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„DAS UNSICHTBARE WIEDER
SICHTBAR MACHEN!"
Im Rahmen des einzigartigen Projekts „Topothek" kann die Bevölkerung daran teilhaben, die regionale wie private Geschichte Österreichs nicht nur online für alle verfügbar zu machen, sondern auch für die Nachwelt festzuhalten.
Text: Sabine Edith Braun
Laut ist es im Himberger Gemeindearchiv. aus dem Bildungs- und Heimatwerk, der selbst
Die anwesenden Herren – allesamt älte-
als Topothekar aktiv ist. „Ich bin dann zum Bür-
ren Jahrgangs – machen aus den zwei mit
germeister gegangen, und der war auch dafür."
Aktenschränken, Tischen, Kopierer und
Bei Herbert Kraus aus Wolkersdorf war es um-
Stapeln von Archivmaterial vollgestellten Räu-
gekehrt: Die Bürgermeisterin kam zu ihm. Das
men einen Bienenstock. Selbst der heute 96-jäh-
war im Herbst vor zwei Jahren. Kraus sagte sofort
rige Gründungsvater des Archivs meldet sich per
zu, das Projekt Topothek zu übernehmen – im
Telefon. Doch alle versichern: Heute ist ein rich-
Glauben: „Das ist eine Winterarbeit." Sehr schnell
tig ruhiger Tag. An anderen Dienstagvormitta-
kam er drauf: „Das ist ein Ganzjahresjob!" Es ist
gen sei hier wesentlich mehr los.
jedoch nicht so, dass Kraus ohne Topothek fad
Seit das Himberger Archiv – das wahrschein-
wäre: Er macht regelmäßig Dienst im Sozialmarkt
lich als einziges Archiv seiner Art über eine „Par-
SOMA und beteiligt sich an den ehrenamtlichen
tensammlung" mit knapp 3000 Parten verfügt Taxifahrten, die die Gemeinde älteren Personen
– zur Topothek „upgegradet" wurde, kann man
ohne Auto anbietet. Daneben ist er ausgebildeter
dort alte Fotos, Eintrittskarten oder Ähnliches
Kellergassenführer und hält jeden Mittwoch die
zum Scannen vorbeibringen. Ist ein Bild auf den
Stellung im Wolkersdorfer „Gmoakeller".
Server hochgeladen, können alle, die interessiert
Im Unterschied zu Kowatschek und Kraus, die
sind oder etwas darüber wissen, Schlagworte beide in Pension sind, steht Rebecca Figl-Gattin-eintragen oder Hinweise zum Entstehungshin-
ger mitten im Berufsleben. Die Topothekarin
tergrund oder den Personen auf den Fotos geben. von Kapelln – die 1350-Einwohner-Gemeinde bil-
det den geografischen Mittelpunkt Niederöster-
VOM FEUERWEHRARCHIV
reichs – ist selbstständig. Dass sie als Topothe-
karin nicht unbedingt dem Durchschnitt ent-spricht, ist ihr klar: „Der ist schon etwas älter,
Franz Kowatschek, Leiter des Gemeindearchivs
und außerdem männlich!" Figl-Gattinger kennt
wie der Topothek, ist zwar schon 77 Jahre alt, das von ihrer Tätigkeit im Bildungs- und Hei-doch mit dem PC ist der ehemalige Eisenbahner
matwerk. Ein Vortrag des Topothek-„Erfinders"
auf Du und Du. „Ich habe das immer schon ge-
Alexander Schatek ebendort machte sie vor drei
macht. Ich bin seit Jahrzehnten Archivar der Jahren mit dem Projekt bekannt. Als Gemeinde-
Freiwilligen Feuerwehr." Den Hinweis, dass es
rätin für Bildungsangelegenheiten war es nicht
die Topothek gibt, bekam er von einem Kollegen
schwer, die Topothek bei den Kollegen im Ge-
UM AGAZIN
84 LOKALHISTORISCHES GEDÄCHTNIS
Rebecca Figl-Gattinger hat die Topothek in Kapelln aufgebaut, Herbert Kraus jene in Wolkersdorf. Sie freuen sich über tatkräftige Mithilfe aus
Das Himberger
der Bevölkerung bei der Bewahrung des lokalhistorischen Wissens.
Eines der ersten Bilder, die auf der Website der Himberger Topo-
meinderat durchzubringen. Außerdem hat sie
AUS DEM LANGZEITGEDÄCHTNIS
thek gelandet sind, ist das Foto vom sogenannten Staatsvertrags-
zengefühl gefragt. Herbert Kraus erhielt ein
das Sammeln im Blut: „Ich bin die Tochter eines
DER BÜRGER SCHÖPFEN
modell. Der Vater eines der Himberger Archivare hat das Modell
Foto eines Hauses, das mit einem Hakenkreuz
leidenschaftlichen Ansichtskartensammlers!"
geschmückt war. Kraus fragte bei den jetzigen
angefertigt; er war als „Aufseher" an jenem Tag in der Hofburg
Von ihm erhält sie Tipps und Hinweise.
Der zweite Schritt war ein Besuch im Gemein-
Bewohnern nach, ob er das Bild in der Topothek
dabei. Dort wurde viel Champagner getrunken. „Mein Vater woll-
dearchiv, und erst dann wandte er sich an Pri-
veröffentlichen dürfe. Diese sagten, dass es ih-
SUCHE NACH HISTORISCHEN SCHÄTZEN
vatpersonen. Sein guter Draht zu den älteren
te die leeren Flaschen mitnehmen – als Andenken", sagt Walter
nen lieber wäre, wenn er es nicht täte – und so
Bürgern war Kraus von großer Hilfe. „Ich gehe
Schantl, doch es wurde ihm verwehrt: Die Regierung brauchte die
entschied er sich gegen das Hochladen.
Zweimal im Monat halten Figl-Gattinger und ihr
bewusst auf Seniorenveranstaltungen", sagt er,
Flaschen für die Abrechnung mit dem Lieferanten. Schantl senior
Auch Rebecca Figl-Gattinger stellte ein Foto
Team einen Jour Fixe auf der Gemeinde ab. Die „da ist mein Zielpublikum!" Oder er veranstaltet
nicht auf die Homepage der Kapellner Topothek.
nahm dafür die rund 50 Korken mit nach Hause – und schnitzte
Überbringer der Fotos setzen sich überwiegend
solche Events gleich selbst – und lädt namens der
Das Bild, das sie durch Zufall erhalten hatte,
aus zwei Personenkreisen zusammen: Bürger Gemeinde ins Schloss. „Ich zeige auf der Lein-
mit der Rasierklinge aus jedem Korken einen der dort anwesenden
zeigt den Durchzug Adolf Hitlers durch Öster-
über der Lebensmitte und solche, die immer wand Fotos – und hoffe, dass jemand Hinweise
Politiker. Mit den Korkenmännchen stellte er anschließend das
reich: Ein Menschenauflauf hat sich in Kapelln,
schon in der Gemeinde aktiv waren, etwa als In-
geben kann." Einmal projizierte er ein Klassen-
berühmte Gemälde von Robert Fuchs nach. Heute befindet sich
das an der Bundesstraße B1 liegt, versammelt.
haber eines Betriebes. Eines ist klar: „Man muss
foto an die Leinwand, nur wenige Namen waren
Genau in dem Moment, als der Fotograf auf den
das Staatsvertragsmodell im Julius-Raab-Gedenkverein in Wien.
die Bürger direkt ansprechen – vor allem, seit bekannt. „Da stand eine 90-jährige Dame auf,
Auslöser drücken will, stürzt eine Frau zu Boden
die erste große Euphorie vorbei ist", so Figl-Gat-
hat der Reihe nach auf die Kinder gezeigt und
Das auf die Topothek hochgeladene Foto kann zeit- und ortsunab-
– direkt vor das Führerauto. Sie wird von einem
tinger. Berichte in der Gemeindezeitung reichen
alle Namen heruntergerattert."
hängig von allen eingesehen werden.
Kapellner buchstäblich im letzten Augenblick
nicht. Für die Lokalpolitikerin kein Problem:
gerettet. Auf dem Foto ist nicht nur das histori-
„Ich bin oft beim Nahversorger und spreche dort
MANCHMAL SIEGT DIE EITELKEIT
sche Ereignis des Durchzugs festgehalten, son-
die Leute an, werde aber auch angesprochen."
dern auch der Tumult rund um die Rettungsak-
Der Aufbau der Wolkersdorfer Topothek ge-
Gewöhnlich erfolgt die Beschlagwortung der Bil-
tion. „Das Foto ist wahnsinnig spannend, es ist
schah in drei Schritten. Zuerst suchte Herbert
der in Abstimmung mit den Überbringern. Aber
ein Zeitdokument, aber es hat auch etwas Be-
Kraus einen Ansichtskartensammler auf. Dieser
nicht alles Bekannte wird auch öffentlich ge-
rührendes. Ich habe mich mit meinen Kollegen
Tipp von einem Historiker erwies sich als Glücks-
macht. Einmal bekam Herbert Kraus ein älteres,
beraten und dann aber entschieden, es nicht zu
fall: Mit der Eröffnung der Eisenbahnstrecke zeitlich eindeutig datierbares Foto. Die Über-
verwenden", sagt Figl-Gattinger. „Zu viele Men-
nach Brünn im Jahr 1870 war der Ort im Wein-
bringerin selbst war darauf abgebildet, doch sie
schen sind darauf eindeutig zu erkennen."
viertel zu einem Sommerfrische-Ziel für begü-
wollte in der Beschlagwortung nicht genannt
terte Wiener geworden. Durch den Fremdenver-
werden: „Dann wissen ja alle, wie alt ich bin!"
DER FALL FRANZ HASLINGER
kehr gab es daher jede Menge Ansichtskarten
Es landet auch nicht jedes Foto, das gebracht
von Wolkersdorf. „So war ich mit einem Schlag
wird, in der Topothek. Vor allem bei Fotos aus
Manchmal tritt genau das Gegenteil ein: Jemand
um einige hundert Fotos reicher", sagt Kraus.
der Zeit des Nationalsozialismus ist Fingerspit-
bringt ein Foto vorbei und niemand weiß, wer
6–7 2016 UNIVERSUMMAGAZIN
86 LOKALHISTORISCHES GEDÄCHTNIS
LEXIKON
TOPOTHEK
Die Topothek ist eine Platt-
form, auf der unter Mitar-
beit der Bevölkerung lokal-
historisches Material und
Wissen, das sich in privaten
Händen befindet, erschlossen
und online sichtbar gemacht
werden kann. Das Projekt ist
eine Ini tiative des Internati-
onalen Zentrums für Ar-
chivforschung ICARUS. Jede
Gemeinde kann teilnehmen und eine Topothek betrei-
ben. 70 sind es mittlerweile,
davon 50 allein in Niederös-
Franz Kowatschek, Leiter der Himberger Topothek, ist Archivar mit
terreich, wo die Topothek im
Leib und Seele. „Ich habe das immer schon gemacht. Ich bin seit
Jahrzehnten Archivar der Freiwilligen Feuerwehr."
Frühjahr sogar zum Landes-projekt erhoben wurde: Das Land Niederösterreich för-
die abgebildeten Menschen sind. Die Tätigkeit dern die der Objekte: „Es gibt hunderte Fotos von
dert die Topothek über einen
des Topothekars ähnelt dann der eines Privat-
der Vorderseite von Schloss Wolkersdorf, aber
Zeitraum von zwei Jahren,
detektivs. Rebecca Figl-Gattingers spannendster
kaum welche von der Rückseite!" Und was war
das Niederösterreichische
Dieses Portal enthält Matri-
Dieses Online-Portal ermög-
In dem Verein Icarus (Inter-
„Fall" ist Franz Haslinger. Das Foto von dem jun-
sein aufregendster „Fall"? – „Das war das E-Mail
gen Soldaten in der Uniform des Ersten Welt-
aus dem südlichsten Argentinien", sagt Kraus.
Landesarchiv fungiert als
kelbücher der einzelnen Reli-
licht den zeit- und raumun-
national Center for archival
kriegs brachte ihr ein Mann aus dem Bezirk, der
Eine Frau, deren Großeltern einst nach Brasilien
wissenschaftlich-logistischer gionsgemeinschaften aus Ös-
abhängigen Zugriff auf mehr research) arbeiten mehr als
es mit einem Nachlass erworben hatte. Alles, was
ausgewandert waren, war im Internet auf die
terreich. Diese Aufzeichnun-
als 590.000 mittelalterliche
170 Archive und wissen-
er wusste, war der Name des Soldaten.
Topothek gestoßen. Sie übersandte Kraus die
Es gibt aber auch Topothe-
gen gehören zu den am
und frühneuzeitliche Ur-
schaftliche Institute aus 34
„Ein Name allein ist als Beschlagwortung sehr „Sittenzeugnisse" der Großeltern, die diese zur
ken in Oberösterreich sowie
meisten benützten und er-
kunden aus mehr als 60 In-
europäischen Ländern, Ka-
wenig, aber ich habe das Foto genommen – in Emigration benötigt hatten, sowie Fotos der Ur-der Hoffnung, mehr Informationen zu bekom-
großeltern, die in Wolkersdorf begraben sind.
in Wien – und auch in Bay-
forschten historischen Quel-
stitutionen (u. a. Diözesan-
nada und den USA zusam-
men, wenn es erst einmal online ist", sagt Figl-
Wie und warum die Großeltern allerdings von
ern, Kroatien und Tschechi-
len überhaupt. Derzeit sind
archive und Klöster) in zehn
men. Gemeinsam werden
Gattinger. „Jedes Bild ist ein Stück Geschichte
Brasilien nach Argentinien gelangten, ist unbe-
en. Ihr Ziel ist stets dasselbe:
Matrikeln aus Niederöster-
europäischen Ländern.
Methoden zur Digitalisie-
und hat es verdient, erfasst zu werden." Der In-
privates Kulturgut online
reich, Oberösterreich, Wien,
Schwerpunkt sind histori-
rung von Archivbeständen
stinkt der Topothekarin war richtig: Nicht lange
Rund 1700 Fotos hat Herbert Kraus seit 2014
danach meldete sich ein Traismauerer, dessen erschlossen und dabei sogar einen Kontinent
verfügbar zu machen. „Ge-
Kärnten und Vorarlberg er-
sche Dokumente Europas,
erarbeitet und Online-Porta-
Großmutter einst in der Nähe gewohnt hatte, übersprungen. Sein Anliegen ist es, „das Un-
schichte für alle ist kein Mär-
fasst – in Summe mehr als
die die politische, wirtschaft-
le wie die Topothek, Matri-
und lieferte Geburts- und Hochzeitsdatum von
sichtbare wieder sichtbar zu machen".
chen mehr. Im analogen Zeit-
drei Millionen Einträge von
liche und kulturelle Entwick-
cula oder Monasterium be-
Haslinger. Die Infos hatte er in Matricula, der
Auf die Topothek von Himberg sind schon fast
alter war sie keine Selbstver-
Taufen, Hochzeiten und To-
lung seit dem Mittelalter do-
Plattform digitalisierter Matrikenbücher, gefun-
3000 Bilder hochgeladen, darunter auch ein Welt-
ständlichkeit, sie war den
desfällen. Die digitalisierten
den. Es stellte sich nicht nur heraus, dass Has-
meister: Fritz Haller (1908–1961), Weltmeister
linger, geboren am 8. August 1894, mit 33 Jahren
von 1937 im Halbschwergewicht. Und während
Professionisten vorbehalten.
Bestände werden laufend er-
geheiratet hatte, sondern ein zweites Mal im Al-
die zahlreichen Fotoordner in den Kästen im Him-
Es war richtig, auf die neuen
weitert. Im Vorjahr gab es
ter von 53 Jahren.
berger Gemeindearchiv noch Arbeit für etliche
Technologien zu setzen. Wir
rund 750.000 Zugriffe auf
weitere Generationen von Topothekaren bereit-
vermitteln den Menschen
„ DAS SPANNENDSTE SIND
halten, ist sich Rebecca Figl-Gattinger bewusst,
DIE HINTERSEITEN!"
dass die Kapellner Fotoschätze irgendwann er-
einen wichtigen Teil ihrer
schöpft sein werden. „Sicher nicht in fünf Jah-
Identität", sagt ICARUS-
Was ist das Spannendste an der Topothek? Für
ren, und auch nicht in zehn – aber vielleicht in
Präsident Thomas Aigner.
Herbert Kraus ist das ganz klar: „Das sind die
zwanzig. Aber dann könnte man die Topothek
Rückseiten!" Und zwar nicht die der Fotos, son-
laufend mit aktuellen Fotos bestücken."
6–7 2016 UNIVERSUMMAGAZIN
UNIVERSUMMAGAZIN 6–7 2016
Source: http://documents.icar-us.eu/documents/2016/07/das-unsichtbare-wieder-sichtbar-machen-universum-magazin-06072016.pdf
Einstufungstest (B2): 1. Leseverstehen Lesen Sie zuerst die 10 Überschriften. Lesen Sie dann die fünf Texte und entscheiden Sie, welcher Text (1–5) am besten zu welcher Überschrift (a–j) passt. Tragen Sie Ihre Lösungen in den Antwortbogen bei den Aufgaben 1–5 ein. Neue Richtlinie für Zertifizierung von Medikamenten für Kinder
International Journal of Research in Pharmacology & Pharmacotherapeutics ISSN Print: 2278 – 2648 IJRPP Vol 3 Issue 1 Jan - Mar -2014 ISSN Online: 2278- 2656 Journal Home page: www.ijrpp.com Research article Open Access A prospective study of the pattern of drug use in primary dysmenorrhea in a tertiary care hospital