt, in denen sich Mozarts Stel-
sondern gleichzeitig auch in einer Weise of-
sind die Verräter in den eigenen Reihen. Jene
Und Ephialtes, dessen Verrat den 300 Man-
Hochmut Hollywoods besteht darin, zu wis-
lung zwischen Bach/Händel und Klassik/Ro-
fensichtlich, die dem Wort endlich gerecht
korrupten spartanischen Priester etwa, die
nen letztlich das Leben kostet – ein buckliges,
sen, was Popkultur ausmacht. Im Fall von
mantik kundtut. Sie betonen brillant den im-
wird. Die Hässlichen sind hier die Bösen und
dem Spartaner-König Leonidas per Orakel-
verwachsenes Männlein, neben dem der
300 ist das die Übertreibung, die spielend die
provisatorischen Charakter dieser Werke.
zwar nach dem Motto: je hässlicher desto bö-
spruch untersagen, mit seinem ganzen Heer
Glöckner von Notre Dame wie ein griechi-
Grenze zur Lächerlichkeit überschreitet –
Dagegen sind die beiden Sonaten für Klavier
ser. Viel böser nämlich als die feindlichen Per-
auszuziehen – ein ekelerregender Haufen de-
scher Held erscheint. Die Perser dagegen sind
wobei die wahren Kenner sich dadurch aus-
zu vier Händen – besonders deren langsame
ser, die hier in computeranimierter Masse zu
generierter alter Männer mit sabbernden
weniger hässlich als vielmehr dekadent ge-
zeichnen, trotzdem nicht zu lachen.
Sätze – bezaubernd leichte, von Folklore undvom einfachen Leben inspirierte Kost.
Zufall vielleicht, dass die CD an einem wei-
teren Schnittpunkt heraus kam, dem Schnitt-punkt zwischen Winter und Sommer. DerKlang des Instruments passt kongenial zur
Georg Kasch
silbrigen Luft dieser glücklichen Tage mitihrem – im Norden vorerst dünnen – Fest-
Wie eine Barrikade liegt der Baum-
stamm quer auf der Bühne. An ihnlehnen sich die sechs jungen Men-schen Anfang 20, die im Mai 1968
kleidchen aus Blüten, Knospen und zartem
in einer kommuneartigen Gemeinschaft le-
Blätterschimmer. Die etwas voreiligen Oster-
ben. Ihn berührend singen sie Revolutions-
lämmchen passen dazu so gut wie das flüssi-
lieder, auf ihm balancieren sie, hier umarmen
Wie wollen wir leben?
ge Silber der Sonne auf dem dunstigen Was-
sie sich kollektiv. Schließlich demontieren sie
ser des Sees vor unserem Häuschen am Hang.
den Baum – zerbrochen ist das Vertrauen in
Der Klang des Hammerflügels, auf dem der
KOLLEKTIVE UMARMUNG ■ Das »Körber Studio Junge Regie« in Hamburg als Theatertreffen
den Wandel, zerstört auch die Illusion von
Belgier Jan Vermeulen die zwei vorletzten
freien Liebeskonzeptionen. Starke Bilder fin-
Sonaten Schuberts spielt, ist älter, dunkler
det Alexander Charim in seiner Diplomins-
und fülliger. Er schafft, passend zum späten
zenierung für die Berliner Ernst Busch-
Frisch, und Themen wie der Mai 1968 oder
Licht und der Ton auf der Bühne bedient
der Begegnungen schließlich auf einen Sieger
Schubert, die wundersam beredte Aura, die
Hochschule, um von einer Generation zu er-
der Versuch einer neuen Revolution.
oder erzeugt, wurde stolz behauptet: Seht
reduziere. Julia Hölscher und ihre Schau-
den alten Instrumenten eignet. Und ist doch
zählen, die ein autoritäres Staats- und Werte-
Gerade die Fassbinder- und Horváth-Ins-
her, wir machen Theater. Zumeist mit Erfolg.
spieler, die ebenfalls als Kollektiv arbeiten,
nur eine Generation vom Viv-a-vis-Flügel
system zu stürzen versuchte. Doch ist Liebe
zenierungen zeigten aber auch, wie sehr man
Viele der Regisseure betonten zudem, wie
gewann verdient: Ihre ungemein rhythmi-
Steins entfernt. Hergestellt hat ihn 1826 die
1968 kein historischer Bilderbogen, sondern
sich an solchen Namen verheben kann. Bis
sehr sich ihre Teams als Gruppe, als Kollek-
sche Version von Aki Kaurismäkis Das
Tochter Steins, die in Wien geheiratet und als
Dank der hervorragenden Schauspieler und
zur Ärgerlichkeit wurden hier Klischees
tiv verstehen und ihre Schauspieler aktiv am
Mädchen aus der Streichholzfabrik besticht
Nanette Streicher unter anderen Beethoven
der vielfältig gebrochenen Erzählperspektive
gehäuft, so in Fassbinders Preparadise Sorry
Findungsprozess beteiligen. Dieses Prinzip
nicht nur durch eine überzeugende Figuren-
und Schubert beliefert hat.
die Frage an uns: Wie wollen wir leben?
Now, einem Stück kalter Wut, dass streng
gipfelte in der siebenköpfigen Performance-
führung, sondern durch ungewöhnliche Bil-
Die Pianofortes dieser Zeit differieren im
Wie ein roter Faden durchzog sie das dies-
formal nach faschistischem Verhalten im All-
Gruppe Monster Truck aus Gießen. Hier ist
der, die die Lebenswelt der Iris erlebbar ma-
Klang in Zehnjahressprüngen, auf jedem In-
jährige Körber Studio Junge Regie in Ham-
tag fragt. Die Salzburger Inszenierung schei-
jedes Mitglied in allen (Regie-)Fragen gleich-
chen. Verrostete Heizkörper, die niemanden
strument klingt dasselbe Werk anders. Der
burg, eine Art Theatertreffen für den Re-
terte vollkommen, weil es ihr nicht gelang,
berechtigt. Ihre Science-Fiction-Freakshow
wärmen, werden begossen und geschlagen.
Klang des Streicher-Flügels ist extrem cha-
gienachwuchs. Das Festival im Thalia in der
eine auch nur halbwegs adäquate Form für
Live Tonight! polarisierte das Publikum wie
Aus einfachsten Geräuschen, einem Räus-
rakteristisch. Die Tasten im hohen Diskant
Gaußstraße bot die Möglichkeit, Arbeiten
Fassbinders Thesentheater zu finden. Ganz
kein anderes Stück und präsentierte eine
pern, einem Schlurfen entwickelt sich die
klingen stumpf und spitz. Mehrheitsmen-
von zehn Regiestudierenden miteinander zu
anders Jan Gehler aus Hildesheim, der »Se-
kryptische Bilderfolge, die in ihrer oft schril-
Musik von Tobias Vethake, die sich wie die
schen, die aus uralter Gewohnheit auf den
vergleichen. Die Bilanz zeigt: Es wird wieder
paratisten« nach Thomas Freyers gerade am
len Ästhetik an die Filme des amerikanischen
ganze Inszenierung zwischen mechanischer
Klang eines Steinway eingeschworen sind,
erzählt, oft kraftvoll und mit dem Willen,
Berliner Maxim Gorki-Theater uraufgeführ-
Künstlers Matthew Barneys erinnerten und
Monotonie und poetischer Melancholie be-
werden das Instrument für »defekt« halten.
eine eigenständige Form zu finden, die die
ten Stück inszenierte. Seine fünf Schauspieler,
von einer deutlich fühlbaren Binnenlogik ge-
wegt und alle beteiligten zum Tango einlädt.
Kenner der auratischen Nuanciertheit gut re-
Erzählung spiegelt – und nicht umgekehrt.
allesamt Laien, erzählten mit den einfachsten
tragen wurden.
Am Ende setzt Iris ihre private Utopie um
staurierter Hammerflügel werden solche Ei-
Filmeinspielungen gehören längst nicht mehr
Mitteln – fünf Stühle, eine alte Stereoanlage –
Es war die einzige Inszenierung, die jegli-
und tötet die Menschen, die sie unter-
genheiten und Zuspitzungen genießen an
zum stilistischen Repertoire, stattdessen
die Geschichte eines abrissbereiten Platten-
cher Stadttheatertauglichkeit entbehrte.
Stellen wie dem Ausbruch in der Durch-
rhythmisieren Musik und Pausen die Erzäh-
bauviertels. Dessen Bewohner rebellieren,
Ganz anders Jan Philipp Glogers Bieder-
Julia Hölscher setzte sich auf ungleich sanf-
führung des Andantino der A-Dur Sonate,
lungen, und Zigaretten werden gepafft, als
bauen einen Zaun und gründen eine kommu-
mann und die Brandstifter. Seine gestylten
tere Weise durch. Sie wird in der nächsten
wo die wie kopflose Mit-dem-Kopf-durch-
handele es sich um die letzte Bastion des zi-
nistische Republik. Das Projekt scheitert. Die
Spießer gehen temporeich und witzig den
Spielzeit am Schauspiel Frankfurt und am
die-Wand-Verzweiflung Schuberts in ihrer
vilen Ungehorsams. Es gibt mehr junge Re-
Sehnsucht nach weniger Anonymität und
schamlos-charmanten Feuerlegern auf den
Düsseldorfer Schauspielhaus inszenieren.
verstörenden und zerstörenden Abwegigkeit
gisseurinnen als Regisseure, doch ein gene-
Egoismus bleibt, ebenso wie die Frage, ob
Leim. Der Zürcher Beitrag entstaubte Max
Doch auch für die übrigen Regisseure hat
durch sie so recht erst fühlbar wird. Wie auf
reller Unterschied in den Inszenierweisen
utopische Projekte heute noch möglich sind.
Frischs moralinsaure Parabel in ungewohnter
sich die Anfahrt gelohnt. Ein Forum wie die-
der anderen Seite (der Klaviatur) das auf dem
scheint nicht zu existieren. Das Politische ist
Aus der leisen Geschichte machte das Hil-
Weise, gelangte aber dort an seine Grenzen,
ses, wo jede Inszenierung vor Fachpublikum
alten Flügel unvergleichlich duftige und fin-
wieder da, wird aber vor allem im Alltag ge-
desheimer Kollektiv eine stille, konzentrier-
wo das Stück auch mit viel Phantasie keine
diskutiert wird, wo man die eigenen theatra-
stere Verdämmern des Satzes im Bass.
sucht – und gefunden: Wie wollen wir leben?
te Stunde, die nur zum Ende hin etwas an er-
Reibung mehr zuließ.
len Mittel mit denen gleichaltriger Kollegen
Wollen wir so leben? Kann man unter diesen
zählerischem Sog verlor.
Den Preis des diesjährigen Körber Studios
vergleichen kann und sich zudem einer jun-
Mozart: Präludien K. 284a, K. 624 und 394, Sonaten K. 358und 381 – Christine Schornsheim/ Andreas Staier, Harmo-
Umständen lieben? Um diese Fragen grup-
Die einfachen Mittel waren vielen Inszenie-
erhielt ausgerechnet jene Regisseurin, die sich
gen Publizistik wie der festivalinternen »jun-
nia Mundi HMC 901941; Schubert: Sonaten D 958, "Reli-
pieren sich politische Autoren wie Ödön von
rungen eigen. Oft wurden selbstbewusst die
zu Beginn des Festivals kritisch zur Aus-
ge regie textversion« stellen muss, gibt es so
quie" D 840, D 537, D 959, zwei Scherzi D 593 – Jan Ver-
Horváth, Rainer Werner Fassbinder, Max
theatralen Mittel offen gelegt, wurde das
zeichnung geäußert hatte, weil er die Woche
kein zweites Mal.
meulen, Et'Cetera/Codaex KTC 1330
Freitag 14
Ellen Spielmann
Was passiert mit einer jungen argenti-
Entdeckung durch die Frauenbewegung
nischen Dichterin in den Jahrenvon 1950 bis 1960, die unbedingt
Ohne die Frauenbewegung und das Interes-
Rimbaud sein möchte? Sie wird
se für weibliches Schreiben in den siebziger
zwangläufig ein exzessives, schmerzliches
und achtziger Jahren wäre Alejandra Pizar-
Leben führen. Und sie wird trotz ihres
nik weder entdeckt noch Legende (ge)wor-
großen Talents, trotz Inspiration, Kreativität
Gespenster der Phantasie
den. Über die Schwierigkeiten, die sie als
und trotz beharrlicher Suche nach Erneue-
Frau zu bewältigen, den Preis den sie im sich
rung der spanischsprachigen Dichtung nicht
modernisierenden, aber weiterhin patriarchal
ALEJANDRA PIZARNIK ■
nur am ausbleibenden Erfolg scheitern, son-
orientierten Argentinien, zu zahlen hatte, als
dern ihr Leben opfern. Die Rede ist von Ale-
Zum ersten Mal wurden die
sie als Dichterin nach öffentlicher Anerken-
jandra Pizarnik, die 1936 in Buenos Aires als
Tagebücher der argentinischen
nung strebte, erzählt ihr Tagebuch. Neben
Tochter russisch-jüdischer Emigranten gebo-
den konkreten materiellen Hindernissen,
ren wird und 1972 mit 38 Jahren Selbstmord
sind es vor allem die fest gefügten Frauenbil-
begeht. Ab Mitte der fünfziger Jahre thema-
der, denen sie im Schritt von der Privatheit in
tisiert sie ihren Tod in Gedichten und in Ta-
die Öffentlichkeit begegnet. Beredtes Zeug-
gebüchern (1954-1971) Dutzende Male.
nis dieser Situation liefert die Eintragung
Nach der Veröffentlichung ihrer Gedichte,
vom 5. Juli 1955 über das Alltagsleben in Bu-
Cenizas – Asche, Asche (2002) liefern Pizar-
enos Aires: »Ich kann nicht eine Stunde in ei-
niks künstlerische, private und öffentliche
nem Cafe sitzen, ohne dass jede Minute zwei
Notate deutschen Lesern nun erstmals Ein-
kleine machos auftauchen, um das Dasein zu
blick in das Leben und Schaffen der Dichte-
stören, das dieses arme Weib zu führen
rin, die heute als bedeutendste jüdische Ver-
wünscht.« Öffentlichen Raum zu gewinnen,
treterin spanischer Sprache der klassischen
heißt für die Generation Pizarniks, vorhan-
Moderne gilt und längst zur Legende gewor-
dene Frauenbilder aufzugreifen und produk-
den ist. Sie studiert Philosophie und Literatur
tiv umzusetzen. Als Vorbilder dienen die
in Buenos Aires und gilt bald als junges dich-
»Schwestern Brontë«, die chilenische Dich-
terisches Talent in Literatenkreisen. 1955 ver-
terin und Diplomatin Gabriela Mistral, die
öffentlicht sie ihren ersten Gedichtband, La
argentinische Dichterin Alfonsina Storni, so-
tierra más ajena (Das fremdeste Land). 1961
wie Sappho und auch Rosa Luxemburg. In
erfüllt sie sich einen lange gehegten Wunsch
Pizarniks Gedichten wird das Private zum
und geht nach Paris. Dort lebt, dichtet, über-
öffentlichen Ereignis. Über diesen Schritt
setzt sie bis 1964 im Kreis lateinamerikani-
schreibt sie geradezu programmatisch in ei-
scher Literaten wie dem mexikanischen
nem ihrer letzten Gedichte: »Könnte ich
Dichter und Intellektuellen Octavio Paz und
doch nur in Ekstase leben, indem ich den
ihrem Landsmann Julio Cortázar. Mit beiden
Körper des Gedichts aus meinem Körper ma-
soll Pizarnik, laut Legendenbildung, eine
Liebesbeziehung unterhalten haben. Die
Die bewusste Entscheidung, aus dem Pri-
wichtigsten Gedichtbände erscheinen nach
vaten in die Öffentlichkeit zu treten, hat,
ihrer Rückkehr in Buenos Aires. Doch an die
wie bei Alejandra Pizarnik beispielhaft zu
Provinzialität der Metropole »peripherer
sehen ist, seine Kehrseite: Das öffentliche
Modernität« kann und will sie sich nicht ge-
Interesse an Frauen, die sich ins Rampen-
wöhnen. Es folgen Jahre der Krankheit, Auf-
licht begeben, zielt zumeist einzig auf das
enthalte in psychiatrischen Kliniken und
Private. Die Betonung des rein Biographi-
schließlich ihr Selbstmord durch die Einnah-
schen, der Lebensform statt des künstleri-
me einer Überdosis Schlaftabletten.
schen Schaffens, des Werks zwingt geradezu
Die Veröffentlichung der Tagebücher ge-
zur Inszenierung, ermöglicht zugleich aber
schieht, so die Herausgeberin, auf den aus-
auch die bewusste Selbstinszenierung. Von
drücklichen Wunsch Pizarniks. Vielleicht
Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand
wusste die Dichterin, dass diese Eintragun-
nehmen, wird erwartet, dass sie es publi-
gen in ihrem zeitdokumentarischen Charak-
kumswirksam in Szene setzen, ihre Biogra-
ter den Zugang zu den teils als »unlesbar«
phie zu einer Art Legende ausgestalten, die
geltenden Texten erleichtern würden. Aus
dann untrennbar mit dem Werk verschmilzt
heutiger Sicht lässt sich – trotz existierender
In Rimbaud-Pose:
beziehungsweise als das eigentliche Werk
Leser-Fangemeinde – behaupten: das Haupt-
gilt. Alejandra Pizarnik gelingt es, sie wird
die legendenumwobene Dichterin Alejandra Pizarnik
interesse richtet sich auf ihr Schicksal als Frau
zur Legende einer Dichterin. Doch zahlt sie
und Dichterin.
dafür einen hohen Preis.
Erstmals äußert sich Pizarnik zum Tage-
Aus der Reihe feministischer Lektüren
buch als literarischem Werk 1955: »Das Be-
im Gegensatz zu Rimbaud, der bereits mit 21
gelt sich im Zitat eines Jugendfreunds: »Das
Legende«. Dennoch bleiben die aufregenden
Pizarniks sind die Arbeiten der argentini-
ste, was mir einfällt, ist eine Art Tagebuch,
Jahren sein Werk vollendet hatte und den
ist Alejandra, das begabteste Mädchen der
Pariser Jahre von Einsamkeit und Isoliertheit
schen Literaturwissenschaftlerin Silvia Mol-
gerichtet an (einmal angenommen) Andrea.
Dichterberuf an den Nagel hing, wartet Pizar-
Welt. Sie hat alles, was Gott einem menschli-
geprägt, von Freunden und Kollegen grenzt
loy hervorzuheben. In ihrem Essay Von Sap-
Das heißt, es wären weder Briefe noch ein ge-
nik bis an ihr Lebensende auf den großen
chen Wesen schenken kann, trotzdem ist sie
sie sich ab: »Meine jungen Avantgardefreun-
pho zu Baffo – der Umgang des Sexuellen bei
wöhnliches Tagebuch. Es könnte in zwei
Wurf. Schon mit 19 Jahren plagen sie massive
immer traurig.« Im Rückblick auf ihre Situa-
de sind genauso konventionell wie die Litera-
Alejandra Pizarnik arbeitet sie die feministi-
oder drei Bereiche unterteilt sein. Einer, der
Selbstzweifel: »Warum leide ich und quäle
tion als junge Dichterin in Buenos Aires lie-
turprofessoren. Und wenn sie Rimbaud lie-
sche Haltung der Dichterin heraus. Das
der Liebe gewidmet ist, ein weiterer der
mich mit den Gespenstern meiner Phantasie?
fert Pizarnik in ihrem Pariser Tagebuch 1963
ben, dann ist es wegen dem, was Rimbaud ge-
heißt, in erster Linie dem normativen Blick
Angst, der dritte, mon dieu!, hier wäre noch
Warum glaube ich so fest daran, dass ich zu
eine treffende Analyse: »Was ich gern wollte,
litten hat, es ist wegen der Entzückung, die ein
auf sexuelle Praktiken entgegenzuwirken.
die Frage, sich zu entscheiden und zu wählen:
Höherem berufen bin?«
ist, dass mein Buch von der Promiskuität und
paar Wörter in ihnen erzeugen, die sie niemals
Molloys Lektüre widerspricht gängigen In-
die Welt einfangen oder sie zurückweisen.«
Was ihre Frauenrolle betrifft, bewegt sich
dem zermalenden Bewusstsein einer einsa-
verstehen werden.«
terpretationen, die in Pizarnik Frauenfigu-
Damit nennt sie bereits die drei großen The-
die 19-Jährige zwischen altbekannten Stereo-
men, jungen Frau spricht, die voll ist von den
Sehr gern wäre die junge Dichterin bei ei-
ren, zum Beispiel in der blutrünstigen Gräfin
men ihrer Tagebücher. Beim dritten »Be-
typen, zwischen »Weibchen« und Maniac. Sie
Klischees der Einsamkeit.«
nem Meister in die Schule gegangen, wie sie
aus der Erzählung gleichen Titels La condesa
reich« entschied sich Pizarnik eindeutig für
fragt sich einerseits: »Warum kleide ich mich
1963 in Paris notiert: »Eines gibt es, das mich
sangrienta (1971), das Modell des »lesbischen
»das Zurückweisen der Welt«.
nicht elegant und spaziere mit meinem Ver-
fasziniert hätte: einen Meister zu haben, ich
Bösen« alias Baudelaire sehen. Dieser weibli-
Und immer wieder Rimbaud
lobten am Arm durch Santa Fe? Warum su-
wäre gern in seine Werkstatt gegangen, hätte
che Vampir sei keine Figur, die Schrecken
Porträt der Dichterin als junge Frau
che ich mir nicht ein ruhiges Plätzchen, hei-
Sicherlich gehört Pizarnik zur letzten Gene-
handwerkliche und metaphysische Dinge er-
verbreite, sondern konzipiert um die Öffent-
rate, kriege Kinder, gehe ins Kino, in die
ration lateinamerikanischer Literaten, die in
lernt und über sie meditiert.« Wie Arthur
lichkeit zu provozieren, herauszufordern.
Wie ist Alejandra Pizarniks Zustand mit 19
Konditorei, ins Theater?« Andererseits
Paris die eigentliche Hauptstadt der lateina-
Rimbaud, der in Paul Verlaine seinen Meister
Anders als Rimbaud, der von seinen Reisen
Jahren? Wie den jungen Rimbaud drängt es
kommt sie mit einem provokanten Vorschlag
merikanischen Intellektuellen sehen. In Octa-
und Freund fand? Auf Rimbauds Genie
nach Frankreich zurückkehrte, »um einen
sie, ein bedeutendes Werk zu schreiben. Ihr
für weibliche Selbstverwirklichung daher:
vio Paz findet sie Unterstützung. Er schreibt
kommt Pizarnik immer wieder zu sprechen:
schönen Tod zu sterben«, kehrt Alejandra
Arbeits- und Lebensplan für 40 Tage im Juli
»Zum Teufel! Man müsste Bordelle einrich-
1962 das Vorwort zu ihrem Gedichtband Di-
»Rimbaud hatte keinen Schreibtisch. Darum
Pizarnik nach Buenos Aires zurück, um ein-
1955 lautet: »1) Den Roman beginnen. 2) Die
ten speziell für Künstlerinnen!«
anas Baum. Auch Julio Cortázar bildet ein
hat es auch nie wieder einen wie ihn gegeben.
sam zu schreiben und zu leiden.
Bücher von Proust beenden. 3) Heidegger le-
Zwischen diesen widersprüchlichen Selbst-
wichtiges Gegenüber. Im Nachruf auf Ale-
Alle wollen Rimbaud sein, aber mit Schreib-
sen. 4) Nicht trinken. 5) Keine Gewaltakte. 6)
In einem Anfang war die Liebe Gewalt. Tagebücher, her-
bildern schaltet die Tagebuchautorin den
jandra Pizarnik schreibt er: »Es reicht, sie zu
tisch. Quant à moi: Ich will meinen Plan er-
ausgegeben von Ana Becciu. Aus dem Spanischen übersetzt
Grammatik und Französisch lernen.« Doch
»objektiven« Blick von außen, Pizarnik spie-
nennen, und in der Luft erzittern Poesie und
füllen. Und, vor allem dreißig werden.«
von Klaus Laabs, Amman, Zürich 2007, 500 S., 39,90 E
Banken und Salons, Kirchen und Schau- Genealogie adoptiert, uns jedenfalls ein bild-
Erhard Schütz
Berliner erkennt, die er nicht sein will, jedoch
Lesebücher gehörte. Es gibt überhaupt alle
spiel, Dienstwohnungen und Geburts-
sames Vergnügen bereitet haben.
allezeit darstellt, damit Nicht-Berliner ihn als
Sorten von Texten, erwartbare wie unerwar-
stuben, Fensterplätze und Hinterstüb-
Berliner identifizieren. Dass Jakob Hein aus-
tete, Dokumente und Gedichte, Verlautba-
Wolfgang Kreher u. Ulrike Vedder (Hg.): Von der Jäger-
chen – mit einem einzigartigen Perso-
straße zum Gendarmenmarkt. Eine Kulturgeschichte aus
führlich nur in die nach Osten erweiterte
rungen und Beobachtungen. Mindestens je-
nal. Ob nun Kleist hinter der katholischen
der Berliner Friedrichstadt, Gebr. Mann, Berlin 2007, 232 S.,
Mitte einführt, macht nichts, weil die Touris-
der zweite der »europäischen Bastarde« (L.
Kirche seine ebenso kurzlebigen wie dauer-
zahlr. Abb., 29,90 E
ten sowieso dorthin wollen, und die West-
Végel) ist lesenswert. Und auch das soll ge-
beschworenen Abendblätter herausgab oder
berliner froh sind, wenn die Ostberliner ab-
sagt sein: »Berlin ist Berlin, das ganze, so wie
Alexander von Humboldt von der Wiege in
gehalten werden, rüberzumachen. (Ein paar
es ist.« Was noch mehr?
der Jägerstraße 22 an seinen Weg zum Orino-
Rumm rumm haut die Dampframme auf
dem Alexanderplatz. Viele Menschen
Basisanweisungen gibt es aber schon!) Und
Berlin, meine Liebe. Schließen Sie bitte die Augen. Ungari-
co antrat, E. T. A. Hoffmann unter Schmerzen
haben Zeit und gucken sich an, wie die
was einen unbedingt mit dem frechelnden
sche Autoren schreiben über Berlin., Matthes und Seitz,
für Vetters Eckfenster den Gendarmenmarkt
Ramme haut«, so finden wir's in Döblins Ro-
Büchlein versöhnt, sind die Bemerkungen
Berlin 2006, 252 S., 18,80 E
ausspähte, Rahel Varnhagen in ihrem Salon
man vom Alexanderplatz. Aber bis es zum
zum Berliner Backwerk und dem weltstädti-
Tee reichte, Prediger Schleiermacher im Ka-
»Weltstadt«-Umbau Ende der Zwanziger
nonierhaus seine Dienstwohnung bezog,
kommt, ist es ein langer Weg, auf dem der Alex
Jakob Hein: Gebrauchsanweisung für Berlin. Piper, Mün-
Der Berliner braucht ja kein Wetter, um
ins Freie zu gehen. Dazu reicht ihm
Heinrich Heine dort 1822 seine ersten Kor-
sich erst einmal hin und her schieben lassen
chen/Zürich 2006, 154 S., 12,90 E
notfalls ein halbwegs grüner Platz,
respondenz-Pirouetten drehte, oder Leopold
muss. Gernot Jochheim hat diesen Weg gedul-
gern Park genannt. Davon gibt es massig in
von Ranke barmte, in der Jägerstraße 10 aus-
dig beschrieben und trefflich illustriert, ein
Berlin, das die notorisch nichtsahnenden
gerechnet bei Frau Schweinsberger Wohnung
Weg mehrfach über Barrikaden. Er zeigt die
Dass Berlin ein Stück komprimierter Ge-
schichte, ein offenes Buch der Jüngst-
Naturalisten als steinerne Stadt verkauft ha-
nehmen zu müssen, Kierkegaard auf die Wie-
dicke Berolina, das Grand Hotel, das Polizei-
zeit sei und dergleichen Floskeln mehr
ben. Es gibt derart viele, dass sie längst nicht
derholung lauerte – das vorliegende Buch lässt
präsidium und den Markt, die neue Georgen-
haben inzwischen die alten von der Stadt des
alle in diesem Bändchen verzeichnet sind.
die ungemeine Geistesdichte um Jägerstraße
kirche, ein Abnormitätentheater, den Verkehr
Tempos und des Lichts abgelöst. Treffender
(Zwei verrate ich sowieso nicht.) Was darin
und Gendarmenmarkt mehr als nur ahnbar
auf allen Etagen und das Vereinshaus der Leh-
sind sie kaum. Wo, bitte, sind hiesigenorts die
steht, ist gut getroffen und kaum verzeich-
werden. Es bleibt nicht bei jener Zeit stehen,
rer ebenso unter Hakenkreuz wie das zu Her-
»Zeitgeschichten . so gestaut wie anderswo
net. Bei weitem sind das nicht nur die großen
die mehr als für Poesie gut war, sondern
tie »arisierte« Warenhaus Hermann Tietz.
die Erdschichten« (L. Földényi)? Es sei denn,
Grill- und Pinkelplätze wie der Tiergarten
mäandriert durch die Kulturgeschichte bis
Vorher war Baustelle, und bald waren Trüm-
man rechnet auf Gedenkstätten und Museen.
oder der kind-, hund- und altengerechte
heute fort, auch wenn es zunehmend um pro-
mer. Danach wieder Baustelle, das »Kom-
Was die literarischen Ungarn, eine besonders
Volkspark Friedrichshain. Auch der Monbi-
fanere Institute ging, das Urania-Theater als
plexvorhaben« Weltstadtzentrum der DDR-
interessierte Spezies von Berlin-Besuchern,
jou-Park, dessen Schönheit glücklicherweise
volkstümliche Schaustelle naturwissenschaft-
Hauptstadt. Die Menschen werden dabei
seit den siebziger Jahren mit Hilfe des
weniger Menschen nutzen als aufgrund sei-
licher Erkenntnisse, das erste »Gesinde-Ver-
nicht vergessen, zumal die vom 4. November
DAAD darüber hinaus an Berlin beobachtet
ner Lage zu befürchten stünde. Schmuck-
Im Gegensatz zu denen für Haushaltsgerä-
te ist das eine überaus klar und flugs les-
miethungs-Kontor«, Cürlis Institut für Kul-
1989. Auf sie folgte neuerlich große Planung,
bare Gebrauchsanweisung. Sie hat ledig-
haben, sammelt eine Anthologie mit dem
stücke gibt es überall. Und dabei den Bota-
tur-Filme, die Fotoagentur von Graudenz,
freilich eher ohne sie. Und erneuter Umbau –
lich einen winzigen Mangel: Sie hilft nur ge-
wunderbaren Wunsch im Titel: Berlin, meine
nischen Garten nicht zu vergessen! Oder den
Felsensteins Oper, die Berliner Zeitung in
bisher ohne die hochfliegenden Ideen. Ein
gen Ostberlin. Wer die U9 als bürgerlich und
Liebe. Schließen Sie bitte die Augen« Es ha-
Humboldthain. Oder den Britzer Garten.
ihren ersten Jahren, das Amt für Literatur und
Buch, von dem aus sich nicht nur der gesamte
ihren Geruch mit Koriander bezeichnet,
ben sich schon andere an Berlins Verführung
Den Brixplatz – und. Also: lässt sich alles
Verlagswesen oder schließlich die Geisteswis-
Platz, sondern auch viel Berlin erschließt.
kann naturgemäß vom Westen nicht viel wis-
versucht. Erst Péter Esterházy entrüstete sie
senschaftlichen Zentren, die sich mit diesem
Gernot Jochheim: Der Berliner Alexanderplatz. Ch. Links,
sen. Ansonsten aber ist das Buch ziemlich pa-
mit Charme. Von ihm gibt es einen ironi-
Katja Voss: Die Parks der Berliner. be.bra, Berlin 2006, 114
von ihnen bestrittenen Band eine mächtige
Berlin 2006, 208 S., 140 Abb., 29, 90 E
tent, mithin das, woran der Berliner die Art
schen Text über den »Ostwestdieb«, der in
Freitag 14
Regina General
Meine Geschichte der DDRnennt
bereits Bekanntem noch einige Details hinzu,
Wolfgang Leonhard das neueste
legt den Schwerpunkt allerdings auf die Ent-
Buch über seine Erfahrungen mit
wicklung in der unmittelbaren Nachkriegs-
diesem deutschen Staat. Und das ist
zeit, seine Flucht, die Gespräche und Ereig-
es natürlich auch: Ein biografisch unterlegter
nisse nach dem Fall der Mauer 1989. Vieles ist
Rückblick auf die Jahre, in denen er und vie-
in anderen Zusammenhängen bereits veröf-
le andere auf einen sozialistischen Staat hin
fentlicht, bis hin zu den Gesprächen mit sei-
gearbeitet haben; eine Kindheit, in der die
nen ehemaligen Genossen aus dem Moskau-
Trennung von der Mutter mit ihrem politi-
er Exil, die er nach dem Mauerfall traf.
SEIFENBLASEN ■
schen Engagement und der kommenden Ar-
Wolfgang Leonhards neues Buch »Meine DDR« bleibt den Zukunftsentwurf eines
Die Erwartungen, die einer an so ein Buch
beitermacht begründet war; eine Jugend, die
demokratischen Sozialismus schuldig
stellen kann, sind unterschiedlich. Leonhard
ganz auf das Ziel der sozialistischen Umge-
benennt und analysiert die Zäsuren: Die Un-
staltung seines Landes durch eine gebildete
entschiedenheit darüber, was aus dem Teil-
Generation ausgerichtet wurde, in der die
stück Deutschlands werden sollte, je nach In-
Ungerechtigkeiten und Verbrechen unter
teressenlage Stalins mal »schein«bürgerliches
Stalin – die Verhaftung der Mutter, das Ver-
Paradestück, in dem man sich – möglichst
schwinden vieler Bekannter, die Angst, selbst
unauffällig – seine Figuren aussucht, mal
etwas Falsches zu sagen oder zu tun – ertra-
Übergangsrepublik, mal sozialistischer Staat.
gen wurden, weil so etwas wie eine Gerech-
Was – und das beschreibt er eindrucksvoll –
tigkeit von unten als Perspektive vorhanden
kaum Auswirkungen auf den von Ulbricht
persönlich gepflegten Umgangston mit den
Dass Leonhard diesen Staat nicht nur in den
in Deutschland zurückgebliebenen Genos-
wenigen Jahren beobachtete, in denen er als
sen gehabt hat. Ein Hinweis auf das von An-
jüngstes Mitglied der »Gruppe Ulbricht« in
fang an favorisierte hierarchisch strukturier-
Berlin arbeitete, sondern ein Leben lang kri-
te Modell der Partei neuen Typs, das auch in
tisch begleitete, ergibt sich aus diesem Wer-
den späten Jahren der DDR eisern beibehal-
degang fast von selbst, auch wenn er die
Gründung der DDR nicht mehr von innen
Leonhard beschreibt den Aufstand vom 17.
erlebte. Im Frühjahr 1949 war er nach Jugo-
Juni 1953, die Ursachen für den Ungarnauf-
slawien geflüchtet. Die Erfahrungen aus die-
stand 1956, begründet seine Sympathie für
sen Jahren hatte er sechs Jahre später in sei-
den jugoslawischen Weg, für Solidarnoscs
nem Buch Die Revolution entlässt ihre Kin-
und – später – für Dubcˇek. Dem Leser bleibt
der beschrieben. Dass das nicht auch in der
überlassen, daraus die Schlüsse für Leon-
DDR vertrieben wurde, konnte den Kenner
hards »DDR« zu ziehen. Die Frage, ob es in
derer, die dort inzwischen in den entschei-
diesem sowjetisch besetzten Teil eine Mög-
denden Machtpositionen waren, kaum über-
lichkeit gegeben hätte, die Weichen anders zu
raschen. Schließlich war der Flucht eine Ana-
stellen, wird allerdings nur angedeutet. Im-
lyse der zu erwartenden Entwicklung der
mer dann, wenn es um Ulbricht und seinen
»Ostzone« voraus gegangen, die nicht gera-
mehr oder weniger ausgeprägten Rückhalt
de ermutigend ausgefallen war.
im sowjetischen Politbüro geht. Aber was
Viele Details aus dieser Zeit sind in Die Re-
hätte dazu kommen müssen? Wann?
volution entlässt ihre Kinder bereits beschrie-
Die Analysen, die er liefert, lassen keinen
ben. Zu damaliger Zeit eine Sensation. Ein
Blick auf das zu, was sich der junge Leonhard
Bericht aus dem inneren Zirkel jener Funk-
als DDR hätte vorstellen können. Sicher, er
tionäre, die mit der Führung des von den so-
feiert die demokratische Mitbestimmung in
wjetischen Truppen besetzten Teils von
den Betrieben à la Jugoslawien, lobt Eigen-
Deutschland beauftragt waren, war so etwas
ständigkeit wie im Prager Frühling, findet die
wie die geöffnete Tür eines sonst immer ver-
Forderungen nach dem Ende der Bevormun-
schlossenen Hauses. Es gab die agierenden
dung, wie von Solidarnoscs erhoben und
Figuren, mit denen man es in der Auseinan-
Wolfgang Leonhard (stehend) in der SED-Parteihochschule 1948
dann sogar durchgesetzt, hervorragend, aber
dersetzung zwischen Ost und West zu tun
das alles sind spätere Entwicklungen. Und sie
hatte, der Beobachtung preis, machte sie ein
te Fakten über den Stalin'schen Terror, der
vongekommenen verbuchten die vielen To-
brach dieses Kartell des Schweigens als einer
führten in keine demokratisch sozialistische
wenig berechenbarer, zeigte Denkrichtun-
von den meisten, die ihn überlebt hatten, ver-
ten, Verschwundenen, Drangsalierten unter
Gesellschaft. Hatte er, das jüngste Mitglied
gen, enthüllte Methoden, mit denen sich die-
schwiegen wurde. Um ein Wort aus dem heu-
»Kollateralschäden«. Und das, obwohl es die
Sein neues Buch basiert auch auf den Erin-
der Gruppe Ulbricht, einen Entwurf für das
se Macht durchzusetzen gedachte und liefer-
tigen Sprachgebrauch zu verwenden: Die Da-
engsten Vertrauten betraf. Leonhard durch-
nerungen an die Zeit im Moskauer Exil, fügt
Deutschland, das er aufbauen sollte? Konnteeiner, der Stalins Säuberungspolitik amSchicksal der Mutter erlebte, ernsthaft an einerepressionsfreie deutsche Republik glauben?Also Irrweg von Anfang an? Ist die Utopie
Lela Lappe
einer gerechten Gesellschaft, die erfolgreichund friedlich agiert, nichts als eine Seifenbla-se?
Leonhard liefert wenig von dem, was als
Zukunftsentwurf gelten könnte. Er merkt
Im Land von Onkel Honecker
nur an, dass die Vorstellungen von damals aufden Erfahrungen der »alten Kämpfer« be-ruhten, deren Sozialisation im Kapitalismus
HEIMAT ■ Viele Mosambikaner erinnern sich sehr gern an »ihre« DDR
der freien Konkurrenz erfolgte. Sie waren
Steinhäuschen verwandelten, und als sie mit
che Heimkehrer wurden schon im Flughafen
Schock an einem FKK-Strand oder das Er-
außerstande, die seit Ende des Zweiten Welt-
Kühlschränken, Radios, Fernsehern und
staunen über vorurteilslose weiße Mädchen.
kriegs im System selbst erfolgten Korrektu-
Motorrädern zurückkehrten. Aber einige ir-
In Deutschland schwanger gewordene Frau-
Schmerzhaftes kommt hoch: Wie mit deut-
ren wahrzunehmen oder gar zu verarbeiten.
In diesen Tagen explodierte ein Waffenla-
ger der Armee in Mosambiks HauptstadtMaputo. Raketen fliegen in Wohnviertel.
Menschen werden schwer verletzt, ver-
ritierten, wenn sie in Maputo noch im Jahre
en wurden sofort ausgeflogen. »Bei meiner
schen Frauen Kinder gezeugt wurden, die in
Viele von ihnen blieben, bei Honecker be-
lieren Gliedmaße. Gibt es wieder Krieg, fra-
2005 der längst untergegangenen DDR als
Ankunft nahmen mir die Behörden sämtliche
Deutschland bleiben mussten. Dann Eifer-
schreibt er es, ein Leben lang fixiert auf die ei-
gen sich die Menschen panisch. 1992 hatten
verlorenem Paradies nachweinten. Andere
Unterlagen einschließlich des Passes ab und
sucht der deutschen Freunde, Beschimpfun-
genen Jugenderlebnisse! Kleine Trompeter,
UNO-Truppen die Bürgerkriegsparteien
verstörten, wenn sie wöchentlich in Maputo
zahlten mir überhaupt nichts aus«, berichtet
gen als »Neger«, Kämpfe und Schlägereien,
Tschekisten mit einem bescheidenen Begriff
entwaffnet. Schlagartig ist schmerzhafte Er-
demonstrierten, die DDR-Fahne schwen-
Judite Amando. Zuhause war kein Platz für
Skinheads. Wie ein Mosambikaner verfolgt
von Wohlstand. Keineswegs harmlos, aber
innerung lebendig. Ganz anders die Erinne-
kend die Polizei herausforderten, schließlich
sie, die Mutter verstorben, der Vater neu liiert.
wurde und auf der Flucht im Fluss ertrank.
ein wenig sentimental.
rung der Deutsch-Mosambiker »Madjerma-
die deutsche Botschaft besetzten. Es ging ih-
Die zukünftigen Schwiegereltern gewährten
Gute Erfahrungen indes mit Gasteltern: ihr
Die Gespräche, die Leonhard nach dem
nes«: bei ihrem Blick auf die alte DDR.
nen um Gehaltsanteile und Sozialabgaben,
nur vorübergehend Unterschlupf. Sie lebte in
»gutes Benehmen«, ihr bewusster Umgang
Mauerfall mit den ehemaligen Schulfreun-
»Die Zeit des Schnees war ein Ungeheuer
die seinerzeit von Deutschland nach Mosam-
Elendsquartieren von Gelegenheitsarbeiten.
mit Umweltschutz und Müll, ihre Ehrlich-
den, Lehrern, Gefährten führte, die in der
mit sieben Köpfen« erinnert sich Judite Ar-
bik transferiert wurden. Die mosambikani-
Dennoch blieb das Hoffen, das habe sie in
keit und – für Mosambikaner ein Tabu – die
DDR zum Teil in hohen Ämtern agierten,
mando an die DDR 1980. »Im Land von On-
sche Regierung zahlte ihnen davon nur einen
Deutschland gelernt. Judite, die Schneehasse-
Mitarbeit des Ehemanns im Haushalt!
Wolf, Eberlein, Florin, Wandel … führen ihn
kel Honecker« war »es so kalt, dass wir noch
Bruchteil aus. Bei der Umrechnung wurde
rin, war gerne dort. In Gefühle, Hoffnungen,
Heute sind die Narben des blutigen Bürger-
zu dem Schluss, dass deren anfängliche Be-
nicht mal sprechen konnten«, so Jaime Faque
die Inflation nicht berücksichtigt und eine
Frustrationen erzählt sie von ihrer Erfahrung
krieges fast verblasst. Die Demokratie stabili-
reitschaft, sich kritisch mit der eigenen Rolle
Sulane. Zwölf Mosambikaner erzählen ihre
Verwaltungspauschale von zehn Prozent ein-
als 17-Jährige in der Montage-Abteilung des
siert sich. Der 2004 gewählte Staatspräsident
in der Geschichte auseinander zu setzen,
Geschichte in dem Band: Mosambik-
behalten. Unter den »Madjermanes« gab es
VEB Elektroglas in Ilmenau, von der Solida-
Armando Guebuza betreibt wie sein Vorgän-
nach wenigen Jahren wieder schwindet und
Deutschland. Hin und Zurück: Erinnerun-
unterschiedliche Auffassungen über die Her-
rität unter Arbeiterinnen, vom deutschen Tan-
ger Chissano die Liberalisierung der Wirt-
alten Positionen Platz macht. Für ihn ein Be-
gen, Fotos und ausführliche Vorworte zum
stellung nachträglicher Gerechtigkeit, je
nenwald und Einkaufs-Reisen nach Halle.
schaft. Armutsbekämpfung ist höchstes Ziel.
weis, dass die Umkehr nur halbherzig statt-
Hintergrund bietet diese erste Publikation
nachdem, wie erfolgreich man sich in der ei-
1992 kommt Inocêncio Domingos Honwa-
EU- und US-Hilfsorganisationen leisten im
fand. Es gäbe allerdings auch eine andere Er-
des Deutsch-Mosambikanischen Kultur-In-
genen Heimat integriert hatte. Einige arbei-
na aus Berlin zurück. Er hat Glück, der Bür-
Bildungssektor und bei medizinischen Pro-
klärung, dass nämlich der Kapitalismus dabei
stituts ICMA, eine 2003 gegründete Koope-
ten in der Regierung, an Universitäten und in
gerkrieg ist beendet. Aber weit und breit kei-
jekten Unterstützung. Mosambik ist Schwer-
ist, seine im 20. Jahrhundert vorgenommenen
ration der Deutsch-Mosambikanischen
Betrieben, in guten Positionen. Andere
ne bezahlte Arbeit. In Berlin: Erinnerung an
punktland der deutschen Entwicklungshilfe.
Korrekturen für das 21. zurückzunehmen.
Freundschaftsgesellschaft AAMA, des Deut-
konnten nicht Fuß fassen. Erst Ende 2005
ein Paradies durchstreift er noch einmal sei-
Ideologische Programme und die patriotisch-
Wolfgang Leonhard: Meine Geschichte der DDR, Rowohlt
schen Entwicklungsdienstes ded, der deut-
wurde das Problem endlich geregelt.
ne geliebte Stadt mit und ohne Mauer. »Es
sozialistischen Ziele der Väter sind in der Er-
Berlin, Berlin 2007, 266 S, 19,90 E
schen Botschaft in Maputo und des Goethe-
Die Ankunft in der DDR war für die zwölf
war in Deutschland, wo ich vor mehr als
innerung der zwölf Chronisten kaum ein The-
Erzähler eine Landung auf einem fremden
zwölf Jahren mit Nikes an den Füßen und Je-
ma, wohl aber die menschliche Begegnung.
Über 20.000 schwarze Mosambikaner fan-
Planeten, im »Schlaraffenland«. Es gab Bet-
ans wie ein amerikanischer Schwarzer die er-
»Was ich zurück ließ«, schreibt Adevaldo S.F.
den sich in der Zeitspanne von 1980 bis zur
ten, reichliches, fremdartiges Essen, warme
sten Schritte in ein Paradies tat, während sich
Banze, »ist eine zweite Heimat, die Heimat,
Wende in der DDR ein: Vertragsarbeiter, Stu-
Kleidung. Daheim hatten sie in zugigen Bin-
die Hölle näherte.«
wo mein Leben glücklich war, wo es Freund-
denten und 900 elf- bis zwölfjährige Kinder.
senhütten hungrig auf Strohmatten geschla-
Die zwölf Geschichten sind in der Ori-
schaft, Respekt und Menschenwürde gab.«
Ziel: Ausbildung und Fachwissen. An der
fen. Benedito Augusto Mualinque schreibt
ginalsprache Portugiesisch und in deutscher
Und wo, fragt man sich, bleibt der kritische
»Schule der Freundschaft« in Staßfurt sollten
unter dem Titel Mein erstes deutsches Weih-
Übersetzung präsentiert, ausgewählt aus 28
Blick? Die Verschickten kamen blutjung aus
die Kinder mosambikanischer Bauern zur
nachten: »Alles war wunderschön, alles war
Beiträgen für einem Wettbewerb des ICMA
bitterster Armut in, auch für DDR-Bürger,
»Elite« reifen. Grundlage der großangeleg-
völlig neu, niemals zuvor hatte ich so etwas
2004. Was kostet eine Cabinet? ist die sym-
privilegierte Lebensumstände. Sie erhielten
ten Verschickung: ein Vertrag von 1979 zwi-
gesehen«. Duftende Kuchen und Plätzchen.
bolträchtige Erzählung um eine letzte, nach
Ausbildung, Arbeit, Unterkunft, reichlich
schen Honecker und dem ersten Präsidenten
Das Beste: der engagierte Geschichtsvortrag
Mosambik gerettete DDR-Zigarette. Ihr Au-
Verpflegung, Kleider, Taschengeld oder
Mosambiks, Samora Machel. Wirtschaftliche
der Gastgeber über das Dritte Reich und den
tor Moíses Pinto Rendição hat den ersten
Lohn. Sie durften in speziellen Läden ein-
Projekte folgten. Damit kamen auch Tausen-
sozialistischen Aufbau – »das Ergebnis von
Preis gewonnen. Mit seiner griffigen Erzähl-
kaufen. Regimetreue Familien und Lehrer
de Experten und Entwicklungshelfer aus der
sehr viele Schweiß und Opfer«. Die Rat-
weise und der gelungenen Dramaturgie, mit
umsorgten sie. Grund genug für ein ideali-
DDR nach Mosambik. Solidarität unter so-
schläge: »Ihr werdet als Pioniere Eure Kennt-
der er die Erlebnisse eines Kameraden ver-
siertes Bild. Ihre außergewöhnlichen Erleb-
zialistischen Brüdern. Aufbruchsstimmung
nisse an Eure Landsleute weitergeben, profi-
dichtete, habe er, so die Jury, die deutsch-mo-
nisse fielen mit ihrer Jugend zusammen. Im
in den Zeiten der Independência, der Unab-
tiert von allem, vergeudet nichts«, quittiert er
sambikanische Erfahrung auf den Punkt ge-
Bürgerkrieg der Heimat wurden derweil
hängigkeit von den portugiesischen Koloni-
mit Tränen »als größtes Geschenk«.
bracht. Die meisten Autoren waren im
Kindersoldaten gezwungen, die eigenen El-
Die Rückkehr war für die meisten ein
Schreiben eher ungeübt, viele reichten ihre
tern umzubringen. Kein Wunder dass
In zwölf exemplarischen Geschichten ha-
Schock. Niemand hatte sie über den Bürger-
Beiträge handschriftlich ein, formulierten ein
Preisträger Rendição schreibt: »Deutschland
ben diese »Madjermanes« zum ersten Mal
krieg in der Heimat aufgeklärt, zwischen der
wenig unbeholfen – für die Übersetzer eine
ist ein gutes, angenehmes Land, es gibt nur
selbst von ihren Erlebnissen erzählt. So wer-
sozialistischen Regierungspartei Frelimo und
Herausforderung. Manch einer schrieb sich
zwei traurige Dinge, den Winter und die Bu-
den die nach Deutschland Verschickten mal
der konservativen Widerstandsbewegung
lang verdrängte Erlebnisse von der Seele, un-
zärtlich, mal verächtlich, von ihren Lands-
Renamo (unterstützt von Südafrikas Apart-
zensierte, lebendige Zeugnisse eines politi-
leuten genannt, das heißt in der lokalen Ban-
heidregime). Der Krieg hatte die gesamte In-
schen Experiments.
Mosambik-Deutschland, Hin und Zurück. Erlebnisse von
tu-Sprache Schangaan »die Deutschen«. Sie
frastruktur zerstört. Viele konnten ihre El-
Erotische Abenteuer wurden nicht ausge-
Mosambikanern, vor, während und nach dem Aufenthalt inDeutschland. Aus dem Portugiesischen von Ulf Dieter
waren »Stars«, als sie mit ihrem Geld aus der
tern nicht mehr finden, andere waren zu Wai-
spart. Die »Küsse von Frau Schmid« im Kel-
Klemm, Johannes Kloos und Kerstin Kuschel. Hrsg. vom
Ferne die Binsenhütten ihrer Familien in
sen geworden. Grenzenlose Armut. Männli-
ler sind ebenso dokumentiert wie der Kultur-
Koordinationskreis Mosambik, Bielefeld 2005, 10 E
Freitag 14
Ingo Arend
Zwölfeinhalb Kilometer Zaun. Anfang
Juni wird man das friedliche SeebadHeiligendamm an der Ostsee vermut-lich nicht wiedererkennen. Dann näm-
lich, wenn sich die Staatschefs der G8-Länderin der Provinzidylle versammeln, um überdie Agenda einer aus den Fugen geratenen
Zweihundertfünfzig Meter Zaun
Welt zu beraten: Weltwirtschaft, Afrika, Kli-maschutz. Wie immer bei solchen Gipfeln
fernab von einer allzu streitbaren Öffentlich-
In Heiligendamm wollen Künstler aus aller Welt den G8-Gipfel »verflüssigen«. Die Bundeskulturstiftung aber nicht
keit. Umgeben von einem temporären Zaun,zweieinhalb Meter hoch. Geschätzte Ge-
solchen Lawine von Biennalen und Großaus-
lich. Denn Goehler geht es bei dem bunten
samtkosten des Gipfels: 90 bis 150 Millionen
stellungen erschlagen wie jetzt. Die Kunst
Projekt nicht um politische Konfrontation.
Euro. Allein der Zaun wird zwölfeinhalb
kümmert mitnichten in der Nische des Whi-
Sie will, wie sie selber sagt, »vermitteln« und
Millionen kosten. Heiligendamm, ein Hoch-
te Cube. Heutzutage wird schließlich jede U-
»deeskalieren«. Alles Anliegen, denen die
sicherheitstrakt für zwei Tage.
Bahn-Station zum Schauplatz »ortsspezifi-
Bundesregierung angesichts der politischen
So ein Komplex regt die Phantasie an. Kein
scher Interventionen«, auf der man schon am
Anti-G8-Truppe, die sich in und um Heili-
Wunder, dass die Grenze im Mittelpunkt von
frühen Morgen von »Wahrnehmungserwei-
gendamm auch formiert, eher gelegen sein
Arbeiten steht, mit denen Künstler aus aller
terungen« überfallen wird. Das macht das
könnte. Goehlers Idee, eine »Pufferzone jen-
Welt auf diese außergewöhnliche Situation
Projekt in Rostock aber nicht überflüssig.
seits der dualen Logik von Gipfel und Gip-
reagieren wollen. »Art goes Heiligendamm.
Nur hängt es nicht ganz so hoch, wie die Or-
felgegnern« zu schaffen, ein Raum, in dem
Art goes Public« nennt sich ein Projekt, das
ganisatoren es gern sähen. Und auch, wenn es
über die wirklichen Weltprobleme nachge-
parallel zu dem Politgipfel vom 24. Mai bis
eher einem fröhlichen Zeltlager der Künste
dacht werden könne, klingt nach gehobenem
zum 9. Juni im benachbarten Rostock steigen
zu gleichen scheint. Es wird teuer. Und just
Stadtteil-Konfliktmanagement. Fast möchte
soll. Während in der Bundeshauptstadt nach
an einem dünnen pekuniären Faden hängt
man die Kunst vor diesem lebensgefährlichen
dem Eklat um die Sammlung Marx an dem
derzeit das Schicksal dieser zivilgesellschaft-
Rot-Kreuz-Einsatz zwischen den Fronten in
»Museum der Gegenwart« nur genannten
lichen Initiative.
Schutz nehmen. Verdächtig schwammig wird
Hamburger Bahnhof noch über einen Platz
Zwar konnte die gut vernetzte Goehler eine
Goehler da, wo sich die sonst gern unbot-
für die Gegenwartskunst gestritten wird, hat
stattliche Reihe von Sponsoren und Förde-
mäßige Intellektuelle der Großveranstaltung
die sich längst aus dem Staub gemacht. Sie
rern zusammenschieben. Sie reicht von der
als das (fehlende) Kulturprogramm andient,
will an die Ostsee – die Gegenwart aufmi-
Hansestadt Rostock über die Heinrich-Böll-
als eine Art Fortsetzung des Programms Zu
schen. Im Juni wird man also nicht nur zur
Stiftung, von den Berliner Kunstwerken bis
Gast bei Freunden, das 2006 die Fußballwelt-
Documenta nach Kassel, zur Biennale nach
zu Privatleuten wie dem Berliner Malerstar
meisterschaft flankierte. Die Kunst als Har-
Venedig, zur Kunstmesse nach Basel und
Daniel Richter. Und die ehemalige Präsiden-
monisierer und Nothelfer der offiziösen
zum Skulpturen-Projekt nach Münster pil-
tin der Hamburger Hochschule für bildende
gern müssen, um Kunst zu erleben, sondern
Künste schnorrte ihre betuchten Bürger-
Wer Goehlers letztes Buch gelesen hat,
schon vorher nach – Rostock!
freunde an der Elbe dermaßen an, dass sie
kann dieser Ansatz nicht überraschen. Schon
Mit dem Schlachtruf »Kunst ist doch nicht
sich fast nicht mehr in die Stadt traut. Die
in der semivisionären Skizze Wege und Um-
die Schweiz« nährte zwar einer der Initiato-
letzte Viertelmillion, die ihr zum Kunstglück
wege vom Sozialstaat zum Kulturgesellschaft
ren, der »darstellende Architekt« Benjamin
fehlten, hatte die gremienerfahrene ehemali-
(Freitag 23/2006) verfocht sie die Idee von
Foerster-Baldenius vergangene Woche in
ge Kuratorin des Berliner Hauptstadtkultur-
den »Verflüssigungen« zwischen sozialen Be-
Berlin Befürchtungen, hinter dem schillern-
fonds dann schließlich fristgerecht bei der
wegungen und Kunst. Ihre Unterstützer se-
den Projekt könnten sich doch nur wieder die
Bundeskulturstiftung beantragt. Vergebens,
hen das ähnlich. »Wie könnte der Potsdamer
üblichen Aporien »politisch engagierter
wie sich dieser Tage herausstellte.
Platz heute aussehen, wenn man die Künstler
Kunst« verbergen. Und von Migrationsar-
Die bürokratisch gewundene Formel, mit
früher beteiligt hätte?«, fragt nicht ganz zu
chiven über Asylcontainer bis zur Kriegsfo-
der die in Halle angesiedelte Einrichtung den
Unrecht Daniel Marzona. Seines Vaters
tografie finden sich denn auch die Standards
Projektantrag ablehnte, hat es in sich. Einer-
Sammlung von Objekten der Minimal-Art
aus dem Arsenal der dokumentarischen Po-
seits hält sich die etwas auf ihre unkonven-
erwarb Berlin 2002 für den Hamburger
litkunst, die sich spätestens seit der docu-
tionelle Ausrichtung zu Gute. Im Zweifel für
Bahnhof. Die Familie unterstützt nun »Art
mentaX von 1997 in der Kunstwelt ausge-
die Avantgarde, für das Experiment, für das
goes Heiligendamm« finanziell. Der bei der
breitet hat im Rostocker Angebot. Doch Be-
Crossover - das war bislang das Motto der
Bundeskulturstiftung beantragte Betrag von
troffenheit, Anklage und ästhetikfreie Agita-
von der selbstbewussten Hortensia Völckers
250.000 Euro macht nur einen Teil des fast
tion zeichnen die »künstlerischen Interven-
geleiteten Förderinstitution. Und mit
doppelt so teuren Projekts aus. Und natürlich
tionen«, die die Kuratorin des ambitionierten
»Schrumpfende Städte« oder ihrem »Projekt
wären die Steuergroschen, die den Kosten
Projekts, die ehemalige Berliner Kultursena-
Migration« hat sie sich an Kontexte gewagt,
von rund 250 Metern Gipfel-Zaun entspre-
torin Adrienne Goehler jetzt in Berlin prä-
die alles andere als unpolitisch sind. Die po-
chen, in Kunst sicher besser angelegt, als in
sentierte, im Großen und ganzen nicht aus.
litisch brisante Zusammenkunft der wichtig-
Stacheldraht und Infrarotkameras. Trotzdem
Eher atmeten sie subtile Ironie und den Geist
sten Staatenlenker der »freien Welt« an der
wundert man sich, dass die Initiative so be-
des intelligenten Spiels.
Ostsee sprengt dann aber doch den üblichen
harrlich nach öffentlicher Förderung strebt.
So will die deutsche Künstlerin Francis Zei-
Könnte sie, bar aller Staatsknete, nicht viel
schegg das zu erwartende Gipfelsetting mit
Es riecht ein bisschen nach Kotau vor der
freier aufzeigen, was man von der Kunst ei-
einem »Raumzitat aus der Forstwirtschaft«
Politik, wenn sich die Stiftung jetzt darauf
gentlich erwartet – radikale Alternativen?
Francis Zeischegg: »Point of view«, Illustration 2006
konterkarieren: Wildgatter nennt sie ihr Vi-
herausredet, dass die ȟbergeordnete politi-
deo. Darin sieht man ein kleines Holztrepp-
sche Bedeutung« des Projekts »angesichts der
chen, das an einen Drahtzaun gelehnt ist. Mit
vativer Happenings, gewaltfreier HipHop
in einem »Silverpearl Congress Center &
Gastgeberrolle der Bundesrepublik« eine be-
diesem Überstieg kann der Förster in jedes
inklusive. Auf Litfaßsäulen soll die Bevölke-
Spa«, das Foerster-Baldenius' Architekten-
sondere Begutachtung durch den (politisch
Gehege gelangen. Man kann sich die Bedeu-
rung ihre Ideen zu den Gipfelproblemen dar-
gruppe »raumlabor« im Hafen von Rostock
besetzten) Stiftungsrat notwendig mache. So
tung der Arbeit aussuchen. Soll das Werk die
legen können. Der Künstler Christian von
bauen will. Bekannt geworden war der um
schnell, argwöhnt Goehler, ist bislang noch
Demonstranten des politischen Gegengip-
Borries will die Stimmen der acht Gipfelteil-
eine satirische Bemerkung selten verlegene
kein Förderantrag der Stiftung auf Eis gelegt
fels, die sich in Heiligendamm sammeln, ani-
nehmer zu einer »Gipfelmusik« zusammen
Gelegenheitsarchitekt schon durch den
worden. Doch die gewitzte Kuratorin gibt
mieren, in ein verbotenes Terrain einzudrin-
schneiden, um die Kommunikationsproble-
»Bergkristall« beim Berliner Volkspalast. Mit
nicht auf. Ersatzweise will sie jetzt Projekt-
gen? Oder werden die Staatschefs das Ange-
me solcher Treffen zu versinnbildlichen. Das
der gipfelsimulierenden Installation hatte er
gelder den »Kunst am Bau« beantragen. Bun-
bot zum Ausbruch aus dem Gefängnis der
Ergebnis soll man dann als CD bei Attac her-
im Sommer 2005 den inzwischen fast abge-
desverkehrsminister Wolfgang Tiefensee
Sachzwänge nutzen? In Rostock will die
unter laden können.
tragenen Palast der Republik in eine medita-
wird sich etwas einfallen lassen müssen, wenn
Künstlerin einen mobilen Hochstand instal-
Kein Gipfel ohne televisionären Overkill.
tive Kletterbude für die ganze Familie ver-
er widerlegen will, was offenkundig ist: dass
lieren. Dann können sich beide Seiten zu-
Deswegen plant die Gruppe »Kein.TV« eine
wandelt. In Rostock gibt's nun also eine Sil-
nämlich der Zaun um Heiligendamm eine
mindst erst einmal gegenseitig beobachten.
Parodie auf die Medienhysterie dieser
Baumaßnahme ist, die »Gegenstand beson-
Mit solch klassischer Kunst will sich das
Events. Die Liste der Redner einer »Lectu-
Goehlers Begründung, dass es nötig sein,
derer öffentlicher Wahrnehmung« sein wird.
re«-Reihe reicht vom Schweizer Globalisie-
der Kunst einen »erweiterten gesellschaftli-
Das jedenfalls ist die gesetzliche Bedingung
Projekt aber nicht begnügen. Über der Stadtsoll das ganze Füllhorn des erweiterten
rungskritiker Jean Ziegler bis zur Trägerin
chen Resonanzraum« zu verschaffen, kann
für »Kunst am Bau«.
Kunstbegriffs ausgeschüttet werden: Tanz,
des Friedensnobelpreises 2004, Wangari
man getrost vergessen. Noch nie seit Men-
Trotzdem ist die Ablehnung von »Art goes
Theater, Performance und jede Menge inno-
Matthai aus Kenia. Stattfinden soll das Ganze
schengedenken wurde der Globus von einer
Heiligendamm« einigermaßen verwunder-
schaft – Kulturwandel.
Star t des Wettbewerbs »asia connection«
Literarischer Salon der Allianz
Der Ideenwettbewerb für junge Leute in
19. April 2007, 19 Uhr
Ostersamstag, 7. April 2007
Gesucht werden Projektideen aus den
Berliner Prosa Prognosen
Bereichen Design, Mode, Medien und
13.00 Uhr Rostock-Hohe Düne
Die Stipendiaten der Berliner Autorenwerk-
Zufahrt zum Marinestützpunkt
Kochen, die einen Bezug zu aktuellen Ent-
statt »Formen des Erzählens« 2006
wicklungen der kreativen Industrien aus
Wir treffen uns am 7. April 2007 (Oster-
Ändert Japan seine pazifistische
Im Herbst 2006 fand zum 8. Mal die Berliner
dem asiatisch-pazifischen Raum haben soll-
Autorenwerkstatt Prosa im Literarischen Collo-
samstag) um 13.00 Uhr vor dem Haup-
ten. Ab sofor t können Schulklassen,
quium Berlin statt. Jetzt stellen sich die vielver-
teingang der Kaserne Rostock-Hohe
Arbeitsgemeinschaften und andere Grup-
sprechenden Talente in Lesung und Gespräch
Düne zur Kundgebung. Wir informieren
pen um die Projektmittel im Rahmen des
über den Umbau des Stützpunktes im
der Öffentlichkeit vor. Es lesen: Gunther Geltin-
Ideenwettbewerbs »asia connection« bewer-
ger, Bettina Hartz, Yorck Kronenberg, Hanna
Kontext der Militarisierung der bundes-
Die aufgescheuchte Taube.
ben. Anmeldeformulare und Teilnahmebe-
Lemke, Thomas Melle, Christian de Simoni,
deutschen Außenpolitik. Auch wird es
dingungen sind unter www.asia-connec-
Stefanie Sourlier, Achim Stegmüller, Deniz Utlu
einen Beitrag zur Kritik der Friedensbe-
tion.org abzurufen oder können per mail an
und Burkhard Wetekam.
wegung am G8-Gipfel im Juni in Heiligen-
[email protected] angeforder t werden.
Veranstaltungsor t: An den Treptowers 1, VIP-
damm und zum Stand der Protestvorbe-
Nationsdiskurs: Die Wurzeln des
Einsendeschluss ist der 18. Mai 2007.
Lounge in der 30. Etage, 12435 Berlin
reitung geben. Von Hohe Düne geht esper Fahrrad als Demonstration Richtung
Warnemünde. Dort statten wir einer loka-
Kleinanzeigen im FREITAG
len EADS-Niederlassung einen Besuch
W. Roth, M. Hesse, B. Lange,
ab, um über die Verbindung vonRüstungsindustrie und Aufrüstung zu dis-
R. Kilb, C. Lay
Private Kleinanzeigen kosten
bis 5 Zeilen à 45 Zeichen
jede weitere Zeile
kutieren. Anschließend treffen wir uns
»Existentieller Luxus«
Stadt, Integration & Dynamik:
mit allen nicht Rad fahrenden Teilneh-mer/innen der Aktion am Informations-
Der Karl-Hofer-Preis 2007
Harzhaus Brockenblick.
Berlins Niedergang, Kreative In-
Gewerbliche Kleinanzeigen kosten
bis 5 Zeilen à 45 Zeichen
stand des Rostocker Friedensbündnis-
Ein nicht alltägliches Ferienhaus in einer
Auch in diesem Jahr vergibt die UdK Ber-
dustrien, Lob der Durchmischung,
jede weitere Zeile
ses auf der Promenade in Warnemünde
ganz besonders schönen & ruhigen Lage,
lin wieder den mit 5.000 Euro dotier ten
wieder. Dor t wollen wir mit
Naturgrundstück direkt am Waldrand
Toulouse – neue Stadt?
Preise zzgl. 16% MwSt.
Karl-Hofer-Preis. Das Motto der diesjähri-
Passant/innen ins Gespräch kommen,
(Sorge/Oberharz). 2-3 Pers.
gen Ausschreibung lautet »Existentieller
Senden Sie Ihre Kleinanzeigen per eMail an [email protected]
Kaffee oder Tee trinken sowie das hof-
35-40 EUR/T. (NR).
Luxus«. Arbeiten aus den Bereichen Bil-
Sie können Ihre Kleinanzeige auch per Telefax unter 030-25008710 aufgeben.
fentlich schöne Wetter genießen.
dende Kunst, Musik, Tanz, Per formance,
Tel.: 040/73509061.
Video, Literatur usw. können bis zum 15.
Oktober 2007 bei der UdK Berlin einge-
Bitte buchen Sie den Anzeigenpreis von meinem Konto ab.
reicht werden. Zugelassen sind Einzelar-
Die neue Ausgabe:
beiten und Projekte sowie Projektkonzep-
Sonne und Ruhe in SW-Frankreich
tionen. Zur Teilnahme sind Einzelperso-
FEWO, alte Dor fstruktur
– Heft 2/07, diesmal 128 Seiten, großes Format
nen oder Gruppen berechtigt. Für weitere
Mittwoch, 11. April 2007, 19.30 Uhr
– Heft 10 Euro, Jahresabo (6 Ausgaben) 55 Euro
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Kulturdebatte im Turm
tinnen und Interessenten bitte an Inge
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Referent: Dr. Erhard Crome
24 41, eMail: [email protected]
Moderation: Prof. Dr. Dietrich Mühlberg
Urlaub in der Südheide
KOMMUNE, PF 90 06 09, 60446 Frankfurt
Kontoinhaber (falls abweichend)
Or t: Lounge im Turm, Frankfur ter Tor 9
Freitag 14
Gitti Hentschel
Die Einigkeit schien am 8. März im
sonderen Konstruktion des kriegerischen
Bundestag zunächst groß. Überein-
Konflikts«. Allgemeiner gesagt kann also, je
stimmend stellten die Rednerinnen
nach sonstigen ökonomischen oder anderen
aller Fraktionen fest: Es sind drin-
sozialen Entwicklungen, das Risiko für Kri-
gend Maßnahmen erforderlich, um die UN-
sen und Konflikte steigen, wenn sich Ge-
Resolution 1325 »Frauen und Frieden und
schlechterbeziehungen und -konstruktionen
Sicherheit« aus dem Jahr 2000 endlich umzu-
Frauen an den Konfliktherd in einer Gesellschaft verschieben und Ge-
setzen, in der Bundesrepublik und interna-
schlechteridentitäten gefährdet sind.
tional. Doch auf den Antrag der Grünen,
Diese Erkenntnis ist auch für internationa-
FRIEDEN KRIEGEN ■
»zur Gestaltung einer geschlechtergerechten
Das Geschlechterverhältnis spielt in der Sicherheitspolitik kaum eine Rolle,
le Friedensmissionen wichtig. Mit gender-
Außen- und Sicherheitspolitik… einen natio-
obwohl die Beteiligung von Frauen in Krisenregionen Erfolge verspricht
sensiblem Blick ist leicht vorstellbar, dass sich
nalen Aktionsplan« nach dem Vorbild ande-
Ex-Kombattanten in Afghanistan oder Ko-
rer europäischer Länder zu entwickeln, ließ
sovo, zu deren Männlichkeitsbild traditionell
sich die Regierungskoalition trotzdem nicht
zusammen. Hierdurch wird die Notwendig-
Waffenbesitz gehört, erheblich gedemütigt
ein. Sie blieb bei allgemeinen Absichtser-
keit offenkundig, geschlechtersensible An-
und in ihrer männlichen Identität verunsi-
klärungen wie: »die Vereinten Nationen in
sätze in die Sicherheitspolitik zu integrieren.
chert fühlen, wenn sie ausländischen, selbst
ihren Bemühungen zu unterstützen, die um-
Es gibt eine Palette unterschiedlicher Fak-
bewaffneten Militärs ihre Waffen abliefern
fassende Umsetzung der Resolution zu be-
toren, die in der Sicherheitspolitik als gewalt-
müssen. Oder wenn patriarchal denkende
schleunigen« und »darauf zu achten, dass die
fördernd oder – mit Blick auf Lösungsstra-
Männer erleben, wie ihre Frauen durch Em-
Geschlechterperspektive – unter anderem
tegien – als gewaltmindernd gelten: ökono-
powerment-Programme in ihrer Selbststän-
durch die Integration von Gender-Beraterin-
mische und politische Verhältnisse, Interes-
digkeit gefördert und selbstbewusster wer-
nen und Menschenrechtsbeobachtern – in
sengegensätze und Machtkämpfe unter poli-
den. Hier greifen bisherige Waffenstillstands-
der Praxis von Friedensmissionen angewandt
tischen oder nach Ethnie, Kultur, Religion
abkommen und die zivilen Konfliktlösungs-
und das Personal der truppenstellenden Län-
unterschiedenen Gruppen, inzwischen zu-
programme zu kurz. Nachhaltige Konflikt-
der dementsprechend vorbereitet wird«. Al-
nehmend auch die Ökologie. Im UN-Kon-
lösungen müssen die Frage einbeziehen, wie
lerdings soll der Grünen-Antrag in den zu-
text werden Armut und Krankheiten als zen-
Übereinkommen und Maßnahmen sich auf
ständigen Ausschüssen weiter beraten wer-
trale Sicherheitsgefährdungen benannt, in der
die Beziehungen zwischen Männern und
den. Nicht nur die Oppositionsfrauen, son-
EU rangiert der internationale Terrorismus
Frauen und mögliche Dynamiken auswirken,
dern auch einzelne weibliche SPD-Abgeord-
auf Platz eins, gefolgt von der Verbreitung
und wie sie zu gestalten sind, um emanzipa-
nete formulierten Sympathien für einen na-
von Massenvernichtungswaffen, regionalen
torisch und gesellschaftsstabilisierend zu
tionalen Aktionsplan zur Umsetzung der
Konflikten und dem Zerfall von Staaten. Die
UN-Resolution 1325.
Geschlechterverhältnisse gehören bisher
Hintergrund des Grünen-Antrags wie der
Bundestagsdebatte ist die Tatsache, dass
Es scheint im bisherigen sicherheitspoliti-
Nachhaltige Konfliktlösungen müssen die
Außen- und Sicherheitspolitik noch immer
schen Denken kaum vorstellbar, dass etwa
Frage einbeziehen, wie Übereinkommen
eine Männerdomäne ist. Daran hat bisher
Verschiebungen in den Beziehungen zwi-
auch die bewusste Resolution 1325 nichts än-
schen Frauen und Männern ein Sicherheitsri-
und Maßnahmen sich auf die Beziehungen
dern können, die der UN-Sicherheitsrat im
siko für eine Gesellschaft sein könnten. Da-
zwischen Männern und Frauen auswirken
Oktober 2000 einstimmig verabschiedete.
her sind sie bei (inter)nationalen Verhand-
Zwar schreibt sie vor, dass Frauen in allen
lungen kein Thema, wenn es um Konflikt-
Entscheidungen von Krieg und Frieden und
beilegung und Förderung von Demokratie-
Die UN-Resolution 1325 macht hierfür
damit in der Sicherheitspolitik überhaupt an-
prozessen geht. Bestenfalls steht die Frage
weitgehende Vorgaben und ist daher ge-
gemessen zu beteiligen sind. Doch weiterhin
der Beteiligung von Frauen im Raum, wenn
schlechterpolitisch ein Meilenstein für die Si-
sind Frauen in entscheidenden Positionen
der öffentliche Druck groß genug ist. Doch
cherheitspolitik. Sie verpflichtet in insgesamt
und Funktionen weltweit die Ausnahme.
ob und wie Frauen schließlich eingebunden
18 Punkten die UNO, alle Mitgliedsstaaten
Und die Geschlechterperspektive ist – auch
werden, ist nicht mehr Gegenstand offizieller
und Konflikt-Parteien, Frauen auf allen Ebe-
das entgegen der Resolutionsvorgabe – fast
Friedens- und Sicherheitspolitik, wie Afgha-
nen und in allen Fragen von Krieg und Frie-
nistan, Irak oder Kosovo zeigen. Aber selbst
den angemessen zu beteiligen und die Ge-
Dabei tragen Frauen weltweit wesentlich
wenn Frauen – schon aus demokratischem
schlechterdimension in Friedensabkommen,
zur Prävention kriegerischer Auseinander-
Verständnis – gleichberechtigt beteiligt wä-
bei Peacekeeping-Einsätzen und in anderen
setzungen bei, zur zivilen Konfliktlösung,
ren, ist damit nicht automatisch die Ge-
sicherheitspolitisch relevanten Bereichen zu
zum Wiederaufbau in Nachkriegsgesellschaf-
schlechterperspektive integriert. Es ist ein
berücksichtigen. Erstmals anerkennt der Si-
ten und bei der Wiederherstellung bezie-
weit verbreiteter Irrtum, die Partizipation
cherheitsrat hier den Stellenwert zivilgesell-
hungsweise Entwicklung demokratischer
von Frauen damit gleichzusetzen. Ge-
Verhältnisse. In vielen Ländern und Kon-
schlechterperspektive meint mehr – sie
Dass ständig und überall – in demokrati-
fliktregionen wie Israel und Palästina, Ex-
nimmt die Beziehungen und Dynamiken
schen Staaten wie in autoritär regierten Län-
Jugoslawien und Afghanistan waren Frau-
zwischen Männern und Frauen in einer Ge-
dern – gegen diese Resolution verstoßen
en(gruppen) die ersten, die Ansätze zur Aus-
sellschaft und die jeweiligen Geschlechteri-
wird, obwohl sie bindendes Völkerrecht ist,
söhnung entwarfen. Als wichtiger Teil von
dentitäten in den Blick, wenn es darum geht,
liegt vordergründig an unkonkreten Vorga-
Friedensallianzen vermitteln sie zwischen
Ursachen von Konflikten zu verstehen und
ben. Es fehlen Zeitpläne für die Umsetzung
den Kriegsparteien, etwa der 6. Clan in So-
Lösungsszenarien für Konflikte zu entwer-
und Quoten zur Mindestbeteiligung von
malia, der Jerusalem Link in Israel und Palä-
Frauen. Weder sind Sanktionen bei Ver-
stina und die Women in Black, die erstmals in
Ein Beispiel hierfür liefert die Soziologin
stößen vorgesehen noch Anreize – wie fi-
Israel agierten und weltweit Vorbild für
Marina Blagojevic´ für Ex-Jugoslawien. Dort
nanzielle Förderung – zur Umsetzung.
Frauenproteste gegen Krieg und Willkür
verloren die Männer in den neunziger Jahre
Außerdem gibt es keinerlei finanzielle Mittel
für unterstützende Begleitprogramme und
Meist agieren die Frauen jedoch auf der
Aktionspläne, die der frühere UN-General-
Graswurzel-Ebene vor Ort. Ihre Expertise
Auch nach bewaffneten Konflikten und in
sekretär Kofi Annan allen UN-Mitgliedslän-
und die politische Bedeutung ihrer Friedens-
der zur Auflage gemacht hat. Einzelne Län-
der Phase des Aufbaus demokratischer
oder Versöhnungsarbeit werden auf der na-
der wie England, Kanada, Schweden und die
Strukturen gibt es für viele Frauen keine
tionalen und internationalen Ebene der
Schweiz haben inzwischen wenigstens na-
Außen- und Sicherheitspolitik kaum aner-
tionale Aktionspläne. Dagegen hat die deut-
kannt. Daran haben selbst internationale Stu-
sche Bundeskanzlerin Angela Merkel im ver-
dien nichts geändert, die ihre »wichtige Rol-
gangenen Jahr auf Anfrage des deutschen
le . bei der Verhütung und Beilegung von
schäden« von Interventionsparteien wie
20.000 bis 50.000 Frauen vergewaltigt. Ge-
ihre traditionelle Rolle als Familienversorger
Frauensicherheitsrats einen solchen Plan für
Konflikten und bei der Friedenskonsolidie-
NATO und USA abgetan wurde.
schlechtsspezifische Gewalt ist somit inte-
und Haushaltsvorstand, die bereits in den
überflüssig erklärt. Begründung: es gebe be-
rung« nachweisen. So wurden die Ergebnis-
Frauen mit Kindern stellen außerdem den
graler Bestandteil von kriegerischen Ausein-
achtziger Jahren durch die ökonomischen
reits genügend andere Aktionspläne, wie den
se von Friedens- und Waffenstillstandsver-
größten Anteil der Vertriebenen und Flücht-
andersetzungen und hat einen hohen symbo-
Veränderungen angeschlagen war. Gesell-
zur Gewalt gegen Frauen und zur zivilen
handlungen, an denen Frauen entscheidend
linge, Frauen und Mädchen sind als »Kriegs-
lischen Gehalt.
schaftliche Realität und männliche Iden-
Konfliktprävention. In ihrem Bundestagsan-
beteiligt waren, schneller erzielt und erwie-
beute« Opfer sexualisierter Gewalt der je-
Auch nach bewaffneten Konflikten und in
titätsbilder klafften auseinander, die Folge
trag fordern die Grünen neben dem Akti-
sen sich als dauerhafter. Fazit: »Der systema-
weiligen Eroberer. Massenvergewaltigungen,
der Phase des Aufbaus demokratischer
war eine dramatische Männlichkeitskrise, zu-
onsplan zur Umsetzung der Resolution eine
tische Ausschluss von Frauen aus offiziellen
gewaltsame Verschleppungen und Verskla-
Strukturen gibt es für viele Frauen keine Si-
mal Frauen in ihren Rollen vielfältiger und in
nationale Monitoring-Stelle und einen Gen-
Friedensprozessen hat schädliche Effekte auf
vung werden systematisch als Mittel der
cherheit. Infolge der Brutalisierung der
ihren Positionen stärker wurden. Beim Ver-
der-Audit. Ob der Antrag nach der Beratung
die Nachhaltigkeit von Friedensabkommen.«
Kriegführung eingesetzt. Einerseits, um die
Kombattanten im Krieg erleiden sie in po-
such, gewohnte männliche Machtpositionen
in den zuständigen Bundestagsausschüssen
Feinde zu demütigen und zu demoralisieren,
tenziertem Maße häusliche Gewalt und Ver-
wieder zu besetzen, kamen daraufhin stark
im deutschen Parlament noch eine Chance
andererseits, um die Gewaltbereitschaft der
gewaltigung durch die eigenen zurückge-
nationalistische, sexistische und ethnozentri-
hat, hängt entscheidend davon ab, wie sich
Frauen und Mädchen sind als
eigenen Soldaten zu steigern, wie aus Bosni-
kehrten Männer, zumal häusliche Gewalt in
stische Diskurse auf. »Genderprozesse«, so
die SPD-Fraktion dazu verhält. Schon unter
en-Herzegowina, Kosovo oder Darfur be-
vielen Ländern noch gesellschaftlich geduldet
die Sozialwissenschaftlerin Ruth Seifert,
der früheren rot-grünen Regierung stand ein
»Kriegsbeute« Opfer sexualisierter
kannt ist. Allein im Bürgerkrieg in Ex-Jugo-
oder sogar legitimiert wird. Häusliche und
»verschränkten sich mit politischen und öko-
Aktionsplan zu Resolution 1325 auf der
Gewalt der jeweiligen Eroberer
slawien wurden in den neunziger Jahren etwa
militärische Gewalt hängen also untrennbar
nomischen Prozessen und führten zur be-
Dennoch blieben die Frauen sowohl bei
Verlag WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT
den Friedensgesprächen in Dayton 1995 zurBeendigung des Bosnienkonflikts außen vorals auch bei den aktuellen – und erst vor kurz-
em wieder gescheiterten – Verhandlungen umden Kosovo, obwohl dort Frauengruppen
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über ethnische Konfliktparteien hinweg An-
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sätze der Konfliktbeilegung entwickelten
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und praktizieren. Um keine Mythen zu re-
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produzierten: Das bedeutet nicht, dass Frau-
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en qua biologischem Geschlecht besondersfriedfertig sind. Aber durch die unterschied-
lichen Geschlechterrollen in den meisten Ge-
Kristina Isabel Schwarte
sellschaften agieren Männer und Frauen je-
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auf zivile Formen der Konfliktlösung hin.
Und sie sind die Hauptleidtragen der gewalt-
Bodo Zeuner u.a.
sam ausgetragener Konflikte der zurücklie-
Gewerkschaften und Rechtsextremismus
genden Jahrzehnte. Denn die meisten mi-
Anregungen für die Bildungdsarbeit und politische
litärischen Konflikte der heutigen Zeit ver-
Selbstverständigung der deutschen Ge
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laufen nicht zwischen verschiedenen Staaten,
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sondern zwischen unterschiedlichen Interes-
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sen- und Machtgruppen, zum Teil überStaatsgrenzen hinweg. Umgebracht werdendabei weniger Soldatinnen als vielmehr – zu
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in den letzten Jahren zynisch als »Kollateral-
Freitag 14
ternet offerieren etwa die Space Travellers
schränken müssen, mit den Privilegierten
und die Weltraumtouristik.de ihre Dienste
mitzufiebern. Charles Simonyi, der nächste
an. Auch diese Firmen kooperieren eng mit
Gast auf der ISS, lädt auf seiner Homepage
staatlichen Stellen in den USA und Russland
(www.charlesinspace.com) dazu ein, ihm
sowie mit den privaten Raumschiffbetrei-
Fragen zu seiner bevorstehenden Reise zu
Um die Jahrhundertmitte wird die Bevölkerung
bern. Im Programm enthalten sind außerdem
stellen. Fühlt er sich als Pionier einer neuen
von heute 6,7 voraussichtlich auf über neun
so genannte Edge of Space-Flights, bei denen
Zeit, in der eines Tages vielleicht sogar ande-
Milliarden Menschen steigen: Es wird eng wer-
man im Cockpit einer Mig25 auf 27.000 Me-
re Planeten besiedelt werden? »Das könnte
den auf der Erde. Ob die heutigen Weltraum-
ter Höhe steigt, wo sich bereits die Erd-
passieren. Es hängt davon ab, was Technik
programme auch dazu dienen, neue Lebensräu-
MOBILITÄT IV ■ Noch findet man den Trip im Space-Jet nicht im
krümmung erkennen lässt. Wem so etwas zu
und Politik uns ermöglichen. Ich schätze
me zu schaffen? Noch gibt es keine massen-
gewöhnlichen Reisekatalog – doch immer mehr zahlungskräftige
gefährlich ist, der kann das Ausbildungszen-
mich sehr glücklich, einen kleinen Beitrag
hafte Bewegung ins All, doch als exklusives
trum der russischen Kosmonauten besichti-
dazu leisten zu können.« Und wenn er die
Tourismusziel bietet es sich schon heute an. Mit
Kunden fragen die Weltraumreise nach. Erste Weltraumlinien und
gen und im klobigen Raumanzug durch rie-
Mittel dazu hat, warum auch nicht? Wer
Jens Müller-Bauseneiks Erkundung des Alls be-
sigen Wasserbecken »schweben«, in denen
schon mal dort oben war, wird wohl stets
-hotels sind in Planung
enden wir vorerst unsere Serie »Mobilität«.
die echten Profis ihre Missionen üben.
empfehlen, es ihm gleich zu tun, wenn man
Sicherlich, es sind erst wenige Weltraumbe-
denn kann. Als Simonyi kürzlich auf Neil
geisterte, die solche Angebote wahrnehmen.
Armstrong traf, den ersten Menschen auf
Nur etwa hundert Deutsche nehmen pro Jahr
dem Mond, fragte er den Veteranen, was der
an einem Parabelflug teil. Aber mit den Er-
ihm mit Blick auf seinen bevorstehenden
folgen der privaten Raumfahrt dürften diese
Flug raten könne. Die Antwort war kurz
heute noch sehr exklusiven Abenteuer immer
und eindeutig: »Go for it!«
attraktiver werden. Jedenfalls werden wir in
Bisher erschienen in der Serie »Mobilität«:
den nächsten Jahre mitverfolgen können, wie
52/2006: Jens Müller-Bauseneik: Der bewegte Mensch.
die Weichen für einen Tourismus neuen Typs
03/2007: Linda Tidwell: Moderne Arbeitsnomaden. Pen-
gestellt werden.
deln als Lebensform
Momentan jedoch wird man sich beim
08/2007: Anja Garms/Linda Tidwell: Autopilot. Die Zu-
Thema »Weltraumreise« noch darauf be-
kunft von Straße und Schiene
IM GESPRÄCH ■ Der Weltraum-Ingenieur Norbert Frischauf überdie Zukunft des Weltraumtourismus
FREITAG: 2006 sind Sie in Österreich nomischer Paradigmenwechsel stattgefun-
als Kommandant der Mission »Austro-
den. So ist etwa vorstellbar, dass es dann eine
mar« bekannt geworden. Worum ging
ganz andere Gesellschaft gibt, wo größten-
teils Roboter die Arbeit machen, und der
NORBERT FRISCHAUF: Das war eine
Mensch kontrolliert nur und ist ansonsten
simulierte Marsmission in der Wüste Utah in
künstlerisch oder im Dienstleistungssektor
Per »Space Ship One« und Turbojet »White Knight« ins All
den USA. Wir lebten zu sechst in einem von
tätig. Wir werden permanent vernetzt sein,
der Umwelt abgeschlossenen Habitat und
die Autos werden wir kaum wiedererkennen,
haben dort Technologien und Prozeduren
wahrscheinlich gibt es dann auch schon Fu-
Gerade mal sechs Jahre ist es her, seit wäre ein Flug zum Mond anderes als die kon- sigkeit sorgen. Dazu noch der Panoramablick getestet, wie sie in 20 bis 30 Jahren bei einer sionsenergie, kurz: langfristige Prognosen
ein gewisser Dennis Tito mit vielen
sequente Weiterentwicklung von Kreuzfahr-
über den gewölbten Globus, und schon gin-
echten Mission einmal vorkommen könnten.
zum Weltraumtourismus sind schwierig, weil
tausend Metern pro Sekunde seinem
ten und Flugreisen um den halben Globus?
ge es wieder abwärts. Ein entspannter Ur-
Dieses Verfahren nennt man Analogwissen-
die Welt vielleicht schon bald ganz anders
Eintrag im Geschichtsbuch entge-
Sollten sich die Prognosen bewahrheiten und
laub sieht anders aus. Deshalb haben Ingeni-
schaft, und das war in diesem Fall so lebens-
genraste: Im April 2001 flog der amerikani-
der Urlaub im Orbit zu einer wichtigen Spar-
eure immer wieder mal Konzepte für ein Ho-
echt, dass wir am Ende fast selber glaubten,
sche Multimillionär an Bord einer russischen
te im Spacebusiness avancieren, dann bedeu-
tel vorgelegt, das man in der Erdumlaufbahn
auf dem Mars zu sein. Bei Außeneinsätzen
Dennoch: Wie sieht Ihre persönliche Zu-
Trägerrakete als erster Weltraumtourist ins
tet das nichts weniger, als dass wir an der
stationieren könnte. Vor einigen Jahren ha-
haben wir Raumanzüge getragen. Weil wir
kunftsvision aus?
All. Und doch sorgt eine Meldung wie diese
Schwelle zu einer Ära stehen, die der
ben beispielsweise Architekturstudenten der
20 Projekte zu betreuen hatten, standen meist
Es wird weiterhin nationale Raumfahrt-
kaum noch für Schlagzeilen: Mitte April wird
Menschheit eine wahrhaft grenzenlose Mo-
Uni Darmstadt in Kooperation mit der Deut-
wir meist um sechs Uhr auf und kamen erst
agenturen geben, die Wissenschaft und For-
der gebürtige Ungar Charles Simonyi als
bilität bescheren könnte.
schen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt
nachts um zwei ins Bett. Nach ungefähr zehn
schung betreiben. Diese werden in den näch-
fünfter zahlender Gast an Bord der Interna-
Den entscheidenden Anschub erhielt diese
die unterschiedlichsten Weltraumhotels ent-
Tagen ist man da kaputt. Das Ganze ist sehr
sten Jahren zum Mond zurückkehren, von
tionalen Raumstation ISS gehen. Derzeit be-
Vision, als 1996 im Rahmen einer Privat-
worfen, die allesamt für 80 Mann Personal
realistisch und wird dementsprechend auch
da weiter zum Mars. In spätestens 30 Jahren
endet Simonyi, der sein Vermögen als Soft-
initiative in den USA der Ansari-X-Prize
und bis zu 220 Gästen ausgelegt sind. Allein
von staatlichen Raumfahrtagenturen ver-
werden wir wahrscheinlich dort sein. Parallel
wareentwickler gemacht hat, ein Trainings-
ausgelobt wurde. Zehn Millionen Dollar
die aktuellen Probleme beim Aufbau der In-
wertet. Das Gros dieser Untersuchungen
dazu kommt der Weltraumtourismus, be-
programm im russischen Raumfahrtzentrum
Preisgeld winkten demjenigen Entwickler-
ternationalen Raumstation zeigen jedoch,
wird aber in der Regel von privaten Initiati-
schäftigt sich aber zunächst mit Suborbital-
Baikonur und zählt die Tage bis zum Start. Er
team, das es als erstes schaffen würde, drei
dass derart ehrgeizige Projekte noch länger
ven betrieben.
flügen. Und wenn das funktioniert, dann
wird nicht der Letzte sein, der sich diesen
Personen mit einem ausschließlich privat fi-
Wunschtraum bleiben werden.
werden bald die nächsten Aktionen kommen.
noch äußerst exklusiven Lebenstraum erfüllt.
nanzierten Raumschiff ins All zu tragen und
Im kleinen Maßstab gibt es aber auch in die-
Was haben Sie empfunden in der Abgeschie-
Die Raumfahrtagenturen bereiten dafür den
Kürzlich hat etwa der bekannte Physiker Ste-
anschließend heil zur Erde zurückzubringen.
ser Richtung erste Praxistests. Von der Öf-
denheit, angewiesen auf einen Raumanzug,
Weg, und der Tourismus wird ihm folgen.
phen Hawking sein ernsthaftes Interesse be-
Innerhalb von zwei Wochen musste das Ex-
fentlichkeit weitgehend unbemerkt schoss
was verändert sich da beim Menschen?
Wenn erst einmal eine wissenschaftliche
kundet, den Kosmos nicht nur geistig, son-
periment erfolgreich wiederholt werden.
letztes Jahr die US-Firma Bigelow Aerospa-
Die kleinen Details, die man im normalen
Raumstation auf dem Mond steht, könnte
dern auch leibhaftig durchdringen zu wollen.
In den zwanziger Jahren hatte ein ähnlicher
ce ihre Demo-Version eines Spacehotels in
Leben hat, der kleine Luxus wird immens
man auch an ein Hotel dort denken. Das
Wettbewerb den Alleinflug Lindberghs über
den Orbit. Der Clou: »Genesis 1« entfaltete
wichtig. Also etwa die Möglichkeit, in jedem
kann sich gegenseitig befruchten und unter-
Privatinvestoren besetzen den Weltraum
den Atlantik angestoßen. An der Neuauflage
sein wahres Potenzial erst, nachdem er die
beliebigen Augenblick aufs Klo zu gehen und
stützen. Mehrere Privatfirmen werden um
nahmen 26 tollkühne Teams aus sieben Staa-
Umlaufbahn erreicht hatte; beim Start noch
sich zehn Minuten unter die Dusche zu stel-
den Markt konkurrieren und sich gegenseitig
Vergangenen Herbst war die gebürtige Irane-
ten teil und entwarfen ihre modernen »flie-
fünf mal zwei Meter groß, schwoll er im All
len. Oder jemanden anzurufen, um sich spä-
immer weiter nach vorn treiben, und irgend-
rin Anousheh Ansari für zehn Tage als erste
genden Kisten«. Am 21. Juni 2004 war es so-
auf doppelte Größe an. Möglich macht dies
ter in einem Café in der Stadt zu treffen – also
wann haben wir dann die Welt, wie sie sich
Privatfrau auf der ISS, wo sie den deutschen
weit: In der amerikanischen Mojavewüste
die neuartige elastische Außenhülle des Satel-
die Grundbedürfnisse und sozialen Kontak-
Science-Fiction-Autoren erträumt haben.
Langzeit-Astronauten Thomas Reiter traf.
startete vor Tausenden Zuschauern das erste
liten, die aus mehreren Kunststoffschichten
te fehlen einem. Andererseits kann auch die
Doch im Gegensatz zu Reiter, der von der
Privatraumschiff in den Himmel. Genauer
besteht. Sie lässt sich in der Schwerelosigkeit
ständige Nähe zu den Kollegen zu einer Be-
Können wir für die geistige Entwicklung der
ESA finanziert wird, musste Ansari für ihren
gesagt hob zunächst ein Trägerflugzeug vom
aufblasen und schützt dabei doch ausrei-
lastung werden. Es ist deshalb wichtig, dass
Menschheit Fortschritte erwarten, wenn im-
Kurzurlaub tief in die eigene Tasche greifen:
Erdboden ab. Auf dessen Rücken hockte das
chend gegen Einschläge von Mikrometeori-
die Teilnehmer psychologisch zueinander
mer mehr Menschen die Zerbrechlichkeit der
Rund 20 Millionen Dollar kostet das all-in-
eigentliche Raumschiff, das SpaceShipOne,
ten. Dass die silberne Außenhaut dicht hält,
passen. Doch bei suborbitalen Raumflügen,
Erde vom Weltraum aus sehen?
clusive-Angebot der russischen Raumfahrt,
welches mitsamt des Piloten Michael Melvill
stellten die munteren Bewohner des Mini-
die höchstens zwei Stunden dauern, ist dieser
Da bin ich mir sicher. Schon die Bilder, die
die seit dem Zusammenbruch der Sowjet-
in 14 Kilometer Höhe getragen wurde. Nach
Hotels unter Beweis: In speziellen Apart-
Punkt natürlich belanglos.
die Apollo-Astronauten vom Mond aus ge-
union in steten Finanznöten steckt und daher
dem Ausklinken zündete Melvill den Rake-
ments aus Plexiglas waren Küchenschaben
macht haben, haben sich sehr stark in das kol-
seit Ende der neunziger Jahre zahlungskräf-
tenmotor und katapultierte den Gleiter kurz-
untergebracht, die auch Tage und Wochen
Wie hoch schätzen Sie den Anteil der Deut-
lektive Gedächtnis eingebrannt: Die blaue
tigen Kunden einen Platz in den altbewähr-
zeitig auf eine Höhe von über 100 Kilome-
nach dem Start noch wohlauf waren.
schen und Österreicher, die sich einen Welt-
Erdkugel vor dem Hintergrund des endlosen
ten Sojus-Kapseln offeriert. Für schwerrei-
tern – nach internationaler Definition war da-
Bis solche aufblasbaren Wohneinheiten
raumflug vorstellen könnten?
schwarzen Weltalls. Die Verletzlichkeit des
che Weltraumenthusiasten bietet die staatli-
mit die Grenze zum Weltall erreicht. Nach
auch von Menschen bezogen werden kön-
Zunächst richten sich die Angebote ja nur
Globus ist uns seither viel bewusster gewor-
che Raumfahrtagentur Roskosmos einen Ge-
dem suborbitalen Hopser kehrte SpaceShip-
nen, wird es noch einige Zeit dauern. Aber
an sehr wohlhabende Leute, die gleichzeitig
den. Früher hat man das nicht so wahrge-
sundheits-Check auf Flugtauglichkeit, eine
One wohlbehalten zur Erde zurück; die Ge-
wäre es nicht sowieso viel interessanter, statt
auch abenteuerlustig sein sollten. Da rechne
nommen, weil es noch niemand gesehen hat-
Ausbildung im russischen »Sternenstädt-
neralprobe war nicht ohne Komplikationen,
der Erde unseren kosmischen Nachbarn, den
ich in Deutschland vielleicht mit 100, in
chen« Baikonur, den knapp zweiwöchigen
im Ganzen aber erfolgreich verlaufen. Bald
Mond zu überfliegen? Auch dieses Ziel wird
Österreich mit zehn Kunden.
Aufenthalt auf der ISS und natürlich den
darauf folgten die beiden »richtigen« Flüge
bereits angepeilt: Die US-Firma Space Ad-
Sehen Sie die Gefahr, dass die Reichen eines
Hin- und Rückflug. Glaubt man den glück-
innerhalb von 14 Tagen – und das Siegerteam
ventures arbeitet eng mit der russischen
Ist das die Klientel für SpaceShipTwo?
Tages von der Erde flüchten könnten, wenn es
lich Heimgekehrten, dann lohnt das Aben-
um Konstrukteur Burt Rutan konnte das
Raumfahrtbehörde zusammen und will spä-
Am Anfang schon. Richard Branson hat be-
hier zu ungemütlich wird?
teuer jeden Cent. Nur – ohne das nötige
ausgelobte Preisgeld einstreichen.
testens Ende dieses Jahrzehnts ein Erlebnis
hauptet, bei Ticketpreisen von 200.000
Erstens hoffe ich, dass die Menschheit nicht
Kleingeld geht eben gar nichts. Oder?
der absoluten Spitzenklasse anbieten. Dann
Dollar angeblich schon 7.000 Interessenten
so dumm ist, die Erde zu vernichten, Stich-
Tatsächlich sind in den letzten Jahren meh-
Der TUI-Trip der Zukunft
sollen Spitzenverdiener mit den bewährten
auf der Warteliste zu haben, die willens sind,
wort: globaler Klimawandel. Dass wir des-
rere Projekte ins Reifestadium gelangt, die
Sojus-Raketen binnen 5 1/2 Tagen den Mond
das zu bezahlen. Also warum sollte er so
wegen auswandern müssen, glaube ich nicht
nichts weniger anstreben, als den Weltraum-
Seitdem geht es Schlag auf Schlag: Der Aben-
umrunden können – freilich zu einem astro-
dumm sein und die Preise senken? Das Glei-
unbedingt. Aber wir werden über kurz oder
tourismus langfristig auch für Normalverdie-
teurer Richard Branson gründete als Ableger
nomisch hohen Preis: 100 Millionen Dollar
che gilt für Rocketplane XL, den zweiten
lang sicher zum Vergnügen ins Weltall flie-
ner erschwinglich zu machen. Die bahnbre-
seines Virgin-Imperiums die Firma Virgin
pro Sitzplatz. Die Ambitionen der Firma sind
ernstzunehmenden Anbieter. Doch Konkur-
gen. Studien prognostizieren einen Markt
chende Innovation liegt vor allem darin, dass
Galactic, die sich auf ihrer Homepage als
durchaus ernst zu nehmen, schließlich war sie
renz belebt das Geschäft. Eine US-Studie
von 13.000 Passagieren im Jahr 2020, erwar-
hinter dem Konzept nicht länger staatliche
»first spaceline« anpreist, als erste Fluglinie
es, die alle bisherigen Privatleute auf die ISS
geht davon aus, dass 2010 der Preis zwar im-
tet wird ein Umsatz von 676 Millionen
Behörden stehen, sondern erstmals private
für Weltraumreisen. Schon nächstes Jahr will
vermittelt hat.
mer noch bei 200.000 Dollar liegt, danach
Dollar – wenn nur körperlich geeignete Per-
Unternehmer. Nach 50 Jahren Raumfahrt
Virgin Galactic mit Rutans Nachfolgemodell,
aber graduell runtergeht, so dass er 2016
sonen bis 65 Jahre fliegen. Aber dabei wird es
und mit der heute verfügbaren Technik
dem SpaceShipTwo, den regulären Betrieb
Abenteuer de Luxe
schon bei 100.000 wäre. Bis zum Jahr 2020
nicht bleiben: Richard Branson hat schon an-
scheint es nun die echte Chance zu geben,
aufnehmen. Sechs Passagiere können damit
dürfte er auf circa 50.000 Dollar fallen.
gekündigt, seinen 91-jährigen Vater mitneh-
eine bislang viel belächelte Idee zu einem ech-
in den Erdorbit starten. Und das Ganze soll
Das weltweit erste und bislang führende Rei-
men zu wollen.
ten Wirtschaftsfaktor auszubauen.
genauso unkompliziert zu buchen sein wie
seunternehmen des neuen Tourismuszweiges
Das ist immer noch viel Geld.
Davon bleibt auch die zähe Debatte um
ein TUI-Trip auf die Seychellen; als letzte
bietet aber auch space-feeling für Einsteiger,
Ja, aber bedenken Sie: Wenn man heute auf
Würden Sie selbst gern ins All starten?
Nutzen und Kosten der bemannten Raum-
Hürde wäre lediglich ein dreitägiges Astro-
zum Beispiel durch Parabelflüge. Dabei steigt
den Mount Everest rauf will, zahlt man
Da ich begeisterter Kunstflieger bin, würde
fahrt nicht unberührt. Das bisherige
nautentraining zu durchlaufen. Nach Anga-
ein geräumiges Flugzeug auf große Höhe und
65.000 Dollar und mehr. Und trotzdem ma-
ich am liebsten als (Co-)Pilot mitfliegen – lei-
Hauptargument der Kritiker: Automatische
ben der Firma haben schon 7.000 Interessen-
schießt sodann im Sturzflug zu Boden, wobei
chen das über 100 Leute im Jahr.
der fehlt mir momentan noch das nötige
Roboter und Sonden können den Weltraum
ten erklärt, Tickets für je rund 200.000 Dollar
sich die Passagiere im gepolsterten Innen-
billiger, effektiver und gefahrloser erfor-
ordern zu wollen – das ist immerhin nur ein
raum für eine halbe Minute im freien Fall be-
Schauen wir weiter nach vorn: Wird ein Flug
Das Gespräch führte
schen; der Mensch hat dort oben nichts zu
Hundertstel der aktuellen ISS-Preise.
finden und schwerelos herumtrudeln. Inter-
ins All im Jahr 2050 so selbstverständlich sein
suchen. Wenn der nun aber − jenseits der ur-
Allerdings, ein solcher suborbitaler Flug
esse? Mit ein paar tausend Euro sind Sie da-
wie heute ein Linienflug?
sprünglichen Forschungsmotive − das All als
würde nur auf dem Scheitelpunkt der Auf-
bei, und mittlerweile kann man solche Events
Das ist schwer zu sagen. Denn vielleicht hat
Norbert Frischauf ist Berater der ESA und Geschäftsfüh-rer der Firma Qasar in Wien, die ein Patent auf einen neuar-
ultimatives Reiseziel für sich entdeckt? Was
stiegskurve für ein paar Minuten Schwerelo-
auch über deutsche Anbieter buchen. Im In-
bis dahin auf der Erde schon ein sozio-öko-
tigen Plasma-Antrieb für Satelliten besitzt.
Freitag 14
Regina Bartel
Wäscheaufhängen im Garten ist eine
meiner ersten Taten, gleich nachdem Zähneputzen und Teewasser-kochen. Denn: die Sonne scheint.
Ich habe bereits am Vorabend eine volleTrommel mit heller Buntwäsche in meinerWaschmaschine mit dem Doppel-A – eins für
Der grünste Tag in meinem Leben
Wasserverbrauch, eins für Energieeffizienz –gewaschen. Alles nur, damit ich jetzt als ersteswahrheitsgemäß diesen Satz schreiben kann:
Ökologie ist wieder ein großes Thema, und im Kleinen fängt das Energiesparen an. Versuch einer ganz persönlichen Energiebilanz
Ich habe Wäsche aufgehängt – im Garten.
Heute ist der Tag, an dem ich darüber nach-
April. Sechs Monate im Jahr, zweimal pro
denken und schreiben will, was ich tue: Lebe
Monat Äpfelholen, ergibt pro Jahr 4608
ich ökologisch und klimaschonend? Deshalb
Gramm CO2. Und der Ausstoß wird nicht
kommt es auf den Garten an. Wäsche klima-
weniger, wenn ich zusätzlich jedes Mal zehn
neutral trocknen, das geht nur draußen wirk-
Eier von überaus glücklichen Hühnern mit-
Automatische Trockner in Küche oder Kel-
ler brauchen viel Strom, eine langweiligeFeststellung, aber die Wahrheit. Wo diedurchschnittliche Waschmaschine zwei Ki-
Für Flugreisende gibt es Möglichkeiten,
Buße zu tun, ihre Flugreise in CO2 um-rechnen zu lassen und den ermittelten
lowattstunden verschleudert, benötigt der
Gegenwert in Geld für klimafreundli-
Trockner anschließend noch einmal das Dop-
che Projekte zu spenden. Da sich bisher kein
pelte: »4,4 Kilowattstunden ist der Wert für
Ablasshandel für sündiges Apfelessen eta-
ein schlechtes Gerät, das aber am meisten ver-
bliert hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als
breitet ist«, weiß Mona Finder von der Deut-
bald möglichst aufzuforsten und einige CO2-
schen Energie-Agentur (Dena). Ich habe gar
hungrige Apfelbäumchen zu pflanzen. Im-
keinen Trockner, da fühle ich mich gleich bes-
merhin fahre ich innerhalb Hannovers aus-
ser. Nur kann man Wäsche im Garten, wofür
schließlich Fahrrad, bei 2500 Kilometern
ich mich gerade selber lobe, allein bei sonni-
Nicht-Auto-Nutzung macht das im Jahr eine
gem Wetter trocknen lassen.
Kraftstoffersparnis von 200 Litern oder 4,8
Für Menschen ohne Trockenboden und
Kilogramm CO2.
Wäschekeller bleibt das klapprige Wäsche-
Zurück aus der Apfelpause ist der Schreib-
ständergestell mitten im Zimmer, auf dem
tisch dran. Ausschaltbare Steckerleisten we-
die Jeans Tage brauchen, bis sie trocken
gen des Standby-Verbrauchs der Peripherie-
sind. Und diese Trocknung ist keinesfalls
geräte Drucker, Router & Co. habe ich. Ich
kostenlos. Draußen wird die Feuchtigkeit
habe auch gelernt, das Handyladegerät aus
vom Winde verweht. Drinnen schlägt sie
der Dose zu ziehen, weil es Strom ver-
sich auf Tapeten und Fenstern, hinter
braucht, selbst wenn es da nur so herum-
Schränken und in schlecht belüfteten Ecken
hängt. Das Handyladegerät ist gieriger als der
nieder, und es bedarf eines Aufwands an
Eingangsentstörfilter der Waschmaschine.
Heizenergie, sie da wieder weg zu bekom-
des Filters ebenfalls nicht erfassen, »da dreht
trocknet. Der Garten mit der Wäsche ist eine
Nur tausche ich wie fast alle anderen Ver-
men. Wie viel Energie dabei genau ver-
sich die Scheibe gar nicht«, sagt Bahr und
ökologisch bettelarme Grünfläche hinter ei-
braucher alte Stromfresser erst aus, wenn sie
braucht wird, lässt sich nicht genau berech-
Solche Dummheiten über ihren Strom-
verbrauch möchten Menschen erfah-ren, die Heinz Knobloch anrufen. Der
rechnet aus, dass ein solcher Filter bei einer
nem Mietshaus in Hannover. Meine Lieb-
kaputt gehen. 110 Watt braucht der alte Mo-
nen: »Egal, wie hoch die Schleuderleistung
Energieberater von Enercity, den
Wirkleistung von 0,07 Watt im Jahr allenfalls
lingsäpfel wachsen dagegen auf einer vom
nitor in der Stunde, der neue nur noch 37.
der Waschmaschine ist, der Feuchtigkeits-
Stadtwerken Hannover, hat einen realisti-
für 10 Cent Strom verbrauchen kann. Der
Urgroßvater angelegten Streuobstwiese in
Aber die guten, umweltfreundlichen, neuen
gehalt der Wäsche hängt immer auch davon
schen Blick darauf, warum Menschen sich an
Stecker bleibt drin, ich komme nämlich nicht
der Nähe von Bremen. Um genau zu sein: es
Geräte wollen erst mal produziert und alles,
ab, um welche Materialien es sich handelt«,
das Kundencenter wenden: »Die meisten ru-
an ihn heran, ohne jedes Mal die Küche um-
liegen 100 Kilometer zwischen mir und den
was man wegwirft, muss entsorgt, recycled,
erklärt Mona Finder.
fen an, weil sie gerade ihre Turnusabrechnung
zuräumen. Immerhin erhalte ich von Rolf
Äpfeln. Und die muss ich mit dem Auto fah-
deponiert werden.
Jedenfalls gilt: Heizenergie ist der größte
erhalten haben, mehr bezahlen müssen und
Bahr ein Lob für konsequentes Ausschalten
ren, weil die Äpfel ja transportiert werden
Eine Frage kann ich heute nicht mehr
Posten im privaten Energieverbrauch. Und
wissen wollen, woran das liegen kann.« Es
der Maschine. Wer nämlich die kleinen, roten
wollen und weil die sonstige Überprodukti-
klären. Wie viel Strom eines meiner wichtig-
wer nicht ordentlich heizt und lüftet, bei
geht also ans Geld und deshalb auf die Suche
Lämpchen ständig leuchten lässt, verbraucht
on aus dem mütterlichen Gemüsegarten und
sten Arbeitsgeräte benötigt: das Telefon.
dem schimmelt's, und folglich muss, wer
nach den Übeltätern unter den Geräten oder
bis zu fünf Watt, und das läppert sich im Jahr
der alten Obstwiese einer gewissen Stau-
Dies, so die Pressestelle des Unternehmens,
Wäsche indoor trocknet, mehr heizen und
den schlechten Angewohnheiten ihrer Besit-
dann schon auf ein paar Euro auf der Strom-
raumkapazität beim kundigen Abnehmer be-
bei dem ich Kunde bin, könne man nicht
mehr lüften. Weiß ich. Unser Wohnungsver-
zer. Die neigen nämlich zur Vergesslichkeit:
darf. Wäre ja schade drum.
spontan beantworten. Stunden später erfah-
walter hat mir und meinen Nachbarn im ver-
»Im alltäglichen Ablauf achtet man nicht dar-
Um nun dem Beispiel der Göttinger Kli-
re ich, es sei nicht so leicht herauszufinden,
gangenen Jahr eine Anleitung geschickt, wie
auf: Welche Geräte benutze ich, wie lange be-
mabanane zu folgen, rufe ich bei Toyota an
man wisse nicht, ob man es überhaupt wisse,
sich das so verhält mit dem Schimmel. Vier
nutze ich sie.« Knobloch rät den Kunden,
und schildere mein Problem: 12 Jahre altes
es könne ein paar Tage dauern.
Seiten lang ohne Grammatik und Recht-
Auflistungen anzulegen, den Zählerstand
Zeit für eine Zwischenmahlzeit. Ein
Naturkostgroßhändler in Göttingenvertreibt klimaneutrale Bananen. Her-
Auto, Spritverbrauch circa 8 Liter auf 100 Ki-
Gut, dann hole ich jetzt die Wäsche rein. ■
schreibung, dafür mit hoch erhobenem Zei-
eine Weile täglich zu notieren und sich so das
mann Heldberg hat durchrechnen las-
lometer, wie viel CO2 mag da herauskom-
eigene Nutzungsverhalten zu verdeutlichen.
sen, was Bananen in Produktion und Handel
men? »Das kann man mathematisch aus dem
Weil mich das Wäscheaufhängen zu lange
Der Klassiker sind dabei die Standby-Ver-
an CO2 auswerfen. Ȇber 5.000 Tonnen pro
Spritverbrauch ermitteln«, erklärt mir Kar-
aufgehalten hat, ist das Teewasser kalt ge-
bräuche einiger Geräte: Bis zu 10 Watt
Jahr«, erklärte er unlängst im Deutschland-
sten Rehmann aus der Presseabteilung und
worden. Wasserkochen ist das Leck an der
schnurren da ständig durch einen Fernseher,
funk, »allein für den Import der Bananen aus
rechnet für mich nach. Bei 8 Litern Super-
Außenwand des Schiffs, das meine persönli-
der 20 Stunden am Tag nur herumsteht. Dann
der Dominikanischen Republik.« Das kann
Benzin auf 100 Kilometern pustet mein Auto
che Energiebilanz ist. Die Dena gibt an, dass
gibt es Geräte mit einem versteckten Standby,
man umrechnen – zum einen auf das einzel-
192 Gramm CO2 in die Luft. Hätte der Wa-
ein Wasserkocher die sparsamste Methode
das können noch mal zwei bis drei Watt bei
ne Kilo Bananen, zum anderen in einen be-
gen einen Dieselmotor, dann wären es 11
des Wasserkochens bietet: Etwa 0,12 Kilo-
einer Waschmaschine sein.
stimmten Geldbetrag. Schließlich sind CO2-
Prozent mehr. Was besser ist? »Ein Benzin-
wattstunden braucht ein Liter, um aus der
Moment! Meine Maschine mit dem zweifa-
Emissionen in anderen Branchen ein handel-
motor, der wenig verbraucht, ist klimamäßig
Leitung auf 100 Grad Celsius zu kommen.
chen A saugt mir heimlich Strom ab, wenn
bares Gut und haben einen Wert zwischen
günstiger«, sagt Rehmann, doch eigentlich
Nun bin ich aber nicht in der Lage, exakt ei-
ich nicht den Stecker ziehe? Bei Candy Hoo-
fünf und zehn Euro pro Tonne. Deshalb
könnte er noch wenn und aber sagen, weil
nen Liter abzuschätzen. Damit die Kanne
ver, der Firma, die sie hergestellt hat, erfahre
schlägt Heldberg nun pro Kilo Bananen ein
ökologisch streng betrachtet noch weitere
Alles außer Krieg ist schwer zu
voll wird, koche ich tendenziell zu viel. Der
ich, dass es sich bei diesem Effekt um eine so
halben bis einen Cent auf, der in Aufforstung
Faktoren berücksichtigt werden müssten –
machen – Zum Nahen Osten
Rest bleibt im Gerät und wird in der nächsten
genannte Scheinleistung handelt, die ein Ein-
und andere klimaausgleichende Maßnahmen
andere Abgaswerte zum Beispiel, die Her-
Runde wieder mitgekocht und wieder mitge-
gangsentstörfilter verursacht. Den gibt es, da-
in den Herstellerländern investiert wird.
stellung und die Nutzungsdauer des Wagens
Aggression und Regression
kocht und wieder mitgekocht. Wenn es etwa
mit die Maschine nicht stört, nicht mich, son-
Mir gefällt die Idee, nur esse ich nicht be-
und so weiter.
eine Tasse voll zu viel ist, kommt bei drei
dern meine anderen Elektrogeräte, und das
sonders gerne Bananen. Ich mag Äpfel. Nicht
Aber um nun endlich in den Apfel beißen
Kannen Tee am Tag fast ein halber Liter Was-
nicht beim Herumstehen, sondern beim Ein-
den Einheitsapfel aus dem Supermarkt, son-
zu können: bis ich die Äpfel mitnehme, ha-
Die islamistische Scheinalternative
ser zusammen, den ich sinnlos mitkoche.
schalten. Rolf Bahr, Techniker bei Candy
dern heimischen Anbau, alte Sorten, eigene
ben sie praktisch keinen Schaden am Klima
Peter Klein:
Aufs Jahr gerechnet 182,5 Liter Wasser, mehr
Hoover, gibt mir einen telefonischen Crash-
Ernte. Damit ließe sich jetzt herumprahlen,
angerichtet, ganz im Gegenteil, der Baum hat
Existenz und Terror
als eine Badewanne voll, 22 Kilowattstunden
kurs in Physik. Häufig scheitert die Energie-
weil es ja so ökologisch toll und ernährungs-
CO2 verbraucht, um den Apfel überhaupt
verplempert. Immerhin fast 2 Prozent des
erfassung schon am Messgerät: »Messen ist
physiologisch lobenswert ist, Obst der Sai-
reifen zu lassen. Ich puste auf Hin- und
Jahresenergieverbrauchs eines durchschnitt-
auch so eine Sache.« Bei Energiemessgeräten
son aus lokalen Anbaugebiete zu bevorzu-
Rückfahrt insgesamt 384 Gramm CO
Wegsehen oder Solidarität mit Israel?
lichen Ein-Personen-Haushalts (1200 Kilo-
gäbe es solche und solche und ohne Angabe
gen. Nur hat die Sache einen Haken: Die
Luft und esse anschließend fünf Kilo Äpfel.
wattstunden – ohne Wasser, Heizungspumpe
des Phasenwinkels sei das alles nichts. Heu-
Bäume mit den Super-Äpfeln stehen nicht in
Äpfel gibt es – gut und energiesparend gela-
Fratze statt Mythos
und Elektroherd).
tige Stromzähler könnten die Scheinleistung
dem Garten, in dem gerade meine Wäsche
gert in einem alten Stall – von Oktober bis
Markus Mohr:
Die dummen Einfälle des
Reinhard P. Gruber:
Die Arbeit als Landplage (1989)
AUF DEM SPIELPLAN: MORD
Vom Markt der Religionen zum
Kaum ein Trainer hat es bisher geschafft, kurz nach
zwischen 20 und 21 Uhr lokaler Zeit beim Zimmer-
und nun Leiter der Anti-Korruptionsabteilung des
Markt als Religion
dem unvorhergesehenen Ausscheiden seines Teams bei
service Essen bestellt, in diesem Zeitraum verschickte
Cricket-Weltverbandes, sagte: »In manchen Ländern
einer WM ein Interview zu geben, das nicht von Schock
er außerdem von seinem Laptop aus einige E-Mails.
ist es mittlerweile viel lukrativer, Spiele zu manipulie-
Grillen statt Heuschrecken
und Ratlosigkeit geprägt wäre. Der britische Coach der
Eine Nachricht ging an den Chef des pakistanischen
ren als mit Drogen zu handeln.« Apathie und Angst
pakistanischen Cricket-Nationalmannschaft, Bob
Cricket-Verbandes, Dr. Nasim Ashraf, und gab späte-
mache es den Tätern leicht, kaum jemand wage, An-
Woolmer, machte am 17. März, einem Samstag, in sei-
ren Spekulationen um einen möglichen Wettbetrug
zeige zu erstatten.
Dissidente Praktiken
nem Gespräch mit der BBC nach dem Aus bei der WM
durch Mannschaftsmitglieder Nahrung. Woolmer be-
Gerüchten, Woolmer habe in dem Buch, an dem er
in Jamaika keine Ausnahme. Tief enttäuscht versuchte
klagte darin, dass einige Spieler anscheinend nicht gut
schrieb, Einzelheiten über Wettbetrügerein enthüllen
Erscheint 3 x jährlich
er eine erste Analyse, während er allen Fragen nach sei-
genug ausgebildet seien, denn sie machten trotz ein-
wollen, trat die Familie allerdings entgegen. In keinem
ner persönlichen Zukunft auswich mit der Bemerkung,
deutiger Instruktionen dieselben dummen, Spiel ent-
der bisher fertig gestellten Kapitel sei es um Unregel-
er müsse erst einmal eine Nacht darüber schlafen.
scheidenden Fehler wieder und wieder. In einer E-
mäßigkeiten gegangen und auch in seinen Notizen
Niemand konnte ahnen, dass dieses belanglose In-
Mail, die er später an seine Frau schickte, fanden sich
habe man nichts zu diesem Thema finden können.
terview das letzte sein würde, dass der Trainer in sei-
allerdings keinerlei Hinweise, dass der in Indien gebo-
Auch wenn der gesamten pakistanischen Equipe Fin-
nem Leben geben würde. Bob Woolmer wurde am
rene Sohn eines Cricket-Profis irgendwelche zwielich-
gerabdrücke abgenommen wurden, glaubt die Polizei
Vormittag des nächsten Tages bewusstlos im Bad sei-
tigen Machenschaften vermutete.
nicht, dass Spieler und Funktionäre in den Mord ver-
nes Zimmers im Hotel Pegasus von Kingston gefunden
Als der Coach am nächsten Morgen um 10.45 Uhr
wickelt sind. Die Täter dürften sich als Angehörige des
und gegen Mittag in der benachbarten Universitätskli-
vom Hotelpersonal gefunden wurde, wies nichts auf
Hotelpersonals verkleidet haben, ist sich Mark Shields
nik für tot erklärt. Was zunächst aussah wie ein stress-
einen Mordfall hin. Wie die Polizei später erklärte,
sicher. Möglicherweise habe der Mord auch absolut
bedingter Herzinfarkt, erwies sich bei der Obduktion
muss er seinem Mörder oder seinen Mördern selbst die
nichts mit Cricket zu tun, denn Jamaika gehört zu den
als Mordfall: Der 59-Jährige war erwürgt worden.
Tür geöffnet haben, denn es gab keinerlei Spuren ge-
Ländern mit der weltweit höchsten Anzahl an Tö-
Von wem und warum ist allerdings vollkommen un-
waltsamen Eindringens oder gar eines heftigen Kamp-
tungsdelikten – und im Pegasus geschahen in den letz-
klar. Die jamaikanische Kripo versucht gerade, die
fes. Der leitende Kriminalkommissar Mark Shields
ten anderthalb Jahren immerhin drei Morde. Allerdings
letzten Stunden im Leben des Coaches zu rekonstru-
sagte, dass man überdies von mehreren Tätern ausge-
sei es, so Shields, »extrem unwahrscheinlich«, dass Ein-
Schwerpunkt: Die Macht der Acht – G8 und
ieren und den Mord-Zeitraum so eng wie möglich ein-
he: »Woolmer war ein sehr großer, kräftiger Mann, den
heimische das während der WM besonders stark gesi-
zugrenzen, um dann mit Hilfe der elektronischen Zim-
man nicht einfach überrumpeln konnte.«
cherte Hotel betreten und unbehelligt durch die Flure
Außerdem: Feministisches Venezuela, iranische
merschlüssel und der Überwachungskameras Bewe-
Wettbetrug und verschobene Spiele sind beim
spazieren konnten. Und schließlich von Coach Wool-
gungsmuster der anderen Hotelgäste und etwaiger
Cricket keine Seltenheit, wie der Brite Lord Condon,
mer einfach so in sein Zimmer gelassen wurden wären.
brecherischer Lettow-Vorbeck u.v.m.
Fremder zu erstellen. Woolmer hatte am Samstagabend
ehemaliger Chef der Londoner Metropolitan Police
Elke Wittich
52 S., 5,30 Euro + Porto, iz3w, PF 5328, 79020 Frei-burg, Tel. 0761-74003, [email protected], www.iz3w.org
Freitag 14
Tschechischer Abend
PRAGER FRÜHLINGVon Karsten Laske
Weithin leuchtet der Fernsehturm in den Far-ben der tschechischen Flagge, blau, weiß undrot. In den Waldstein-Gärten blühen schondie Bäume und am Grunde der Moldau wan-dern, wie seit tausend Jahren, die Steine.
Oben, über die Karlsbrücke hin, schiebenund drängen sich Touristentruppen in endlo-ser, dichter Formation. Eine Prozession, anden dunklen Stein-Heiligen vorbei. Was su-chen die Leute alle hier? Karel Gott?
Es ist Frühling in Prag und eine Invasion
scheint über die Stadt hereingebrochen. Ge-nervte Guides beiderlei Geschlechts tragenfarbige Fähnlein in erhobenen Händen odereinen Schirm voran durch die Gassen. Ame-rikaner, Japaner, Italiener, Ungarn folgen. DieIdee des Tourismus wird zur materiellen Ge-walt, wenn sie die Massen ergreift. Wir wer-den umspült und mitgerissen.
Vor einem Souvenir-Shop steht eine beleib-
te Amerikanerin wie ein Fels in der Bran-dung. Einen Burger mampfend betrachtet siedie glitzernde Billigware des Geschäfts,schüttelt den Kopf und ruft kauend: »EuroTrash!« Sie wird überrannt. Es gilt für denStädtebesucher wie für den Autofahrer: Dustehst nicht im Stau, du bist der Stau!
Fotohandys blitzen und eine Vier-Mann-
Band spielt Swing. Man kann in einemschicken, alten, orangenen Sˇkoda-Cabrioeine Stadtrundfahrt unternehmen oder sichbeim Biertrinken dem Vergehen der Zeitüberlassen. Vielleicht, denken wir, ließe sichbetrunken am besten genießen, was die Stadtund das Leben einem aufbürden: die uner-trägliche Leichtigkeit des Seins.
Prag geht auf den Strich. Aber wer, wie wir,
den Hauptbahnhof glücklich hinter sich ließ,
den kann nichts mehr schockieren.
Ein Flyer wird uns im Gedränge gereicht.
Ausnahmsweise wirbt er mal nicht für das
Dann kamen die Antifa-Touristen. Tod
gend kann endlich legitim den Fremden aufs
nächstgelegene »Cabaret«, welches sich stets
dem deutschen Vaterland, Dolgenbrodt wird
Maul hauen. Das ist doch mal was anderes als
als Striplokal erweist, sondern für ein »Mu-
abgebrannt. Ganze Reisebusse. »Reiselust
immer nur neue Windräder aufstellen überall.
seum des Kommunismus«. Die Ausstellung
Von Sandra Niermeyer
Von Maik Kubusch
mit Willi Brust«, Klimaanlage, Waschraum,
Problem ist nur, man kann sich da nicht so
verspricht Erbauung und Grusel in drei hi-
sogar mit Würstchen an Bord. Wenn ich mit
offiziell bewerben für. Man muss es ihm ir-
storischen Etappen: the Dream, the Reality,
In alter Zeit, als das Wünschen noch geholfen
Wenn ich mit meinem Auto von weit her
meiner Karre unterwegs bin, ich hab keine
gendwie unterjubeln, dem Ami. Ihm das Ge-
the Nightmare. Das Museum ist täglich
hat, wünschte sich niemand etwas, denn es
komm und die ersten Kiefernwälder an der
Klimaanlage. Wie gesagt, so'n Hals! Aber hab
fühl geben, er ist da ganz schlau von selber
geöffnet von neun bis neun und scheint, wie
ging sofort in Erfüllung. Man musste jede Se-
Autobahn seh, dann weiß ich, es geht nach
ich was gesagt? Nichts. Man schweigt und
drauf gekommen. Naja. Haben wir jetzt an
alles hier, vor allem für jene Asiaten und
kunde auf seine Gedanken achten, sie mate-
Hause. Zurück in meinen preußischen Sand-
lernt sein Teil.
den Steinmeier geschrieben. Der fädelt das
Amerikaner gemacht zu sein, die schnell
rialisierten sich sofort.
kasten. Bin ein Heimatmensch. Märkische
Deshalb kann ich Ihnen von der neuen Sa-
fachmännisch für uns ein. Hat ja einen guten
noch old europe sehen wollen, bevor es end-
Gerade hatte jemand noch gedacht: Ich bin
Heide, märkischer Sand, das liebe ich. Und
che hier auch nur andeutungsweise erzählen.
Draht zu den Foltertypen. Und wenn dann
gültig untergeht. »Zwei Mal begrüßten wir
heute so kaputt von der Arbeit, schon lag er
die Flüsse, die wir hier haben. Die Dahme
Wir haben's ja nicht so dicke. Segeln,
die Turbane hier ihre Zeit absitzen, grünt und
sowjetische Panzer«, heißt es in dem Falt-
ramponiert auf dem Gehweg. Oder jemand
zum Beispiel. Ein Neben- oder Zufluss der
Schießen, Spargel, Schluss. Das soll jetzt an-
blüht und gedeiht unsere Gegend. Herrlich!
blatt, das uns gereicht wurde, »jedes Mal mit
wünschte sich, sein Gegenüber möge endlich
Spree, so genau weiß ich das gar nicht. Seh ihn
ders werden. Funktioniert aber nur, wenn es
Für Geld – wie heißt es so schön – kann man
Tränen in den Augen.« Ein Foto zeigt einen
aufhören, ihm die Ohren voll zu labern,
ja nie von oben, den Fluss, sondern immer
geheim bleibt. Deshalb auch kein Ortsname.
sich eben alles leisten. Ein reines Gewissen
T 34, der mit seinem Geschütz im Balkon ei-
schon fielen ihm die Ohren ab.
nur aus der Nähe. Am Busen der Natur häng
Dolgenbrodt, falls Sie das vermuten, ist es
zum Beispiel. Oder vielleicht, später mal, so-
nes Wohnhauses steckt: »Die Panzer waren
Zum größten Problem wurden die vielen
ich, sag ich. Am Arsch der Welt, sagen ande-
nicht. Die haben genug gelitten. Nein, es ist,
gar ein eigenes Boot.
die gleichen. Unsere Tränen verschiedene.«
Toten. Sie lagen überall herum. Auf Straßen,
re. Die haben einfach den Blick nicht für un-
sagen wir – Degenow. Oder Güllen. Aber sa-
Nun denn. Wir wühlen uns durch die be-
in Autos, in Parks, in Wohnungen, besonders
sere Schönheiten.
gen wir lieber Degenow, denn so heißen die
geisterten Massen und folgen dem angegebe-
auch in Kindergärten. Es waren so viele, dass
Denn schön ist sie, unsere alte Dahme. Er-
Orte alle hier. Immer auf -ow. Weshalb man-
nen Weg, »above McDonalds, next to Casi-
niemand sie mehr wegschaffen konnte. Und
weitert sich hier und da zu bezaubernden
che auch glauben, sie sind schon in Russland
no«. Aber die Passage zum Kommunismus
niemand konnte zur Verantwortung gezogen
Seen, auf denen an Sommerwochenenden al-
bei uns. Tschechow, Molotow, Kalaschni-
GANZ ALTES TESTAMENT ist mit Sperrholz vernagelt, dahinter wird re-
werden, denn jeder konnte jedem den Tod
les verkehrt und kreuzt, was Planken und Se-
kow. Spricht man aber nicht, unser -ow.
noviert. Der alte Menschheitstraum nimmt
gewünscht haben. Die Gerichte schlossen,
gel hat. An unseren Autos steht LDS. Das
Denkt man nur. Es heißt nicht »Pankoff«,
Von Dirk Werner
eine Auszeit. Oder sind wir es, die den Weg
die Rechtsanwälte gingen in Konkurs.
heißt Landkreis Dahme-Spree. Schon daran
wie der alte Adenauer sagte, das verrät den
Keiner sah den anderen mehr an, aus Angst,
können Sie sehen, wie wichtig uns diese bei-
Das Rentenalter wird schrittweise auf sie-
Am Kiosk kaufen wir eine Süddeutsche.
durch seinen Blick einen bösen Gedanken im
den Flüsse sind. Sonst wär ja hier nur Sand.
Degenow also. Und geheim. Und auch nur
benhundertsechzig Jahre angehoben – besagt
»Westliche Zeitungen werden in Prag frei
Gegenüber auszulösen. Besonders das Auto-
Ich selbst bin viel mit dem Auto unterwegs.
eine vage Hoffnung. Ein simpler Plan.
eine Meldung aus dem Jahre 2025, die uns
verkauft – während Prager Zeitungen in
fahren wurde gefährlich, es löste so viele ag-
Boot hab ich keins, kann ich mir nicht leisten.
Wir haben ja, wie gesagt, noch die ollen
dieser Tage zuging. Während das Durch-
Moskau schwarz gehandelt werden«, erzähl-
gressive Wünsche aus.
Ich bin Fahrer. Fahre alles, was reinkommt.
Schweinställe. Die rotten so vor sich hin.
schnittsalter bei Männer und Frauen seit der
te man sich im Frühjahr ‘68 aufgeregt in der
Manche halfen sich, indem sie einfach
Touristen oder Bioäpfel, ganz egal.
Und die Amerikaner haben ihr Problem mit
Anhebung des Renteneintrittsalters 2012 auf
DDR. Im Kaffeehaus sitzend lese ich über
schneller dachten als die anderen. Sie
Im Frühsommer '90, als die Westberliner
den Terroristen. Wenn sie die eingefangen ha-
67 und insbesondere im Jahre 2014 auf 78
den militärischen Schutzschild, den die USA
wünschten jedem, der ihnen begegnete, den
gerade begannen, unsere Seen zu entdecken,
ben, die müssen befragt und bestraft und in
Jahre bei 78,1 Jahren stagniert, würden mit
in Polen und Tschechien errichten und gegen
Tod, so konnte ihnen niemand mehr zuvor-
da hab ich zum Beispiel Geld gefahren. Un-
Schach gehalten werden. Warum nicht eins
dieser Gesetzesvorlage letzte Versorgungs-
Russland richten wollen. Warum Russland
kommen. Leichen säumten ihren Weg. Diese
ser Ostgeld. Wusste gar nicht, dass von dem
und eins zusammenbringen? Knast und Ka-
lücken geschlossen, heißt es darin.
jetzt plötzlich wieder der Feind ist? Der Kell-
Schnelldenker wurden natürlich bald be-
Zeug so viel existierte. Die Lkws sind fast zu-
serne hat jede Gegend gerne. Und was soll
In einer Videogrußbotschaft des Bundes-
ner bringt ein Omelett, das er »Ommälätt«
kannt und man versuchte, ihnen auszuwei-
sammengebrochen unter der Last. In Scheu-
sich der Pole oder der Rumäne, unzuverläs-
abseitsministers Müntefering aus dem Jahr
chen. Festnehmen und einsperren konnte
nen und Ställe haben wir's gekippt, denn in
sig, wie er ist, was soll sich der eine goldene
2007 an die Bundestagsabgeordneten des Jah-
Wir logieren im Hotel Europa am Wenzels-
man sie nicht, jeder Polizist wäre sofort tot
die Stahltresore der Banken, da ging nichts
Nase verdienen. Das können wir auch.
res 2025 hebt der Minister hervor, dass nach
platz. Im Café dieses Hauses saß einst Kafka
umgefallen. Die ganz Ängstlichen blieben zu
mehr rein, die waren randvoll. Lag schon das
Ich stell mir das herrlich vor, wie ich da im-
diesem Beschluss insbesondere der »Arbeit-
und schrieb. Durch die Flure und das Trep-
Hause und verloren alle sozialen Kontakte.
neue drin, die D-Mark.
mer früh mit meinem alten Kombi in das
nehmervereinigung Biblisches Alter« (ABA)
penhaus rannte Tom Cruise auf Mission Im-
Es schien, je böser man dachte, desto ge-
Natürlich durft's keiner wissen, Sicher-
streng geheime Camp fahre und die frischen
zahlreiche neue Mitglieder beitreten würden,
possible. Das alte Europa gehört zum Unes-
schützter war man. Auch gutherzige Men-
heitskonzept. Das simpelste. Wenn keiner ei-
Brötchen bringe. Unser Fleisch, unser Brot,
da »von nun an mit einer Rentenzahlung
co-Kulturerbe. Die Angestellten sind lie-
schen bemühten sich nun um den einen oder
nen Schimmer hat – und wer käme auf so ne
unser Bier, alles von hier. Und die Dorfju-
praktisch erst im Jenseits zu rechnen ist«.
benswert und zum Teil so antik wie das Haus.
anderen bösen Gedanken, um gewappnet zu
Schnapsidee, in alte verwitterte LPG-Ställe
Dessen Jugendstil-Prunk krankt an Alters-
sein. Es kamen Selbsthilfebücher heraus mit
Hunderttausende Ostmark abzuladen? –
schwäche. Die Türen der Schränke im Zim-
Titeln wie Die Kunst des schlechten Denkens
dann ist die Kohle da drin so sicher wie in
mer öffnen sich knarrend wie von Geister-
oder Böse Wünsche in Minuten. Seminare mit
Fort Knox. Sie stinken eben nur hinterher.
hand, die Fenster schließen schlecht, und auf
Inhalten wie »Seien Sie böser als die anderen«
Die Scheine. Nach Schweinepisse. Aber das
der Plastikbrille des Klos klemmt man sich
fanden regen Zulauf. Manche Kirche bemüh-
Zeug wurde ja eh verbrannt. Und es darf sich
te sich noch, den Trend umzukehren. Wenn
natürlich niemand verquatschen. Hat auch
Wir stehen in unserem Zimmer und sehen
jeder gut dächte, predigten sie, hätte niemand
hinunter auf den berühmten Platz, der ja eher
mehr etwas zu befürchten. Aber keiner trau-
Erst viel später. Und da haben sich dann
eine breite, lange Straße ist, sehen das stumme
te sich, damit anzufangen, zu viele lagen tot
plötzlich alle aufgeregt. Was hätte passieren
Reiterstandbild des Heiligen Wenzel und agi-
auf der Straße. Überhaupt schien es mühe-
können! Das viele Geld, wenn das einfach so
le Drogendealer bei ihren Geschäften, von
voller, einen guten Gedanken zu fassen, wäh-
rumliegt. Oder mich gefragt, warum hast du
keiner Polizei behelligt. Auf dem gleichen
rend die bösen von ganz alleine kamen.
uns nicht mal früher was, Mensch, was wir
Pflaster standen im August '68 jene tränen-
Irgendwann, von einem Tag auf den andern,
hätten für Dinger. Nee, nee. Ich kann
reich begrüßten Panzer, davor die Kameras
hörte das Unheil plötzlich auf. Eine neue Zeit
von ARD und BBC. Ein älterer Mann hinkte
brach an, die wir alle kennen. In der das Wün-
Ein paar Jahre drauf war hier die Hölle los.
heran und hielt (es wurde oft gezeigt in diver-
schen und Hoffen und Bangen nichts mehr
Vorbei war's mit der märkischen Stille, für die
sen Dokumentationen) anklagend eine tsche-
hilft. Was für ein Glück!
wir berühmt sind. Da sind wir andersrum
chische Fahne hoch, zerschossen und blutig.
berühmt geworden. Und auch nur, weil einer
Die Kampfmoral der jungen Rotarmisten
gequatscht hatte.
soll schwer darunter gelitten haben, dass die
Sie erinnern sich vielleicht noch an den
Prager sie – die doch meinten, ihren Klassen-
Ortsnamen. Dolgenbrodt. Im November '92
brüdern zu Hilfe geeilt zu sein – als Faschi-
wurde hier ein leeres Kindercamp, das man
sten beschimpften. Ungläubig guckten die
Sandra Niermeyer lebt und schreibt in Bielefeld. Zuletzt er-
zu einem Asylbewerberheim umgebaut hat-
Moskauer und Minsker Jungs aus ihren Pan-
schien im Freitag 07/2007 ihr Text Tarnkappe.
te, abgefackelt. Im ganzen Dorf sei für die
zerluken. Sie verstanden die Welt nicht mehr.
Maik Kubusch, geboren 1970 in Magdeburg, lebt heute in
Brandstifter gesammelt worden. Hieß es.
Wir nun stehen am Fenster unseres ehr-
Bayern. Zuletzt erschien im Freitag 26/2006 sein Text Ge-
Riesenbohau. Lichterketten quer durchs
würdigen Hotels und sehen, ebenfalls Un-
ganze Land. Na, von der Presse haben wir
gläubige – ja, was? Worauf blicken wir da?
seither die Schnauze voll. Wenn ich irgendwo
Auf das Ergebnis einer Verwandlung? Oder
Dirk Werner, 1961 in Gera geboren, leitet Fotoprojekte undlebt als Filmvorführer und Autor in Esslingen/Neckar.
ne Kamera seh, drehn mir die Räder durch.
Source: http://www.pinomasciari.it/wp-content/uploads/2011/06/07.04.10-freitag_pag9.pdf
QuikChange® Site-Directed Mutagenesis Kit INSTRUCTION MANUAL Catalog #200518 (30 reactions) and #200519 (10 reactions) For In Vitro Use Only 200518-12 LIMITED PRODUCT WARRANTY This warranty limits our liability to replacement of this product. No other warranties of any kind, express or implied, including without limitation, implied warranties of merchantability or fitness for a particular purpose, are provided by Stratagene. Stratagene shall have no liability for any direct, indirect, consequential, or incidental damages arising out of the use, the results of use, or the inability to use this product.
Chemistry and Applications of Nanocrystalline Cellulose and its Derivatives: a B. L. Peng,1,2 N. Dhar,1 H. L. Liu2 and K. C. Tam1* 1. Department of Chemical Engineering, Waterloo Institute for Nanotechnology, University of Waterloo, 200 University Avenue West, Waterloo, ON, Canada N2L 3G1 2. State Key Laboratory of Chemical Engineering and Department of Chemistry, East China University of Science and